Signor Hesse, il poeta
Hermann Hesse in Montagnola und Lugano. Ein Reisebericht von Gastautor Bernd Michael Köhler
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Montagnola, September 2018. Keine 15 Minuten Busfahrt sind es von Lugano bis in die hoch über dem Luganer See gelegene, heute weltbekannte Ortschaft. Von Unterm Rad bis Zen – Hermann Hesse und Japan heißt die noch bis zum 13.01.2019 laufende Ausstellung im Hermann-Hesse-Museum.
Freundlich und zuvorkommend ist der Empfang durch die Dame an der Rezeption, die uns einen Quereinstieg in die Ausstellung ermöglicht, um in den schmalen Räumlichkeiten der großen Reisegesellschaft zu entgehen, die schon auf dem Weg zum Museum ist.
In einer kleinen Privatführung zeigt sie uns zum Abschluss des Ausstellungsbesuches von außen die Räume in der Casa Camuzzi in der Nähe des Museumseingangs, in denen Hesse von 1919 bis 1931 wohnte. Die weitläufige Terrasse zwischen zwei Türmchen ist von unten gut zu erahnen. Es fällt mir nicht schwer, mir den Dichter vorzustellen, wie er von seiner Terrasse aus weit in die Tessiner Landschaft hineinschaut, sinnierend über Gott und die Welt und den Klingsor. In Hesses Erzählung über dessen letzten Sommer ist der Casa Camuzzi ein literarisches Denkmal gesetzt worden.
Ist auch alles Trug und Wahn / Und die Wahrheit stets unnennbar,/ Dennoch blickt der Berg mich an / Zackig und genau erkennbar. Dichtet Hermann Hesse im Februar 1961. Die aquarellierte Handschrift des Dichters und Malers unter dem Titel ZEN, einer leicht abgewandelten Version des Gedichtes Junger Novize im Zen-Kloster II, gehört für mich zu den besonders wertvollen Einzelstücken der von Dr. Eva Zimmermann kenntnisreich kuratierten Ausstellung.
Beim zweiten Durchgang allein und mit viel Zeit – die Reisegruppe hat inzwischen das in Sichtweite liegende Literaturcafé Boccadoro (= Goldmund) gestürmt – nehme ich weitere Exponate als leuchtende Kleinode wahr, die ich als den Alltag überdauernde Bilder mitnehme: Den Original-Fotoband mit Buddha-Abbildungen, den Kei Wagasuki Hermann Hesse schenkte, und der diesen im Dezember 1958 zu dem Gedicht Uralte Buddha-Figur in einer japanischen Waldschlucht verwitternd (Kei Wagasuki gewidmet), inspirierte. Eine Gesichtsmaske Hesses, die Goro Shituda, der in seinem Wohnort Hiroshima einen Teil seines Hauses als Hermann-Hesse-Literaturhaus eingerichtet hatte, dem Dichter schenkte. Ein Foto von Hermann Hesse und Wilhelm Gundert, dem japanischen Vetter, aus dem Jahre 1956. Ein Buch des Schriftstellers Ozaki Kihachi von 1933, in dem er ein Kapitel Hermann Hesse von ganzem Herzen widmete. Eine Kalligraphie von Hesses Sohn Heiner mit dem Titel Worte des Meng Hsiä. Ein Exemplar des Privatdruckes Zen, der 1961 in St. Gallen vom Tschudy-Verlag gedruckt wurde.
Beeindruckend auch die Übersetzung eines Kapitels von Knulp ins Japanische bereits im Jahre 1909 und die 18-bändige japanische Gesamtausgabe vom Ende der 1930er Jahre. Interessanterweise ist es gerade die 222-seitige und um Fotografien von Martin Hesse erweiterte 1995 erschienene japanische Übersetzung des Sammelbandes Mit der Reife wird man immer jünger – Betrachtungen und Gedichte über das Alter, die zu einem der meistgelesenen Bücher in Japan wurde. Einen Zusammenhang mit der Überalterung Japans herzustellen ist naheliegend.
