November Solchen Monat muß man loben: Keiner kann wie dieser toben, keiner so verdrießlich sein und so ohne Sonnenschein! Keiner so in Wolken maulen, keiner so mit Sturmwind graulen! Und wie naß er alles macht! Ja, es ist ′ne wahre Pracht. Seht das schöne Schlackerwetter! Und die armen welken Blätter, wie sie tanzen in dem Wind und so ganz verloren sind! Wie der Sturm sie jagt und zwirbelt und sie durcheinander wirbelt und sie hetzt ohn′ Unterlaß: Ja, das ist Novemberspaß! Und die Scheiben, wie sie rinnen! Und die Wolken, wie sie spinnen ihren feuchten Himmelstau ur und ewig, trüb und grau! Auf dem Dach die Regentropfen: Wie sie pochen, wie sie klopfen! Schimmernd hängt′s an jedem Zweig, einer dicken Träne gleich. Oh, wie ist der Mann zu loben, der solch unvernüft′ges Toben schon im voraus hat bedacht und die Häuser hohl gemacht; sodaß wir im Trocknen hausen und mit stillvergnügtem Grausen und in wohlgeborgner Ruh solchem Greuel schauen zu. Heinrich Seidel (* 25.06.1842, † 07.11.1906)

Dieses Gedicht gönnt sich eine eigene Sicht auf einen Monat, der sonst meist in Moll besungen wird. Verse eines Dichters, der dem herbstlichen Graugrauen letzte Farben entlocken kann, den Tristesse nicht schreckt, der immer Gutes sieht und im Zweifel auf Besseres hofft. Wohl dem, der so durchs Jahr kommt.
Heinrich Friedrich Wilhelm Karl Philipp Georg Eduard Seidel wurde am 25. Juni 1842 im mecklenburgischen Perlin geboren, einem kleinen Nest knapp 20 Kilometer südwestlich von Schwerin. Schon bald verkürzte sich der Vornamenreichtum des Pastorenkindes auf ein handliches Heinrich. Heinrich Seidel war das älteste von sechs Geschwistern. Als er heranwuchs, mussten sich die Eltern fragen, was wohl aus dem Sohn werden sollte. Das Gymnasium ertrug der Jüngling mit Unlust und schlechten Noten in den alten Sprachen. In den verzweigten Wegen des Schelfwerder war ich besser zu Hause als in den Irrgängen der lateinischen Grammatik, blickte er in seinen Erinnerungen zurück.
So musste er reichlich nacharbeiten, um das Polytechnikum in Hannover zu absolvieren und in die Berliner Gewerbeakademie aufgenommen zu werden. Während dieser Zeit wendete sich das Blatt: Mein Aufenthalt in der Stadt an der Leine hat zwei Jahre gewährt, die ich zu den glücklichsten meines Lebens zählte. Seidel wurde Ingenieur, und das kein ganz schlechter, er erwies sich als kreativ und originell, entwarf und konstruierte für die Bahn, unter anderem in Berlin das Dach des längst zerstörten Anhalter Bahnhofs. 1880 wechselte er die Kreativbranche und widmete sich fortan ganz der Schriftstellerei. Für ihn lag das nah’: “Konstruieren ist Dichten”, hab’ ich gesagt, als ich mich noch für die Werkstatt geplagt. Heute führ’ ich die Feder am Schreibtisch spazieren und sage “Dichten ist Konstruieren!”

Heinrich Seidel war Teil einer bemerkenswerten Familie. Schon der Vater Heinrich Alexander Seidel (1811 – 1861) hatte im geistlichen Amt gedichtet, wortgewaltige, ideenreiche Predigten, wie berichtet wurde, zudem allerhand Weltliches. Der Titel einer Abhandlung hieß Das Saufen, im Lichte des Evangeliums betrachtet. Was heute kurios erscheint, war damals der ernsthafte Versuch einer tiefschürfenden Exegese. Heinrich Junior und seine Frau Agnes (1856 – 1917) durften drei Söhne heranwachsen sehen. Der älteste, einmal mehr als Heinrich (Wolfgang) getauft, wurde ebenfalls Schriftsteller. Und er heiratete eine seiner Cousinen – keine geringere als die später recht bekannte und erfolgreiche Dichterin Ina Seidel.
