“Zum Lesen gibt es keine Alternative” – Notizen zur Leipziger Buchmesse 2017 (II)

Buchmesse 2016. Buchmesse 2017. In den letzten 12 Monaten hat sich die Welt verändert. Deshalb werden in diesem Jahr die Besucherströme kanalisiert und auf allen Zugangswegen Sicherheitskontrollen durchgeführt. Kräftige Männer in Plastewesten mit fluoriszierenden Streifen erkundigen sich freundlich ob Hieb-, Stich- oder Schusswaffen in Handtaschen und Rucksäcken mitgeführt werden, werfen dabei einen meist kurzen Blick in zu öffnende Gepäckstücke. Es geht höflich und verständnisvoll zu. Jedoch, an den “Dolch im Gewande” denkt niemand.

Am taz-Stand sorgte einer der überzeugtesten und überzeugendsten Europäer für enormen Andrang. Mit Schlagfertigkeit und knitzem Humor erreicht der 92-jährige Alfred Grosser mühelos ein junges Publikum. Überall in Europa sind es vor allem junge Menschen, die am Gemeinschaftsgedanken, an freien Grenzen und freiem Denken festhalten wollen. Grosser bestätigt diese Haltung, verkörpert sie selbst ausgesprochen glaubwürdig und bekommt dafür viel Zustimmung und Beifall.

Alfred Grosser (rechts)

“Le Mensch” ist der Titel seines neuesten Buches, das er auf der Messe vorstellte, “Die Ethik der Identitäten” der Untertitel. “Facettenreich und mit vielen persönlichen Rückblicken schreibt Grosser über die Entstehung und Moral sozialer Identität. Dabei wehrt er sich gegen ein altes Grundübel, das aktueller ist denn je – den Finger, der auf andere zeigt, das ‘schlimme DIE’: DIE Muslime, DIE Frauen, DIE Juden, DIE Deutschen, DIE Flüchtlinge. Ein großes Buch, das uns auffordert, auch in schwierigen Zeiten niemals unsere Menschlichkeit zu verlieren.” Heißt es in der Ankündigung des Verlags.

Litauen war das diesjährige Gastland in Leipzig. Ein kleiner Staat am Rande Mitteleuropas, mit einer Ostseeküste, die einst die Familie Mann zu schätzen wusste und in den großartigen Dünen einige Sommerurlaube verbrachte. Ein gewichtiges Pfund für die Tourismuswerbung des baltischen Landes. Darüber hinaus gab man sich alle Mühe den Messebesuchern das literarische Litauen näher zu bringen. Etwa mit einem gedruckten “Crashkurs”, der auf 130 Seiten in “100 Jahre litauischer Literatur” einführt. Die Anzahl der Bücher in deutscher Übersetzung ist nach wie vor überschaubar. Die Titel erscheinen meist in kleineren ambitionierten Verlagen. Wie zum Beispiel dem von Sebastian Guggolz.

Seit wenigen Jahren erst gibt es den Verlag, der sich auf Wiederauflagen und Neuübersetzungen – u. a. von Nobelpreisträgern – aus Nord- und Nordosteuropa spezialisiert hat. Aus Litauen ist der dort allgemein bekannte und sehr verehrte Antanas Skema (1910 – 1961) vertreten. Wie Albert Camus kam der Dichter, der Exiljahre in Deutschland und den USA verbrachte, viel zu jung bei einem Autounfall ums Leben. Der Roman “Das weiße Leintuch” ist sein zentrales, bis heute im Original viel gelesenes Werk. Entlang eigener biographischer Erlebnisse erzählt es vom Schicksal eines Schriftsteller im Exil. Das alter ego des Verfassers schöpft seine Zuversicht sehr stark aus den Erinnerungen an die Heimat. Die baltische Landschaft, literarische Traditionen, Folklore. Die frische Übersetzung ist kommentiert und – wie alle Bücher bei Guggolz – hochwertig ausgestattet.

Sebastian Guggolz (ohne), Klaus Schöffling (mit Bart)

Sebastian Guggolz war mit seinem Verlag einer der Gewinner des diesjährigen “Kurt-Wolff-Preises” für unabhängige Verlage. Während er den Förderpreis entgegennehmen durfte, ging der Hauptpreis an den schon seit vielen Jahren etablierten Verlag Schöffling & Co. und seinen Verleger Klaus Schöffling. “Liebe zum Buch, Mut und Leidenschaft”, seien erforderlich um im heutigen Wettbewerb mit schönen Büchern und außergewöhnlicher Literatur bestehen zu können. So der Laudator Burkhard Spinnen. Gerade die jährlichen Ereignisse auf und rund um die Leipziger Buchmesse zeigen, dass dafür nach wie vor ein gar nicht so kleines Publikum ansprechbar ist.

Besonderes, Schönes, Spannendes und gelegentlich Überraschendes kommt Jahr für Jahr aus der Schweiz. Unsere Nachbarn sprechen, schreiben und lesen ja in nicht weniger als vier Sprachen. Schon bei der Konzentration auf den stärksten Sprachraum, den deutschsprachigen, ist das Angebot so üppig, dass die Auswahl schwer fällt. Martin Suters neuen Roman “Elefant” habe ich allerdings noch nicht gelesen. Ihm wurde einmal mehr große Aufmerksam zuteil, versteht er es doch immer wieder, solide Unterhaltungsliteratur auf gutem Niveau in die Buchläden zu bringen.