Heute hat Japan neben den USA die höchsten Verkaufszahlen fremdsprachiger Hesse-Werke vorzuweisen. Neu für mich war in der Ausstellung, dass Motive Hermann Hesses sogar in die Literaturgattung der Mangas eingegangen sind. So hat die in Deutschland beim Carlsen Verlag erscheinende Manga-Reihe Das Demian-Syndrom der japanischen Comic-Zeichnerin Mamiya Oki sogar einen Eintrag in der Wikipedia erhalten.
Montagnola, Sommer 1919. In einem Brief an seine Schwester Adele schildert Hermann Hesse seinen Umzug von Bern nach Montagnola und berichtet u.a., dass seine 23 Bücherkisten in drei Wägen mit acht Gäulen in das Bergdorf transportiert wurden.
Mitte April 1919 hatte sich der Dichter aufgemacht, auf der Alpensüdseite ein neues Leben zu beginnen. Die Tragödie des Ersten Weltkriegs, sein kräftezehrender Einsatz für die Kriegsgefangenen-Fürsorge, die Diffamierung Hesses als vaterlandsloser Gesell und Drückeberger, das dramatische Scheitern seiner Ehe und das Auseinanderfallen der Familie hatten ihn in eine existentielle Krise gestürzt.
Seine erste Station im Tessin war das Hotel Continental in Lugano, das noch heute unter dem Namen Continental Parkhotel zahlreiche Gäste aus aller Welt beherbergt. Zwei Wochen verbrachte er dort. Uns bescherte ein überraschendes Upgrade ein Zimmer in der dritten Etage des Haupthauses – drei Türen weiter auf der anderen Gangseite in Sichtweite die Nr. 51, das Zimmer, in dem Hermann Hesse ganz am Beginn seines Tessiner Lebens untergekommen war.
Nach seinem Aufenthalt im Luganer Hotel wohnte Hesse noch kurze Zeit in Sorengo, bevor er Mitte Mai in Montagnola vier kleine Räume in der Casa Camuzzi, einem Palazzo im Barockstil, bezog. Unmittelbar nach dem Einzug beginnt er mit der Arbeit an der Novelle Klein und Wagner, in der er den Zusammenbruch seiner bürgerlichen Existenz mit der Trennung von der Familie literarisch radikal gestaltet.
Spielerisch und zugleich todernst schafft der Dichter eine Versuchsanordnung von Bewusstem und Unbewusstem. Lässt im eigenen, wahrsten, innersten Ich, befreit von allen Lügen, Entschuldigungen und Komödien, Liebe und Hass, Schuld und Sühne, Schöpferkraft und Zerstörung, Lebenstrieb und Todessehnsucht freien Lauf. Schön und holdselig ist diese Dichtung nicht, mehr wie Cyankali (O-Ton Hesse). Im Juli ist das Werk getan, die Hauptfigur Friedrich Klein samt seinem Doppel-Schatten Wagner im Luganer See zu Tode gekommen, das Familiendrama vorerst Vergangenheit, Platz geschaffen für eine neue literarische Figur, den Maler Klingsor.
Er kam vor ein Hotel, dessen Garten ihm gefiel… und las: Hotel Kontinental. So beginnt Hesse das zweite Kapitel in Klein und Wagner. Auch den Hotelgästen im September 2018 gefällt der Garten, der eigentlich ein ausgewachsener Park ist. Palmen, Olivenbäume, Zedern, Rhododendren, Magnolien – man findet sie alle wieder in Hesses Texten aus jenem rauschhaften Sommer 1919, der Klingsors letzter und des Dichters erster Tessiner Sommer werden sollte.
Im ausklingenden Sommer 2018 sitze ich im Park an einem steinernen Tisch und lese Klingsors letzter Sommer, Hesse schrieb die Erzählung im Juli und August. Wenngleich es nicht Klingsors Garten ist, in dem ich mich in Glück und Unglück des Malers vertiefe, so ist es doch des Dichters Hermann Garten, der mit Klingsor und weiteren illustren Begleitern in der sonnendurchglühten Tessiner Landschaft unterwegs ist und der einst im Frühjahr des Jahres 1919 im Hotel Kontinental abstieg. Einmal mehr ist die Lektüre des Klingsor ein intensives Leseerlebnis. Ein Buch wie ein Gemälde ohne Maß und Ziel, wie eine rasende Fahrt durch alles Gegenwärtige, durch lodernde Seelenlandschaften. Ein endloser Strom der Gestaltungen, ein Mensch am Limit und darüber hinaus.
