Sudeleien: Mitte September 2011

Endlich Herbst!

Beim Sovormichhindenken: “Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß. / Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren, / und auf den Fluren laß die Winde los.” Rainer Maria Rilke hat die Verse im Stile eines Gebets geschrieben. Das war vor 110 Jahren. Das Gedicht heißt “Herbsttag” und wird auch heute noch gerne gelesen oder vorgetragen.

Der Aufbau-Verlag schrieb mir vor zwei Wochen: “Sehr geehrter Herr Haag, der Sommer neigt sich dem Ende entgegen, die Tag werden kürzer. Doch uns Leser kann das nicht schrecken – denn es bedeutet gemütliche Spätsommerabende im Lieblingssessel mit neuen, spannenden Büchern.” “Naaaja”, würde dazu ein ehemaliger Großkritiker aus Frankfurt am Main mit skeptisch faltiger Grimasse nuscheln, “das wollen wir doch erst einmal sehen.”

Ja, inzwischen ist der Sommer wohl wirklich am Ende. Schade eigentlich. So müssen wir nun wieder für lange Monate auf Liebgewonnenes verzichten. Auf üppige Weiblichkeit in knapper Ha-und-em-Badeware. Auf angegraut schwergewichtige Männlichkeit in Zeh-und-ah-Shorts, braunen Socken und Outdoor-Fussbesohlung. Auf allerhand exotische Eissorten wie “Smarties”, “Prosecco” oder “Kockovääh”.

Dafür kehrt das eine oder andere zurück, das wir viel zu lange entbehren mussten. Der Kaffee im Freien mit von Heizstrahlern erhitzten Gesichtern und vereister Rückenpartie. Dauerbenieselung von oben. Spätes Morgendunkel und frühes Abenddämmer. Frischer Gegenwind (s.oben). Bunte Blätter reichlich fallend. Die vielfach um Hals und Kinn geschlungenen Endlos-Häkel-Schals. Und – fast schon zu hören am Zeithorizont – das süßliche Gebimmel konsumfordernder, nicht endenwollender Weihnachtsmärkte.

Am liebsten sind mir Buchhandlungen mit nem Cafè drin. Dort saß ich neulich und las in dem Büchlein, das ich soeben erworben hatte. Andreas Maiers Kolumnenband “Onkel J.” Bevor sie von Suhrkamp hier zu schmalem Werk versammelt wurden, erschienen die kleinen Perlen in der österreichischen Literatur-Zeitung “Volltext”. Die kann man sehr gut ins Caféhaus mitnehmen. Zum Thema Herbst stand in des Wetterauer Dichters geistvoll sprunghaften Kurz-Essays eigentlich nichts drin. Aber neben dem Begriff “Umgehungsstraße” wird ein Getränk namens “Äppelwoi” häufig erwähnt. Und reife Äpfel riechen ja schon ziemlich kräftig nach Herbst.

Der oder die vor mir da saß, wo ich jetzt saß, hatte Schokolade nicht gegessen, sondern auf der nun von mir genutzten Sitzfläche verteilt. Ich merkte es erst als die Vollmilch-Schmiererei via Hosenbein und rechte Hand auf Andreas Maiers Glanzstückchen “Neulich las ich den Taugenichts” auftauchten.

Kann sich noch jemand an vorletztes Jahr erinnern? Möchte man nicht wirklich, wa? Im Spätsommer, Frühherbst war Wahlzeit. Vierundzwanzig Monate später wissen wir, was wir damals angerichtet haben, als wir die Wahl hatten und würden gerne wieder wählen. Aber bestimmt nicht wiederwählen. Jedenfalls boomen jetzt Wirtschafts-Thriller, die seltsamerweise alle im Sachbuch-Regal stehen. Untergangsszenarien und Weltrettungskonzepte sind besonders begehrt: “Geld oder Leben: Eine Reise durch den Wirtschaftswahnsinn”, “Markt ohne Moral: Das Versagen der internationalen Finanzelite”, “Das Ende der Weltwirtschaft und ihre Zukunft”.

Ich lese am liebsten jahreszeitlich antizyklisch. Also im Herbst “Frühlingserwachen” (Streichen Sie das. Ist nicht wirklich ein Frühlings-Buch.). Im Sommer Fontanes großes Winter-Epos “Vor dem Sturm”. Und in winterwarmer Stube, aus der unser melancholischer Blick durch Eisblumen in wolkig weißen Winterzauber fällt, Sachen wie… Naja, kennt man alles. Aber bitte keinen Hemingway! Obwohls da oft heiß ist oder zumindest hergeht. Aber für mich auf keinen Fall Hemingway. Da kann ihn Gourmet Ortheil noch so doll finden. So lauthalse Kerligkeit die mit Gewehren fuchtelt, auf afrikanisches Großwild schießt und auch so schreibt, mag ich einfach nicht. Auch nicht midnight. In Paris.

Apropos melancholisch. Schwermut, Trauer, Melancholie, aber auch so eine unbestimmte heitere Endzeit-Stimmung sind ja Gefühlsregungen, die gerne mit dem Herbst in Zusammenhang gebracht werden. Und Nachdenklichkeit. Viel verspreche ich mir von Heidemarie Bennent-Vahles “Glück kommt vom Denken. Die Kunst, das eigene Leben in die Hand zu nehmen.” Hoffentlich ist es so philosophisch wie Titel und erste Rezensenten andeuten und nicht so ratgebermäßig wie der Untertitel klingt.

Ob ich diesen Herbst überhaupt dazu komme, Titel aus dem Hause Aufbau (s. oben) zu lesen, ist eher fraglich. Die Kartei-Kärtchen mit interessanten, vielversprechenden Neu-Erscheinungen des Sommers und des Herbstes vermehren sich rasant. Und die eine oder andere steht schon neben dem Schreibtisch im Regal. Von zwei Büchern kann ich dabei Finger und Augen kaum noch lassen. Wenig erstaunlich, da sie bei meinen Tübinger Lieblingen von Klöpfer & Meyer erschienen sind. Viel will ich heute nicht verraten – werde demnächst ausführlicher darüber berichten. Nur so viel: Es geht um Hölderlin und es geht um Hegel. Aber wohl aus ganz anderer Perspektive und in anderer Form als in den gewohnt und meist gemiedenen Ernst-Schwarten.

Aber erst einmal gibt es ein paar Bilder und Sätze zu Goethe. In Kürze. Hier.

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Ein Gedanke zu „Sudeleien: Mitte September 2011

  1. „Apropos melancholisch.“

    Klare Mitternacht

    Dies ist deine Stunde, o Seele, dein freier Flug in das Wortlose,
    Fort von Büchern, fort von der Kunst, der Tag ausgelöscht,
    die Arbeit getan,
    Du, ganz emportauchend, lautlos, schauend, den Dingen
    nachsinnend, die du am meisten liebst:
    Nacht, Schlaf, Tod und die Sterne.

    (Walt Whitman: Grashalme. Nachdichtung von Hans Reisiger. Zürich: Diogenes, 1985. S. 407)

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