Schillers Garten und Wallensteins Lager

Vielleicht betritt man den Schillergarten von der Elbseite her. Man hat auf dem breiten Uferweg promeniert, versonnen auf den Fluss geschaut, an den fernen Ursprung des Flusses in den Höhen des tschechischen Riesengebirges gedacht, an den kräftigen Zufluss der legendären Moldau und den grenzfreien Eintritt auf bundesdeutsches Gebiet. Nachdem er die Hänge bei Schloss Pillnitz passiert hat, erreicht er das breite Ufer von Blasewitz, an dem wir stehen, mit Blick auf den gegenüberliegenden Stadtteil Loschwitz mit seinem Prominentenviertel Weißer Hirsch. Der ganze Dresdner Barock liegt noch vor ihm, dann Magdeburg, das Lauenburgische, das hyperaktive Hamburg, bevor nach über 1000 Kilometern ein breiter Strom die Nordsee erreicht.

Über einige wenige Stufen geht es in den Gastgarten. Er hat sich längst angekündigt, mit dem unwiderstehlichen Aroma von Bratwürsten die auf Holzkohle grillen. Obwohl dieser so populäre Fettgenuss längst zum profanen Massenerzeugnis degenerierte und mit der Idee einer Thüringer Bratwurst (zumal in Sachsen!) fast nichts mehr gemein hat, findet er reichlich hungrige Abnehmer. Genauso wie all die anderen kulinarischen Üppigkeiten, die unter den sommergrünen Kastanien und Ahornen bei leichtem warmen Wind besonders gut munden. Dazu der Wein aus dem Saale-Unstrut-Gebiet oder das kühle süffige Bier das pausenlos aus dem Zapfhahn in sich rasch beschlagende Gläser fließt.

Hier ist gut sein. Und beim Blick auf das wuchtige, Elbe überspannende Brückenwerk kann man einer kleinen Geschichte rund um Friedrich Schiller begegnen, die den bekannten Biographen zu unbedeutend war um sie in ihren Standardwerken zu erzählen.

Das Blaue Wunder gab es damals noch nicht. Jene gewaltige Brückenkonstruktion über die Elbe, die heute die Dresdner Stadtteile Blasewitz und Loschwitz verbindet und mit ihren kühnen Konstruktionsteilen aus Schmiedeeisen beeindruckt, wurde erst im Juli 1893 eingeweiht. Mit der neuen Verbindung war ein durchgängiger Straßenbahnverkehr zwischen Schiller- und Körnerplatz möglich geworden.

Bis dahin musste mit der Fähre übergesetzt werden. Wie zwischen 1785 und 1787 als Friedrich Schiller bei seinem Freund Christian Gottfried Körner Unterschlupf und Ruhepol gefunden hatte. Der aus Schwaben stammende Dichter war zu Beginn dieses Aufenthalts 36 Jahre alt und feilte seit einiger Zeit am Freiheits- und Unabhängigkeitsdrama Don Karlos, Infant von Spanien. (Mit der berühmten Forderung des Marquis von Posa an den spanischen König Philipp II.: Geben Sie Gedankenfreiheit, Sire!) Er kam nicht gut voran, hatte Schulden und wusste nicht so recht, wo er hingehörte. Die Heimat hatte er vor Jahren verlassen müssen, da er beim württembergischen Landesherrn mit seinen freiheitlichen Dichtungen und politisch progressiven Äußerungen in Ungnade gefallen war. Über Mannheim, Rudolstadt und Leipzig war er schließlich hier, am Rande Dresdens, gelandet.

Das Übersetzen mit einer Fähre vom einen Elbufer an das andere war nicht ganz ungefährlich, bei Hochwasser, Sturm oder Eisgang mitunter längere Zeit gar unmöglich. Am schönsten war es im Sommer den Fluss zu überqueren. Wenn der Fährmann am linken Ufer anlegte und man das schwankende Gefährt verließ stand man direkt vor der Fleischer’schen Schenke, damals eine bekannte Einkehr, heute der urige, mit zahlreichen Bäumen beschattete Schillergarten, damals wie heute ein beliebtes Ausflugs- und Einkehrziel.

