Die Kinderbuchbrücke von Jella Lepman liegt in einer Neuausgabe vor. Das Buch erzählt, wie die Internationale Jugendbibliothek in München entstand.
Von Hitlers Tausendjährigem Reich blieb nach dem verheerenden Krieg, den seine Vernichtungs- und Großmachtphantasien ausgelöst hatten, ein Europa der Zerstörungen, Verwüstungen und Verunsicherungen zurück. Die Not war groß. Nicht nur in Deutschland lagen Millionen Wohnungen in Trümmern, irrten Vertriebene durch Städte und Landschaften. Heere von Kriegsgefangenen in Ost und West, fast jede Familie hatte Gefallene, Verschollene, Versehrte zu beklagen. Allerorten ruinierte Infrastruktur, fehlende Verkehrswege, Engpässe bei der Versorgung mit dem Nötigsten.
In Deutschland würde man später von der Stunde Null schreiben. Gute Gründe, auf eine bessere Zukunft, die Linderung der Not zu hoffen, gab es wenige. Dass Schulen und Universitäten, Archive und Bibliotheken geplündert, zerstört, häufig unbenutzbar geworden waren, schien auf den ersten Blick zu den geringeren Übeln zu gehören. Doch über alle existenziellen Sorgen hinaus gab es dieses nie völlig erloschene Verlangen nach mehr als sättigenden Mahlzeiten, sicheren Unterkünften, bescheidenem Auskommen. Ein vages Sehnen nach geistiger Nahrung, nach Bildung, ja vielleicht sogar ein klein wenig ablenkender Unterhaltung. Nie hat irgend ein Krieg diesen Rest Humanität abtöten können.
Zu den ersten die das erkannten und mit Empathie und Einfallsreichtum Initiativen starteten, die dazu beitrugen zumindest in einem bescheidenen Umfang, mit einfachen Mitteln, für Wiederaufbau und Neuausrichtung zu sorgen, gehörte Jella Lepman. Sie kam 1891 als Jella Lehmann in Stuttgart zur Welt, wuchs in einem liberalen jüdischen Elternhaus auf, besuchte zunächst in der württembergischen Hauptstadt die Schule, später ein Internat in der Schweiz. 1913 heiratete sie den Fabrikanten Gustav Lepman, der bereits 1922 an seinen Verletzungen aus dem Ersten Weltkrieg verstarb. Jella Lepman begann für das Stuttgarter Neue Tagblatt zu schreiben und wurde die erste weibliche Redakteurin der Zeitung. 1932 wegen ihrer jüdischen Abstammung entlassen, emigrierte sie mit ihren beiden Kindern nach England.
An der Cambridge University Library bearbeitete sie den Nachlass Arthur Schnitzlers, arbeitete in London für die BBC und später für die American Broadcasting Station in Europe (ABSIE). 1945 beauftragte die US-Militärregierung der deutschen Besatzungszone die inzwischen anerkannte Kinder- und Jugendbuchexpertin mit dem Entwurf von Konzepten zur „Reeducation“ von Frauen, Kindern und Jugendlichen im Nachkriegsdeutschland.
Auf einer Rundreise durch Süddeutschland ermittelte Lepman den Status Quo und bilanzierte, dass es an ganz elementaren Dingen im Bereich Bildung und Ausbildung, Aufklärung und demokratischer Grundschulung fehlte. Eine Wanderausstellung mit Kinder- und Jugendbüchern aus vielen Ländern sollte als bescheidener Anfang eine konstituierende Veränderung einleiten. In einem ersten Schritt konnten für das Vorhaben 4.000 Bücher aus 14 Ländern als Spenden eingeworben werden.
Sie bildeten den Grundstock für die spätere Internationale Jugendbibliothek (IJB) in München, die am 14. September 1949 eröffnet wurde. Als Trägerin fungierte zunächst die 1948 von Jella Lepman initiierte Vereinigung der Freunde der Internationalen Jugendbibliothek e. V. Zahlreiche Menschen, prominente und weniger bekannte Zeitgenossen, hatten Lepman auf ihrem Weg unterstützt. Neben Persönlichkeiten der amerikanischen und englischen Besatzungsmächte, zählten von deutscher Seite, neben Erich Kästner und Golo Mann, der spätere Bundespräsident Theodor Heuss und seine Gattin Elly Heuss-Knapp dazu. Kästner, der zu den treibenden Kräften und frühen Unterstützern des Vorhabens gehörte, übergab das Haus mit einer launigen Eröffnungsrede an die eigentlichen Besitzer der großen Bibliothek: Die Kinder und Jugendlichen vor Ort, in München, Bayern und der ganzen Welt.