Lugano, 1920erJahre. Zweimal hat Hermann Hesse in Lugano aus seinen Werken gelesen. Im August 1922 war die noch heute tätige Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit mit ihrem zweiwöchigen Internationalen Sommerkurs am Luganer See zu Gast.
Hesse wurde gebeten, einen Vortrag zu halten, was er ablehnte. Stattdessen las er – ein erlesener Genuß – am Montag, dem 21. August nachmittags im damaligen Hotel Meister die zwei letzten Kapitel aus der zu diesem Zeitpunkt noch unveröffentlichten indischen Dichtung Siddhartha und den Prosatext Bäume aus dem bebilderten Skizzenbuch Wanderung, laut Hesse nichts als ein Lobgesang auf die Tessiner Landschaft.
Vorträge wurden auf dem Sommerkurs unter anderem von Bertrand Russell, Harry Graf Kessler, Vilma Glücklich und dem indischen Professor Kalidas Nag gehalten, der hingerissen der Übersetzung des Siddhartha lauschte und Hesse am Tag nach der Lesung in Montagnola besuchte. Eine besondere Freude war für die Teilnehmerinnen die Anwesenheit des Schriftstellers, Pazifisten und Hesse-Freundes Romain Rolland, der in der zweiten Woche einige Tage an der Sommerschule teilnahm.
Am 25. Januar 1923 veranstaltete die Literarische Gesellschaft Lugano im heute nicht mehr existierenden Grand & Palace Hotel eine Lesung mit Hermann Hesse, der für die Örtlichkeit seines literarischen Vortrags die Bezeichnung Palace-Schieberhotel vorzog. Wieder las er Passagen aus Siddhartha, dazu aus dem damals noch unveröffentlichten Märchen Piktors Verwandlungen und zur Freude der Tessiner Besucher aus dem Klingsor.
Im Frühjahr 1927 – Hesse lebt nun seit acht Jahren in seiner Tessiner Wahlheimat – verkündet der Dichter in Rückkehr aufs Land: Die Ankunft in Lugano war allerdings nicht entzückend. In dem kleinen Lugano sind ein Viertel der Einwohner von Berlin, ein Drittel von Zürich, ein Fünftel von Frankfurt und Stuttgart anzutreffen, auf den Quadratmeter kommen etwa zehn Menschen, täglich werden viele erdrückt … Jahr um Jahr vermehren sich die Autos, werden die Hotels voller …
Hellsichtig, wie Hermann Hesse war, hat er den Massentourismus auch unserer Tage bereits vor mehr als 90 Jahren nicht nur vorausgesehen, sondern mit analytischer Schärfe satirisch und bitterböse auf den Punkt gebracht.
Das Geld, die Industrie, die Technik, der moderne Geist haben sich längst auch dieser vor kurzem noch zauberhaften Landschaft bemächtigt, und wir alten Freunde, Kenner und Entdecker dieser Landschaft gehören mit zu den unbequemen altmodischen Dingen, welche an die Wand gedrückt und ausgerottet werden. Der Letzte von uns wird sich am letzten alten Kastanienbaum des Tessins, am Tag eh der Baum im Auftrag eines Bauspekulanten gefällt wird, aufhängen.
Am 9. August 1962 stirbt Hermann Hesse 85-jährig in Montagnola. In der Casa Rossa, die er 1931 mit seiner zukünftigen Frau Ninon bezogen hatte. Im Klingsor ist zu lesen: … morgen begann schon der August, der brennende Fiebermonat, der so viel Todesfurcht und Bangnis in seine glühenden Becher mischt. Die Sense war geschärft, die Tage neigten sich, der Tod lachte versteckt im bräunenden Laub.
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Hesse, Hermann: Klein und Wagner. Erzählung (Suhrkamp Taschenbuch, 116)
Hesse, Hermann: Klingsors letzter Sommer. Erzählung (Suhrkamp Taschenbuch, 1195)