Hier begegneten sich der Dichter Friedrich Schiller, den seine Freunde Fritz nannten, und Johanne Justine Segedin, die alle Gustl riefen. Schiller, der von seiner Arbeit am Drama zu gern in die Freiluft-Idylle am anderen Ufer floh und die junge Frau die in der Wirtschaft ihrer Eltern bediente. Der Fritz war ja eine attraktive Erscheinung. Groß gewachsen, blondlockig, redegewandt, den schwäbischen Dialekt hatte er nie richtig ablegen können. Das verlieh ihm, damals als ostdeutsche Großstädte noch nicht von größeren Schwabenkohorten bevölkert waren, eine charmante Exotik.

Justine war 22 Jahre alt als sie Schiller begegnete, der angeblich am liebsten Milch bestellt und getrunken hat. Vielleicht gehört dies angesichts der bekannten Trinkgewohnheiten des Dichters, der eindeutig den großzügigen Schoppen Wein bevorzugte, ebenso ins Bereich der Legenden, wie das was im Lauf kommender Jahre und Jahrzehnte über die Beziehung zwischen der hübschen Jungfer und dem attraktiven Gast an Gerüchten und Legenden in Umlauf kam.

Begegnung Schillers mit Gustel. Idealisierte Darstellung auf einer historischen Postkarte.

Schiller war auf die Maid aufmerksam geworden weil sie eine sehr schöne Stimme besaß. Sich selbst am Spinett begleitend, trug sie gerne einmal das eine oder andere Lied vor. Man mag sich durchaus hin und wieder außerhalb der Wirtschaft begegnet sein. Dabei kam es vielleicht zu kurzen Gesprächen, möglicherweise kleinen Flirts. Mehr ließen, jedenfalls nicht ohne dass dies fatale Konsequenzen gehabt hätte, die Sitten der Zeit nicht zu. Und die Justine Segedin war nicht nur sittsam, sondern bereits mit dem Advokaten und späteren Senator Christian Friedrich Renner  verlobt. Noch während Schillers Dresdner Jahre heiratete das Paar. Es gab immer wieder Stimmen, die behaupteten, die Neigungen zwischen Schiller und Justine Segedin seien doch ernsthafterer Natur gewesen. Von einem Briefwechsel war die Rede, doch wurden nie Dokumente gefunden oder nachgewiesen, die diese Vermutungen belegten. 

Etwa zehn Jahre später. Friedrich Schiller ist längst in Weimar etabliert. An der Seite Goethens wird fleißig am Klassikerstatus gearbeitet. Ehestand und Kinder sind eher Last als Segen, immerhin, die materielle Situation hat sich entspannt. Der Lehrstuhl in Jena, den ihm der einflussreiche Kollege verschafft hat, bringt zwar kein Geld, jedoch akademisches Ansehen. Verschiedene Projekte, die Einnahmen generieren sollen, gedeien leidlich. Ehrungen, die mit finanziellen Vorteilen verbunden sind, häufen sich. Und der Wallenstein ist fertig. Eine dramatische Trilogie, deren erster Teil Wallensteins Lager betitelt ist. Schiller, der Schelm, hat seiner alten Dresdner Bekanntschaft einen kleinen, fast unscheinbaren Auftritt im Werk gewidmet.

Wir sind im fünften Auftritt, als eine Marketenderin zwei neu eintreffenden Jägern mit dem Begrüßungstrunk entgegentritt. – Marketenderin: Glück zur Ankunft, ihr Herrn! / Erster Jäger: Was? der Blitz! Das ist ja die Gustel aus Blasewitz. / Marketenderin: I freilich! Und Er ist wohl gar, Mußjö / Der lange Peter aus Itzehoe? / Der seines Vaters goldene Füchse / Mit unserm Regiment hat durchgebracht / Zu Glückstadt in einer lustigen Nacht. / Erster Jäger: Und die Feder vertauscht mit der Kugelbüchse. / Marketenderin: Ei! da sind wir alte Bekannte! / Erster Jäger: Und treffen uns hier im böhmischen Lande. – usw.

