Der lange Weg eines großen Romans

Die Berliner Schriftstellerin Gabriele Tergit und ihre Effingers

Ich war überrascht: Im Brockhaus Literatur taucht der Name der Schriftstellerin Gabriele Tergit nicht auf. Das gleiche Ergebnis im aktuellsten Kindler. Drei Stigmata sind dafür wohl verantwortlich: Weiblich, jüdisch, Exil.

Mit Käsebier erobert den Kurfürstendamm gelang Gabriele Tergit eine ebenso bissige wie unterhaltsame Satire über den Starrummel und die schrille Unterhaltungsindustrie der ersten Berliner Republik heutige Geschichtsbücher nennen sie die Weimarer. Die Verfasserin wurde zu einer bekannten und erfolgreichen Romanautorin. Das Buch erschien 1931 und nichts deutete darauf hin dass bis zur Veröffentlichung des nächsten Romans 20 Jahre vergehen sollten und sich dann in ihrer ehemaligen Heimatstadt kaum jemand an die einst so populäre Frau erinnern würde oder erinnern wollte.

Nur knapp entkam Gabriele Tergit im März 1933 einem SA-Überfall. Fluchtartig verließ sie die Hauptstadt eines deutschen Reichs, das sich binnen weniger Jahre radikal verändert hatte. Sie hatte inzwischen mit der Arbeit an einem umfangreichen Generationenroman begonnen. Im Exil nahm das Werk Gestalt an. In Hotelzimmern in Prag, Jerusalem und Tel Aviv, während der Zeit in Palästina und schließlich in London, das zum neuen Lebensmittelpunkt wurde. Ihre letzte Berliner Adresse war Siegmunds Hof 22. Eine Gedenktafel an dem Gebäude, das heute an dieser Stelle steht, würdigt die einstige Bewohnerin.

Als Elise Hirschmann wurde sie 1894 geboren. Sie durfte (musste) eine sogenannte Frauenschule besuchen, die von der Frauenrechtlerin Gertrud Bäumer geleitet wurde. In diesem Umfeld kam sie früh mit weiteren Persönlichkeiten der Frauenbewegung, wie Lily Dröscher und Alice Salomon, in Kontakt. Ihr Studium der Geschichte und Soziologie (u. a. bei Max Weber) in Heidelberg und München schloss sie mit der Promotion ab. Nach der Hochzeit mit dem Architekten Heinrich Julius Reifenberg hieß sie mit bürgerlichem Namen Elise Reifenberg. In ihren 1983 erstmals erschienen Erinnerungen Etwas Seltenes überhaupt wird der Gatte zum lebensbegleitenden Heinz, sie konnte das besitzanzeigende Fürwort in Verbindung mit Mann nicht leiden.

Journalistische und erzählerische Arbeiten verfasste sie, neben einigen anderen Pseudonymen, hauptsächlich als Gabriele Tergit. In der Vossischen Zeitung und im Berliner Tageblatt erschienen ab 1920 ihre Gerichtsreportagen. Gabriele Tergit legte Wert auf die menschlichen Seiten der geschilderten Rechtsfälle, ihr Schreibstil war durchsetzt mit Witz und Ironie. Aus dem Londoner Exil kehrte sie, bis auf kurze Besuche, nicht mehr nach Deutschland zurück. Zum englischsprachigen Literaturmarkt fand sie, die nur in deutscher Sprache schreiben konnte und wollte, keinen Zugang. An eine Veröffentlichung ihres epischen Panoramas Effingers war erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu denken. 

Die deutsche Literatur- und Verlagsszene reagierte in der Nachkriegszeit auf Exilautoren und -autorinnen jedoch mit Skepsis bis Abneigung. Nach einigen Ablehnungen und Umwegen erschien schließlich im Jahre 1951 eine erste Ausgabe des Romans im Hamburger Verlag Hammerich & Lesser. Sie umfasste 735 Seiten und kostete für damalige Verhältnisse stolze DM 21,50. Marktdurchdringung und Wahrnehmung bei Kritik und Publikum hielten sich in Grenzen. 1964 gab der Lichtenberg Verlag in München eine auf 555 Seiten gekürzte Ausgabe heraus, die für DM 9,80 zu haben war.

Erst 1978 konnte bei Krüger in Frankfurt eine vollständige Neuausgabe erscheinen, die immerhin noch im selben Jahr eine zweite Auflage erlebte und in Lizenzausgaben 1979 bei der Büchergilde Gutenberg und 1981 beim Deutschen Bücherbund erschien. Der Fischer Taschenbuch-Verlag besorgte schließlich 1982 eine ungekürzte Taschenbuch-Ausgabe, die DM 16,80 kostete. Danach dauerte es über drei Jahrzehnte bis die Werke Gabriele Effingers eine neue verlegerische Heimat fanden und wieder verbreitet im Buchhandel angeboten wurden. 