Viel zu wenig kenne ich die Bäume, / Die vor meinem Fenster stehn und rauschen, / Viel zu selten baun sich meine Träume / Nester, um die Winde zu belauschen, / Und des Himmels Silberwolkenspiel / Gehn vorüber, ohne mich zu trösten – / Ganz vergessen habe ich so viele / Wunder, die mir einst das Herz erlösten.
Das Versäumnis heißt dieses Gedicht von Ina Seidel, das zeigt, dass sie wohl nicht über die heiter-naive Weltsicht des Schwiegervaters verfügte. Sie schrieb Gedichte, Romane und Erzählungen, neigte in ihren Werken zur Melancholie, sah sich in romantischer Nachfolge, verkörperte eine christlich konservative Haltung. Zu ihren bekanntesten Büchern gehört der umfangreiche Roman Das Wunderkind. Ein Sohn Inas und Heinrich III. wurde zur Abwechslung Georg genannt. Dieser Georg Seidel (1919 – 1992) begann unter dem Pseudonym Simon Glas in den 1950er-Jahren eine Autorenlaufbahn und versuchte sich durch den gewählten Namen bewusst von der familiären Tradition abzusetzen. Als Christian Ferber verfasste er allerdings eine Chronik mit dem Titel Die Seidels. Geschichte einer bürgerlichen Familie, die 1979 bei der DVA erschien.
Zurück zum mittleren Heinrich, dessen Novembergedicht der Anlass zu diesem Beitrag ist. Er war viel auf Reisen und liebte es, aus fernen Regionen fremdartige Samen mitzubringen, um sie im Berliner Boden heimisch werden zu lassen. Selbstironisch nannte er sich Florafälscher und Ansalber. Sprachspielereien liebte er – wie diese: Dem Ingenieur ist nichts zu schwer. Wahrscheinlich hätte es ihn gefreut, dass diese Redewendung in leicht abgewandelter Form selbst im 21. Jahrhundert noch in aller Munde sein würde. Dafür gesorgt hat die promovierte Kunsthistorikerin Erika Fuchs, die sich mit der Eindeutschung von Donald Duck und Mickey Mouse Comics einen Namen gemacht hatte. Sie legte der Zeichenfigur Daniel Düsentrieb in die Sprechblase: Dem Ingeniör ist nichts zu schwör.
Heinrich Seidel schrieb Märchen, Gedichte, verfasste Kinderbücher und eine Autobiographie mit dem Titel Von Perlin nach Berlin. Sein bekanntestes Erzählwerk wurde der Episodenroman Leberecht Hühnchen, erschienen in den Jahren 1882 – 1890. Die Hauptfigur dieser Prosaidyllen ist ein Lebenskünstler, der sich und seine Familie dank seines skurrilen Humors, seines sonnigen Gemüts und dank seiner Fähigkeit, jede Lebenslage in rosigem Licht zu sehen, mehr schlecht als recht durch den entbehrungsreichen Alltag bringt.
Der beste Freund Hühnchens, der hin und wieder ins laufende Geschehen tritt, ist unschwer als der Verfasser zu erkennen, schließlich sind die beiden Seelenverwandte. Der Autor ist also gleichzeitig Protagonist seiner Schilderungen. Gar nicht unmodern ist das Bemühen und die Bereitschaft Leberecht Hühnchens, Bescheidenheit zum Maßstab seines Handelns und Konsumierens zu machen, hilfreich und vielleicht sogar zum Vorbild taugend, seine Veranlagung, Anfechtungen der Realexistenz mit einer positiven Grundhaltung zu begegnen. In der Beschränkung zeigt sich der Meister, ist Leberecht überzeugt. Das Buch verkaufte sich gut. In den ersten 50 Jahren erreichte die Auflage über 300.000 Exemplare und bis heute ist es in einer Insel Taschenbuchausgabe lieferbar, sowie in einer ausgesprochen wohlfeilen E-Book-Version.
Der Dichter und Ingenieur Heinrich Friedrich Wilhelm Karl Philipp Georg Eduard Seidel starb am 7. November 1906 in Groß-Lichterfelde, längst ein Teil des Kosmos Groß-Berlin. Er ruht in einem Ehrengrab auf dem Alten Friedhof in der Moltkestraße.