Die Marketenderin wird in der Folge in Wallensteins Lager noch mehrmals marginal in Erscheinung treten. Frau Senatorin Renner im fernen Dresden soll, so wird berichtet, not amused gewesen sein. 

Vor mir liegt die gedruckte Version eines Volksstücks mit dem Titel Die Gustel von Blasewitz von einer gewissen Anda von Smelding über die ich literaturhistorisch und biographisch aus gängigen Quellen nichts in Erfahrung bringen konnte. Es ist 1935 erschienen, in einer Zeit als man in Deutschland sehr an arischen Nationalhelden interessiert war. Schiller wurde dafür ja bekanntlich vereinnahmt. In dem schwankhaften Theaterstück, das ich nur überflogen habe, ist die Gustel schon sehr angetan vom feschen Fritz, es bleibt aber alles in der Schwebe und einem ehrenhaften Rahmen. Am Ende tritt Friedrich Schiller sogar als eine Art Ehestifter in Erscheinung. Dem künftigen Bräutigam der Johanne Justine Segedin gibt er auf den Weg: Junger Freund – ich habe das Meinige getan – tun Sie das Ihre! Und gnad Ihne Gott, wenn Sie’s wo fehle lasse! Ich komm mit Siebemeilestiefel nach Dresde gelaufe!

Die Autorin lässt Schiller in einem abgemilderten Schwäbisch, die Gustl mit sächsischem Akzent sprechen. Anda von Smelding (eine Spekulation, die aufgrund des seltenen Familiennamens erlaubt sein mag) stand möglicherweise in verwandtschaftlicher Beziehung zu Horst Bogislaw von Smelding, einem populären Schauspieler im Dritten Reich, der unter anderem an geistesgeschichtlichen Schulungen für KZ-Personal teilnahm. In der Third Reich Collection der Washingtoner Library of Congress befindet sich ein Exemplar von Smeldings Volksstück das aus dem Besitz Adolf Hitlers stammt. Es enthält eine Widmung der Autorin für den „Führer“.

Johanne Justine Renner bekam zwei Söhne die früh starben, ihren Gatten überlebte sie um viele Jahre. Sie starb am 24. Juli 1856, 93-jährig, in Blasewitz. Nahe dem Dresdner Schillerplatz gibt es heute die Justinenstraße. Die Büste im Schillergarten, eine Skulptur am Blasewitzer Rathaus, sowie ein Kirchenfenster in der Blasewitzer Kirche erinnern an eine Persönlichkeit, die ebenso unversehens wie ungewollt in die Literaturgeschichte geriet.

Satt und leicht ermüdet verlassen wir den Schillergarten durch das Haupttor und kommen an der Gustel-Büste vorbei. Auf der unter der Figur angebrachten Tafel wird die erwähnte Passage aus dem Wallenstein zitiert und wir erfahren, dass diese Steinbildhauerei erst 2015 aufgestellt wurde und an das schwere Hochwasser von 2013 erinnern soll. Von hier sind es nur wenige Schritte zum verkehrsreichen Schillerplatz. Die Straßenbahn bringt uns zurück ins Zentrum der schönen Stadt an der Elbe.

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Schiller, Friedrich: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Band 4. – Frankfurt am Main, 2000

Schiller und die Gustl von Blasewitz. Legenden und Wirklichkeit um Johanne Justine Renner. Auf www.dresden-blasewitz.de, abgerufen am 26. 9. 2019.

Safranski, Rüdiger: Schiller. – München, 2004

Damm, Sigrid: Das Leben des Friedrich Schiller. Eine Wanderung. – Frankfurt am Main und Leipzig, 2004

Smelding, Anda von: Die Gustel von Blasewitz. Volksstück in einem Vorspiel und vier Akten. – Berlin, 1935 (Neue deutsche Volksspiele, Zweites Stück)

Darstellungen und Quellen zur Geschichte von Auschwitz. – Institut für Zeitgeschichte (Hrsg.). München, 2000