Effingers ist eine Chronik über vier Generationen mit einer Vielzahl unterschiedlicher Charaktere, die Tergit meist aus ihrem persönlichen Umfeld synthetisierte. Die Handlung umfasst den Zeitraum von 1878 bis 1948. Ein Panorama des jüdischen Bürgertums im Berlin der Vorkriegszeit, nannte es Jens Bisky in der Süddeutschen Zeitung. Im Mittelpunkt stehen zwei Familien. Die Goldschmidts, Inhaber einer kleinen Privatbank in Berlin, gehören zum gehobenen Bürgertum rund um Friedrichstraße und Kurfürstendamm. 

Die Effingers sind seit Jahrzehnten als Uhrmacher im fiktiven süddeutschen Provinzstädtchen Kragsheim verwurzelt. Die Söhne Karl und Paul des Ehepaars Minna und Mathias Effinger zieht es in die ferne Reichshauptstadt um dort als selbständige Unternehmer einen Produktionsbetrieb aufzubauen. Aus der bescheidenen Schraubenfabrik wird eine erfolgreiche Maschinenfabrik, und schließlich gehören die Brüder zu den Pionieren des Automobilbaus. Beide heiraten Töchter der geborenen Selma Goldschmidt, die aus den damals üblichen pragmatischen Gründen mit dem Bankier Emmanuel Oppner verheiratet wurde.

Zwei Briefe bilden den Rahmen der weit ausholenden Handlung. Am Anfang steht ein Schreiben des 17-jährigen Paul Effinger, der zunächst in einer rheinländischen Eisengießerei erste berufliche Erfahrungen sammelt, an seine Eltern. Wir fangen um 5 Uhr früh an und hören um 6 Uhr am Nachmittag auf, das sind elf Stunden Arbeit. Vielfach wird aber auch erst um 7 Uhr aufgehört. Für die Arbeiter ist das schrecklich. … Ich denke über diese Dinge viel nach. Abends versuche ich, mich technisch fortzubilden. Auch höre ich zweimal in der Woche Handelslehre. Französisch treibe ich auch.

Im 146. der meist kurzen Kapitel endet die Geschichte mit dem Brief des alten Mannes aus dem Jahr 1942. Paul ist jetzt 81 Jahre alt, er wurde interniert und ihm steht der Weg in ein Vernichtungslager bevor. Meine lieben Kinder und Enkel und Nichte Marianne, ich schreibe Euch in furchtbarer Stunde, ich weiß nicht, ob dieser Brief Euch je erreichen wird. Wir müssen den bitteren Kelch bis auf den Grund leeren. Es ist keine Hilfe noch Rettung. Der Brief wird erst nach dem Krieg Adressaten finden. In einem kurzen Epilog über das Leben in der zerstörten Hauptstadt des Jahres 1948 trauert Gabriele Tergit in bitterem Ton der verlorenen Heimat nach.

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Haben alle diese Männer und Frauen (Albert Einstein, der Reeder Albert Ballin, der Naturforscher Ehrlich, Emil Rathenau, Gründer der Allgemeinen Elektrizitätsgesellschaft) ihre Taten als Juden vollbracht oder als Deutsche? Haben ihre Schriftsteller und Dichter eine jüdische Geistesgeschichte geschrieben oder eine deutsche, ihre Schauspieler eine deutsche Sprache gepflegt oder eine fremde? (*)

Außer dass sie von ihrer Herkunft Juden sind unterscheidet die beiden Familien des Romans nichts von anderen gut situierten Bürgern ihrer Zeit. Die Männer waren für das Vaterland im Krieg und sehen sich als Rückgrat der deutschen Gesellschaft. Sie sind Bankkaufleute, Erfinder, Unternehmer, der eine oder die andere schlägt aus der Art und entwickelt künstlerische oder schöngeistige Ambitionen, hin und wieder wird ein Mitglied den in ihn gestellten Erwartungen nicht gerecht. Es gibt Erfolge und Scheitern, Glück und Enttäuschung. Das Schicksal wendet sich zur Katastrophe mit dem aufziehenden Naziterror. Der schon längst schlummernde latente Antisemitismus wird zum aggressiven Judenhass. Aus den Stützen der Gesellschaft werden abgestempelte Nichtarier, ausgegrenzte und gedemütigte Juden, der Erniedrigung und Vernichtung ausgeliefert. Wer rechtzeitig wachsam und skeptisch war, wanderte aus. An das Gute im Menschen zu glauben ist für Paul Effinger der tiefste Irrtum meines Lebens.