Die spannende Entstehungsgeschichte der IJB, sowie ihre persönliche Rolle auf dem Weg zu dieser heute international einmaligen Institution, schilderte Jella Lepman in einem Buch, das unter dem Titel Die Kinderbuchbrücke erstmals 1964 veröffentlicht wurde. Darin erzählt sie, wie alles mit der erwähnten Wanderausstellung begann. Erste Station war das Haus der Kunst in München, es folgten weitere unter anderem in Frankfurt am Main und West-Berlin. Pläne, die Exponate auch im sowjetischen Sektor, also der späteren DDR, zu zeigen, zerschlugen sich nach entsprechenden Signalen aus Moskau. Dabei wurde von Anfang an die globale Ausrichtung des Vorhabens betont. Das blieb so, als aus der Wanderausstellung schließlich eine stationäre Einrichtung wurde: die Internationale Jugendbibliothek (IJB) in München. Dass Lepmans Rückblick nicht ganz ohne kleine Selbstgefälligkeiten auskommt, sieht man ihr gerne nach. Das Geleistete bleibt außergewöhnlich.
Die Erstausgabe der Kinderbuchbrücke wurde bei S. Fischer verlegt, eine englische Ausgabe folgte 1969. Nachdem das Buch lange vergriffen war, erschien im letzten Jahr eine komplett neu gestaltete Ausgabe beim Münchener Verlag Kunstmann. Herausgegeben von der IJB und bearbeitet von Anna Becchi, die Lepmans Schilderungen um einen Lebensabriss der engagierten Frau erweiterte. Umfangreiche kommentierende Anmerkungen im Anhang erleichtern die zeitgeschichtliche Zuordnung. So ganz nebenbei ist dieser Band auch eine Art Kultur- und Sozialgeschichte der bundesdeutschen Nachkriegsjahre aus einem ganz besonderen Blickwinkel. Die vielen schwarzweißen Fotografien verraten den genauen Betrachtern interessante zusätzliche Details und gewähren immer wieder einmal überraschende Einblicke in Lepmans Umfeld, in dem bekannte und weniger bekannte Männer und Frauen der Nachkriegs-Jahrzehnte zu entdecken sind. Die Neuausgabe ist hochwertig ausgestattet, ihre fröhlich-farbige Umschlaggestaltung wurde von der bekannten Kinderbuchautorin und -illustratorin Rotraut Susanne Berner besorgt; das macht aus dem informativen Band ein optisch sehr attraktives Druckwerk.
Der Bestand der Internationalen Jugendbibliothek war bis 2020 auf über 650 000 Medieneinheiten angewachsen, 250 Sprachen sind vertreten. Es ist die weltweit umfangreichste Sammlung auf diesem Gebiet. Dem Haus überließ Michael Ende einen Teil seines Nachlasses, ihm ist innerhalb der IJB ein kleines Museum gewidmet. Von James Krüss, Hans Baumann und Mirjam Pressler, um nur einige stellvertretend zu nennen, kamen ebenfalls Teilsammlungen und Nachlässe nach München. So hat sich die Einrichtung inzwischen zu einer viel gefragten und frequentierten Forschungseinrichtung entwickelt. Seit 2013 wird alle zwei Jahre der James-Krüss-Preis für internationale Kinder- und Jugendliteratur vergeben.
Jella Lepman schrieb selbst mehrere Kinderbücher, gab Sammlungen von Kindergeschichten heraus, darunter eine mehrbändige Ausgabe von Gutenachtgeschichten, die sie über die Jahre zusammengetragen hatte. Ihre eigenen Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. Erich Kästner regte sie zu dessen kindgerechtem Friedensaufruf Konferenz der Tiere an. Bis 1957 blieb Lepman die erste Direktorin der IJB. Bei ihrem Abschied wurde sie mit dem Bundesverdienstkreuz 1. Klasse ausgezeichnet. Im Ruhestand zog sie nach Zürich, weil sie in der Stadt ein Umfeld aus Bekannten und Freunden vorfand. Dort starb Jella Lepman im Oktober 1970 im Alter von 79 Jahren.
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Lepman, Jella: Die Kinderbuchbrücke. – Hrsg. von der Internationalen Jugendbibliothek unter Mitarb. von Anna Becchi. – München : Kunstmann, 2020