Calw und Hesse machen es möglich

Volker Braun und Walter Kappacher, Helga Schütz und Judith Kuckart – in einem Band

„Die schönste Stadt ist Calw an der Nagold“. Dreissig Texte der Calwer Hermann-Hesse-Stipendiaten. Mit einem Vorwort von Andreas Narr. Herausgegeben von Friedrich Pfäfflin. In diesen Wochen erschienen bei Klöpfer und Meyer, Tübingen.

Hermann Hesse musste seine Heimatstadt erst verlassen, um sie danach ein ganzes Dichterleben lang romantisch verklären und ihr mit schönen Worten nachtrauern zu können.

„Zwischen Bremen und Neapel, zwischen Wien und Singapore habe ich manche hübsche Stadt gesehen, Städte am Meer und Städte hoch auf Bergen, und aus manchem Brunnen habe ich als Pilger einen Trunk getan, aus dem mir später das süße Gift des Heimwehs wurde. Die schönste Stadt von allen aber, die ich kenne, ist Calw an der Nagold, ein kleines, altes, schwäbisches Schwarzwaldstädtchen.“ So schreibt Hesse 1918 in „Heimat“.

In der Realität war Calw, das als Gerbersau in Hesses Werk vielfach beschrieben wurde, am Ende des 19. und noch weit in das 20. Jahrhundert hinein, ein winkliges Städtchen mit wenigen tausend Einwohnern, eingeklemmt zwischen steile Waldhügel, hinter denen früh die Sonne sinkt. In den engen Gassen, zwischen schiefen Häusern, lebten Menschen mit sehr begrenzten Vorstellungs-, aber energischen schwäbischen Schaffenskräften, ganz im Geiste eines Kunst und Sinnlichkeit verleugnenden Pietismus. So taten sich nicht nur die liebevollen, aber überforderten Eltern schwer mit dem heftig pupertierenden, früh zu dichterischer Laufbahn entschlossenen Hermann. Ganz Calw war empört, als der Sohn eines Missionars mit 16 Jahren, nach schwieriger Schullaufbahn, mehrere Monate mit scheinbar nichts als Lesen und durch die Gegend spazieren verbrachte – also rumhing, wie man heute sagen würde. Für die im produktiven Tagwerk stehenden Menschen lediglich nutzloser Müßiggang und nach damaliger Wert- und Glaubensskala nahe an der Sünde. Noch mehr entrüsteteten sich große Teile des kleinen Gemeinwesens, als der Knabe es wagte, die in der örtlichen Bücherei nicht vorhandenen Werke des „undeutschen“ Heinrich Heine von außerhalb zu erwerben und zu verschlingen.

Hermann Hesse (1905). Portrait von Ernst Würtenberger (1868-1934)

Hermann Hesse musste also Calw und Elternhaus den Rücken kehren, um den ihm gemäßen Weg einschlagen zu können. Er musste das „schwäbische Schwarzwaldstädtchen“ hinter sich lassen, um später von der „schönsten Stadt von allen“ schreiben und schwärmen zu können. Die Stadt Calw hat Hesse erst spät, in den jüngsten Jahrzehnten, für sich entdeckt. Heute wird er umso eifriger zur Image-Aufbesserung einer etwas biederen Kommune und als touristischer Magnet benutzt.

Seit 15 Jahren lädt die Calwer Hermann-Hesse-Stiftung jedes Jahr zwei bis drei zeitgenössische Autoren ein, mit einem Stipendium und freier Unterkunft ausgestattet, drei Monate in der Hesse-Stadt zu verbringen. Erbeten wird dafür ein „Calwer Manuskript“, ein Tagebuch, ein Bericht, eine Skizze, Prosa oder Lyrik, die während des Aufenthalts entstehen sollten. Erstmals versammelt nun ein umfangreicher Band solche – dem schwarzwälder Reizklima entsprungenen – Arbeiten von 30 Schriftstellern und Schriftstellerinnen, die dieser Einladung gefolgt sind.

Das Buch eignet sich sicher nicht als durch- und leichtgängiger Lese-Stoff, zu unterschiedlich sind in Form und Inhalt, in Gestaltung und Ausdruck, die hier versammelten Texte. Doch hat man die reizvolle Möglichkeit von vielleicht schon bekannten Namen Unbekanntes, eventuell sogar Überraschendes zu lesen oder auch die eine oder andere Neu-Entdeckung zu machen und sich zu weiterer Beschäftigung mit einem Schriftsteller verführen zu lassen.

Dazu einige Andeutungen, wie breit das Spektrum des vorliegenden Materials ist.

