Deutschland – Argentinien und zurück

„Landungen“ von Michael Ebmeyer

Mit seinem neuesten Buch gelingt Michael Ebmeyer eine breit angelegte Familiensaga, verbunden mit der Darstellung kulturgeschichtlicher Aspekte der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte und ein origineller Argentinien-Roman. Ist es Zufall oder kluge verlegerische Planung, dass dieses Werk in einem Herbst auf den Markt kommt, in dem Argentinien auf der Frankfurter Messe als Gastland begrüßt wird? Eine nicht geringe Aufmerksamkeit scheint damit schon einmal sicher. Und die möchte man der sehr gelungenen, vielschichtigen und dennoch leicht lesbaren Neuerscheinung gerne wünschen.

Die Geschichte beginnt 1869 in Bremerhaven, als die hübsche, ledige Friederike Soltau mit einem Auswandererschiff nach Argentinien aufbricht. Sie soll ihre Brüder unterstützen, die in der Pampa Land erworben haben und hier, mit gesundheitlichen Erwartungen und Hoffnungen verbunden, einen Neuanfang wagen. Leben und Überleben gelingen den Geschwistern nur ansatzweise. Die wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingen sind hart.

Frederike ist eine sehr sensible junge Frau die etwas seltsam auf ihre Mitmenschen wirkt. Aus heutiger Sicht würden wir sie wahrscheinlich als psychisch krank einstufen. Doch sie findet als einzige der drei Geschwister in der neuen Welt eine positive Perspektive, ist anpassungsbereit, nimmt ihr Leben schließlich selbst in die Hand und entzieht sich zunehmend der Familie.

Hundert Jahre später wagt der Nachkomme Udo Soltau in Deutschland nach einer gescheiterten Ehe einen Neuanfang mit der viel jüngeren Sigrid und will – um Scheidung und berufliche Selbständigkeit zu finanzieren – den alten Familienbesitz in Übersee verkaufen.

Den eigentlichen Mittelpunkt der Erzählung bildet schließlich Marco, der 1968 auf der südamerikanischen Hacienda gezeugte Sohn von Sigrid und Udo. Auch ihn lässt die argentinische Vergangenheit der Familie nicht los, obwohl er anfangs alles versucht um sie von sich fern zu halten. Es ist schließlich eine Angelegenheit der Eltern, von denen sich der sehr empfindsame und unschlüssige Student nicht nur geographisch abgesetzt hat.

Marco lebt und studiert in Tübingen, „der Hauptstadt der Labilität“. Es geht ihm nicht gut dort, das Neckartal wird ihm zum Jammertal. Als dem Beginn einer zarten neuen Liebe ein psychischer Zusammenbruch folgt, findet er doch noch zu den argentinischen Wurzeln seiner Familie und auf den Spuren seiner Vorfahren neue Wege und Möglichkeiten für sich und die zauberhafte Tari. Bei einem überwachsenen Grabstein, inmitten der grünen Pampa und unter dem Diktat der Zahl 24 schließt sich der Kreis.

Wir kennen das Prinzip schon aus Ebmeyers letztem Buch „Der Neuling“: Man muss weit weg, um zu sich selbst zu finden. Am besten gleich ans andere Ende der Welt. Schamanenhafte Heilkunst – hier die charismatische „hechicera“ Amalia – begegnet uns in „Landungen“ ebenso wieder, wie das nachdrücklich prägende musikalische Erlebnis. Diesmal in Gestalt des legendären argentinischen Volkssängers, dem, viel zu früh durch das Pferd zu Tode gekommenen, legendären Jorge Cafrune.

Neben den eindrucksvollen, sehr kundigen Argentinien-Passagen, durchlebt der Leser mit den Hauptfiguren der beiden jüngeren Generationen auch wesentliche Epochen unserer Republik nach dem Zweiten Weltkrieg. Wie sehr sich Land, Kultur, Alltag und Moralvorstellungen der Menschen in diesen Jahrzehnten verändert haben, macht der Autor exemplarisch am Grad sexueller Hemmung, bzw. Enthemmung deutlich. Ebmeyer erzählt, spannungsfördernd die Zeitebenen wechselnd, eher konventionell, fast unmodern. Der Wortschatz wird dabei um viele aus fremder Welt und Sprache stammenden Begriffe erweitert und bereichert.

Autor und Verlag haben über das gedruckte Buch hinaus, weiterführende Pfade in virtuelle Welten angelegt. Die Homepage des Buches und die Residenz des Autors im Netz sind so zu erreichen.

Frederike, Udo und Marco gibt es ansatzweise auch auf Facebook. Dort soll man ihnen näher kommen können. Nicht auszuschließen, dass so etwas gelingt, denn auf Facebook ist viel möglich, man kann dort sogar mit einem blauen Sofa in Verbindung treten.

Es ist allerdings auch kein Fehler, auf solche Ausflüge ins social web zu verzichten und sich ganz auf den alten Reiz des epischen Erzählens zu verlassen. Bei den Büchern von Michael Ebmeyer lohnt das allemal; er schreibt hintergründig unterhaltsam auf bestem Niveau und man wundert sich eigentlich nur, warum seine Bücher nicht längst populärer sind.

Ebmeyer, Michael: Landungen. – Kein & Aber, 2010. Euro 19,90

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