Mit flottem Strich, in dramaturgisch geschickt inszenierten Szenen, schildert Gabriele Tergit Lebensart und Lebenswelten, die mit dem Lauf der Zeit wechselnden Moden und gesellschaftlichen Normen. Sie entwirft realitätsnahe Protagonisten, schöpft aus persönlicher Kenntnis und Erkenntnis. Effingers will die Details einer verschwundenen Welt aufleuchten lassen, was in den Schilderungen der Moden und Interieurs, der Architektur und Essgewohnheiten präzise und poetisch zugleich gelingt. (Nicole Henneberg im Nachwort der von ihr besorgten Neuausgabe.) In Effingers wird Zeitgeschichte an exemplarischen Schicksalen anschaulich. Die Handlung schreitet oft in Form fesselnder Dialoge voran, eine Darstellungsform, die Gabriele Tergit meisterlich beherrscht.

Effingers ist ein Buch in dem Wirtschaft und Wirtschaften, Unternehmertum und Arbeitswelt eine zentrale Rolle spielen. Aber auch die Konflikte zwischen der Macht des Kapitals und der ausgebeuteten Arbeitnehmerschaft sind ein wichtiges Thema, schließlich wurde die politische Entwicklung davon maßgeblich mitgeprägt. Es ist ein Berlinroman, mit Abstechern nach London, München und Heidelberg, nach Hamburg und Russland, und in die Kleinstadt Kragsheim. Thomas Manns Buddenbrooks hat Gebriele Tergit sicher gründlich gelesen, gleichzeitig erinnert die collageartige Erzähltechnik an Alfred Döblin.

Seit einigen Jahre hat sich der Frankfurter Schöffling-Verlag des Werks der Gabriele Tergit angenommen, ein Haus dem in der Vergangenheit immer wieder die eine oder andere verlegerische Überraschung gelang. Käsebier erobert den Kurfürstendamm wurde 2016 neu aufgelegt. Die Erinnerungen Gabriele Tergits Etwas Seltenes überhaupt folgten 2018. Und heuer erschien nun endlich ihr Hauptwerk in einer schön ausgestatteten Neuausgabe. Von 1933 bis 1950 hatte sie daran gearbeitet. An der Chronik einer untergegangen Welt, die Tergit über alles geliebt hatte. Ihr Schmerz darüber ist dem Roman eingeschrieben, ebenso wie der entscheidende Bruch ihres Lebens, die Vertreibung aus Berlin, seinen Hintergrund und Hallraum bildet. (Nicole Henneberg

Und wie vieles, was die rührigen Schöfflinge in die Hand nehmen und nahmen, scheint auch aus diesem so lange vernachlässigten Roman einer der wichtigsten deutschsprachigen Autorinnen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Erfolgsgeschichte zu werden. Einschließlich Nachwort 898 Seiten stark, ist bereits die fünfte Auflage auf dem Markt. Ein breites, durchweg positives Medienecho begleitet das Buch seit Monaten. Es hat sich zum heimlichen Bestseller entwickelt, die Buchhandlungen des Landes halten gut absetzbare Vorräte. Übersetzungen in andere Sprachen gibt es bisher leider nicht. Das wird sich hoffentlich bald ändern, denn Inhalt und Thema des Werks dürften in einigen Ländern auf Interesse stoßen.

In England war und blieb Gabriele Tergit eine deutschsprachige Autorin, die mit der britischen Lebensart nie so richtig warm wurde. Wenn man sie zur Engländerin erklären wollte, war ihre Antwort: No I’m a Berliner. Ich bin Berlinisch in der Wolle gefärbt. Man kann doch nicht solche Bücher schreiben wie ich und all dies dann wie eine Jacke ausziehen. Von 1957 bis 1981 diente die Berlinerin in der englischen Hauptstadt dem Exil-Pen als „Sekretär“. Hochbetagt starb sie dort im Jahre 1982. 

(*) Aus einem Brief des Schriftstellers und Pazifisten Armin T. Wegener an Adolf Hitler vom April 1933 (zitiert nach Henneberg

Verwendete Ausgaben:

Tergit, Gabriele: Effingers. Roman. Büchergilde Gutenberg, 1979

Tergit, Gabriele: Effingers. Roman. Schöffling & Co., 2019

Tergit, Gabriele: Käsebier erobert den Kurfürstendamm. Roman. Schöffling & Co., 2016

Tergit, Gabriele: Etwas Seltenes überhaupt. Erinnerungen. Schöffling & Co., 2018

(Alle Schöfflling-Editionen herausgegeben und mit Nachworten von Nicole Henneberg)