Im ersten Beitrag empfindet Volker Braun Calw als Bühnenkulisse und spricht das problematische Verhältnis Hesses zu seinem Herkunftsort an. Klaus Günzel schlägt in einer längeren Abhandlung einen, bei Hesse naheliegenden, Bogen zur Romantik, sucht aber auch auf intensiv sensorische Weise die Verbindung zu den Dichtergrößen des württembergischen Kernlandes: „Zunächst aus rein literarischem Interesse bestellte ich einen Schwarzriesling aus Hölderlins Geburtsort Lauffen, sodann einen Schillerwein aus Marbach am Necker, endlich, um auch der schwäbischen Romantik zu huldigen, einen erfrischenden Kerner aus Weinsberg…“ Dass diese süffigen Schoppen, den literarischen Geist nicht nur anregen, konnte der Autor bald feststellen: „In der ‚Ratsstube‘ am Marktplatz saß ich einsam und löffelte meine Flädlesuppe, die … dem Getränke-Ansturm keine standhafte Grundlage bot.“

Gewohnt detailgenau und einfühlsam schildert Walter Kappacher seine „Tage in Calw“, einer der literarischen Höhepunkte der Anthologie. Dabei holt er weit aus: „Ich tauchte wieder ein in das Tübingen um 1820 und wünschte der Vierte im Bunde, dabeizusein, wenn Waiblinger und Mörike den verstörten Hölderlin in seinem Erkerzimmer abholen, wäre gerne mit ihnen zu dem Gartenhäuschen in den Weinbergen spaziert.“ Auch hier also die Remineszenz an die an Höhepunkten reiche württembergische Literaturgeschichte. Sehr schnell holt den österreichischen Hermann-Lenz- und Georg-Büchner-Preisträger jedoch die nur schwach kulturdurchwehte Atmosphäre des Provinzstädtchens ein: „Haben die Calwer je zur Kenntnis genommen, daß da in ihrer Stadt einer von auswärts sitzt und schreibt?“ Und über seine Rolle notiert er ernüchtert: „Man wünsche, der Stadtschreiber nehme teil am kulturellen Leben der Stadt, hieß es in der Einladung. Bisher habe ich nicht viel bemerkt von einem kulturellen Leben.“

Die in Frankreich geborene Josiane Alfonsi lebt und arbeitet in Tübingen. Sie schreibt Lyrik in deutscher und französischer Sprache. Ihr „Präludium für Herrmann Hesse“ und weitere Gedichte, als Ergebnis der Calwer Eindrücke, sind deshalb in beiden Sprachen abgedruckt. Ebenfalls lyrisch geht Hans-Michael Speier die Aufgabe an. Er dichtet hintersinnig: „so sauber alles / seidendüfte am marktplatz / stämme schwanken lapidar / am geldleuchtenden ufer“.

Auch die bekannte Germanistin und Goethe-Spezialistin Sigrid Damm hat den Weg nach Calw gefunden. Ihr längerer Werkstattbericht „Ein heißer Sommer“ gibt einen interessanten Einblick in die Gedanken- und Schaffenswelt der beliebten Autorin.

Es sind noch der ostdeutsche Philosoph und Schriftsteller Jens Sparschuh, der Südtiroler Joseph Zoderer, die Autorinnen Ursula Krechel und Angela Krauß, sowie die Eine und der Andere mehr vertreten. Facettenreich und spannend ist diese Veröffentlichung. Mit einer Hinführung von Andreas Narr und einem kundigen Nachwort von Friedrich Pfäfflin, der auch als Herausgeber zeichnet. Die Autoren und ihre Werke werden in einem Anhang recht ausführlich vorgestellt. Uns liegt damit eine Anthologie vor, die aus einem Anlass entstand, der zusammenführte, was sonst so nie zusammengekommen wäre. Eine Lektüre, die man gerne mehr als einmal in die Hand nimmt.

2 Gedanken zu „Calw und Hesse machen es möglich

  1. Zum Verständnis des Verhältnisses Hesses zu seiner Heimatstadt ist zu ergänzen:
    „Er wußte wohl…daß man seine Karikaturen für die Missetaten des Vogels ansah, der sein eigenes Nest beschmutzt…daß seine unerbittliche und liebevolle Kenntnis des hiesigen Lebens gerade das war, was ihn von seinen Mitbürgern unterschied.“ (Hermann Hesse: In einer kleinen Stadt, 1907).
    „So sehr er seine Heimat geliebt hat, so sehr hat er sich an ihr auch wundgerieben, als ihm mit zunehmendem Alter eine Anpassung an Traditionen abverlangt wurde, die seinen Anlagen wiedersprachen.“ (Volker Michels, Hesse-Herausgeber, 1983).
    „Bei Hesse findet man beides: Kopfschütteln, Verärgerung, Zorn über mancherlei, was ihm aus Calw entgegenschlug und daneben ein Festhalten an all dem, was ihm die Vaterstadt lieb und teuer machte.“ (Siegfried Greiner, 2002)

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  2. Pingback: Blognotice 11.08.2012: La Raumschaft Schramberg & Gerbersau | paysages

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