Franz Hohler, dessen Erzählungen in der Schweiz schon zum klassischen Schulstoff gehören, war in diesem Jahr mit seinem Gedichtband “Alt?” vor Ort. (“Wird die Sparlampe / die du im WC einschraubst / Brenndauer 10.000 Stunden / länger halten als du?”) Ich habe mir einige von ihm vorgetragene Auszüge angehört, ziehe allerdings seine Prosatexte weiterhin vor. Zuletzt habe ich von ihm den Roman “Gleis 4” gelesen. Noch vergleichsweise jung ist Jonas Lüscher. Ihn konnte ich als Vorleser aus seinem Roman “Kraft” am Schweizer Gemeinschaftsstand erleben. Auf con=libri wurde das Buch bereits besprochen.

Lukas Bärfuss

“Leipzig ist ein Fest für Leser und Schreibende,” findet Lukas Bärfuss, dessen Auftritt mich besonders beeindruckt hat. Er gehört zu denen, die trotz aller professionellen Verbindlichkeiten gerne nach Leipzig kommen. Er spricht über seinen “Hagard”. Anspielungsreich und vieldeutig ist schon der Name des Protagonisten der obsessiven Geschichte. Bärfuss hat eine Schwäche für “Lexiköner” und den Begriff in einem Jagdlexikon gefunden; auch in Shakespears “Kaufmann von Venedig” taucht er auf. Es sind die roten Pumps einer Frau, die er nie richtig zu Gesicht bekommen wird, die Hagards Obsession und seinen daraus resultierenden Niedergang einleiten. Bärfuss: “Kleider machen Leute stimmt gar nicht, Schuhe machen Leute.” Der schmale Roman des Schweizers gehört zu den fesselndsten und originellsten Neuerscheinungen dieses Frühjahrs.

“In dieser kenntnisreichen Biografie dürfen wir alle Astrid Lindgren noch einmal erleben”, schrieb “Dagens Nyheter” als die Originalausgabe von Jens Andersens umfangreicher Lebens- und Werkbeschreibung erschien. Jetzt liegt sie als Taschenbuchausgabe vor. Sie ist deshalb aktuell, weil darin ausführlich die Haltung Lindgrens als Zeitgenossin und politischer Mensch gewürdigt wird. Im Mittelpunkt ihre Vorstellung von einer gewaltfreien Erziehung unter Achtung der Kinderrechte und ihr Wunsch nach einem friedlichen Miteinander in der Welt. Sehr eindrucksvoll sind in diesem Zusammenhang ihre Tagebücher, die sie während des zweiten Weltkriegs verfasst hat. Diese liegen seit Ende letzten Jahres ebenfalls in einer preiswerten broschierten Ausgabe vor

“Und dann muss man ja auch noch Zeit haben einfach dazusitzen und vor sich hin zu schauen.” Diese Lebenshaltung schien ihr keinesweg nur für Kinder empfehlenswert. Ihrem Rat zu folgen bietet schließlich die Zugfahrt Richtung Heimat Gelegenheit. Zeit um dazusitzen, aus dem Zugfenster auf das vorbeiziehende Deutschland zu schauen, Begegnungen mit all den Wahlverwandten in Leipzig, auf der Buchmesse und dem Lesefestival “Leipzig liest” Revue passieren zu lassen, natürlich um zu lesen, und ein wenig auch zu träumen. Von einem Europa das nicht an Oder und Memel, Nordsee und Alpen, Rhein und Karpaten enden darf. Es war der an diesen Tagen in Leipzig der am häufigsten geäußerte Wunsch an die Zukunft: Ein friedliches, tolerantes, demokratisches Europa ohne Grenzen, das in jeder Hinsicht offen bleibt.

Foto: Wiebke Haag

Grosser, Alfred: Le Mensch. Die Ethik der Identitäten. – Dietz, 2017. Euro 24,90

Katkus, Laurynas: 100 Jahre litauischer Literatur. Ein Crashkurs. – Lithuanian Culture Institute, 2017

Hier erfährt man mehr dazu und kann die Broschüre anfordern:

www.lithuanianculture.lt

Skema, Antanas: Das weiße Leintuch. Aus dem Litauischen von Claudia Sinnig. – Guggolz, 2017. Euro 21

Hohler, Franz: Alt?. Gedichte. – Luchterhand, 2017. – Euro 16

Lüscher, Jonas: Kraft. Roman – s. dazu:

Kraft auf con=libri

Bärfuss, Lukas: Hagard. Roman. – Wallstein, 2017. Euro 19,90

Andersen, Jens: Astrid Lindgren. Ihr Leben. – Pantheon, 2017. Euro 16,99 (Dt. Originalausgabe bei DVA, 2015)

Lindgren, Astrid: Die Menschheit hat den Verstand verloren. Tagebücher 1939 – 1945. – Ullstein Taschenbuch, 2016. Euro 14 (Dt. Originalausgabe Ullstein, 2015)