„’s geht über Menschenwitz“

„Zettel’s Traum“ als aufwendige Neu-Edition

Ein Ereignis. Traumhafte Zeiten für Arno-Schmidt-Freunde. Montag, den 4. Oktober ist es soweit. Nach jahrelangen Vorarbeiten von Setzern, Herausgebern und Korrektoren erscheint „Zettel’s Traum“ erstmals als gesetztes Buch in lesefreundlichem Schriftsatz. Dabei wurde versucht, Charakter und Eigenheiten des Originals, das 1970 als schwerwiegendes faksimiliertes Typoskript erschienen war, möglichst wenig zu verändern.

Worum geht’s? Die Geschichte ist noch die selbe: Daniel Pagenstecher – genannt Dän – steht auf Edgar Allen POe und ganz junge Mädchen. Poe wird von ihm übersetzt, dechiffriert und nach allen Regeln der Etym-Analyse seziert. Das Ergebnis ist für den amerikanischen Phantasten nicht gerade schmeichelhaft. Bei den Mädchen, besonders jener zarten Versuchung in Gestalt der Protagonistin Franziska, eine ihm zudem besonders nahe stehende und auch keineswegs abholde Maid, macht Dän nicht die Fehler, die einem gewissen Humbert einstmals zum hochliterarischen Verhängnis wurden. Er legt die Hunde in seinem Keller an die Kette und lenkt seine Leidenschaften in eine seriös väterliche Richtung. Das dauert exakt vierundzwanzig Stunden, findet in und rund um ein Heidedörfchen statt, sowie auf der einen oder anderen Traum-Ebene und benötigt die erzählerische Breite von drei Spalten, eine epische Länge von 1536 Seiten und die geballten Schmidt’schen orthographischen Eigenarten. Das ist – hat der willige Leser erst einmal Zugang gefunden und seine individuelle Lesetechnik entwickelt – durchaus nicht ohne Spannung, intellektuellen Reiz, Melodie und Rhythmus.

Das Angebot. Wir stehen vor der Qual der Wahl, allemal aber vor erheblichen Strapazen des Kontos, Portmonees oder der Kreditkarte. Das Werk erscheint parallel in gleich drei, glücklicherweise textidentischen Ausgaben. Der Standardausgabe, gleichzeitig Band IV/1 der Bargfelder Ausgabe, zum Preis von Euro 298; für 100 Währungseinheiten weniger gibt es die wohlfeile Studienausgabe als paperback (!) – irgendwo steht sogar „Taschenbuch“ – und schließlich für flüssige Bibliophile die Vorzugsausgabe, eine Halbpergament-Version für Euro 448. Erfreulich ist auf jeden Fall, dass Schmidts Werk als Ganzes bei Suhrkamp wirklich eine nachhaltige verlegerische Heimat gefunden hat.

Handel und Wandel. Der Buchhandel reagiert unterschiedlich, häufig zurückhaltend, auf dieses publizistische Beben. Die Demographie! In den jüngeren Jahrgängen hält sich das Interesse in Grenzen, das Wissen um Autor und Werk ist dort nicht mehr sehr verbreitet. Der lauschige, esoterisch ausgerichtet Buchladen Eichhorn in Ulm zum Beispiel, sonst gerne für Besonderes zu haben, hat keine Aktionen geplant und wird zum Verkaufsstart auch kein Exemplar vorrätig haben. Buchhändler und Schriftsteller Manfred Eichhorn sieht zudem einen Preisverfall auf dem antiquarischen Markt für Schmidts Werke: „Die Aktie Schmidt sinkt seit Jahren.“ Auch die Ulmer Filiale der Massen-Marke Hugendubel wird auf das Ereignis nicht reagieren: Keine Nachfrage, kein Angebot, keine Aktion. Da ist dann die alte Universitätsstadt Tübingen doch ein anderes Pflaster. Bei Osiander gibt es ab 4. Oktober, sowohl die Standard-, als auch die Studienausgabe im Sortiment. Auch an einigen anderen Osiander-Standorten wird zumindest die Studienausgabe angeboten.

Begleit-Erscheinungen. Es sind nur zwei Standorte an denen dasBuchdieBücher einer staunenden Öffentlichkeit präsentiert wird, bzw. werden und die sich in der Nähe der Zentral-Redaktion dieses Blogs befinden: Am 19. Oktober um 20 Uhr im Karlsruher Literaturhaus und am 11. November in der Buchhandlung Lentner, am Münchener Marienplatz. Interessante Begleit-Texte bietet der Blog „Schauerfeld“, in dem Schmidt-Experten wie Jan Süselbeck, Friedhelm Rathjen und Susanne Fischer zu den Autoren gehören. Einen Besuch lohnen ganz sicher die Seite der „Gesellschaft der Arno-Schmidt-Leser“, kurz GASL , sowie die ASml-News; dort erfährt man auch Näheres über die virulente “Arno-Schmidt-Mailingliste“, auf der immer wieder rege bis aufgeregte Diskussionen entflammen. Und für verwöhnte Ohren gibt es auch noch was im Radio: z. B. am 11. Oktober auf WDR 5, jeweils 12.05 Uhr und 21.05 Uhr in der Sendung „Scala.“

Abschließend der Hinweis: Werbe-Broschüre und Plakat zur Edition sind graphisch und typographisch ganz besonders gelungen. Man sollte nichts unversucht lassen, von diesen ästhetischen Sammler-Stücken noch ein Exemplar zu bekommen.

3 Gedanken zu „„’s geht über Menschenwitz“

  1. Der angestrebte Erscheinungstermin – 4.10.2010 – war wohl nicht einzuhalten. Suhrkamp gibt neuerdings den 11. Oktober an.
    J. H.

    Like

  2. „Heimat im Wort“- klingt das nicht verlockend? Einen Essay in der Süddeutschen Zeitung vom 16./17.10.10 (nicht online, Zweitverwertung als Vortrag: http://www.literaturupdate.de/index.php?option=com_content&view=article&id=48:eroeffnungsrede-von-georg-klein-in-ingolstadt&catid=24:ingolstadt ) übertitelte dessen Autor Georg Klein („Roman unserer Kindheit“) mit diesen drei magischen Worten. In dem Text spielt der „große Heimatschriftsteller“Arno Schmidt und- ohne diesen explizit zu benennen- insbesondere Zettel´s Traum eine nicht unbedeutende Rolle. Dass dies- genauer: die Zitierweise Kleins- wiederum einen ziemlich empörten Ruhrpott-Blogger auf den Plan ruft
    http://www.revierflaneur.de/2010/10/16/intermezzle-i/ , gibt dem Ganzen noch eine pikante Note. Eine spannende Angelegenheit zur Freude des allgemeinen Publikums: Ein toter und ein lebendiger Schriftsteller, zwei Blogger von Format, das Wechselspiel der Worte: „HEIMAT IM WORT“!

    Like

  3. Pingback: Feste lesen (2) « Literatur * Orte * Spuren

Die Kommentarfunktion ist geschlossen.