„Lassen Sie uns bei den Kindern anfangen …“

Die Kinderbuchbrücke von Jella Lepman liegt in einer Neuausgabe vor. Das Buch erzählt, wie die Internationale Jugendbibliothek in München entstand.

Von Hitlers Tausendjährigem Reich blieb nach dem verheerenden Krieg, den seine Vernichtungs- und Großmachtphantasien ausgelöst hatten, ein Europa der Zerstörungen, Verwüstungen und Verunsicherungen zurück. Die Not war groß. Nicht nur in Deutschland lagen Millionen Wohnungen in Trümmern, irrten Vertriebene durch Städte und Landschaften. Heere von Kriegsgefangenen in Ost und West, fast jede Familie hatte Gefallene, Verschollene, Versehrte zu beklagen. Allerorten ruinierte Infrastruktur, fehlende Verkehrswege, Engpässe bei der Versorgung mit dem Nötigsten.

In Deutschland würde man später von der Stunde Null schreiben. Gute Gründe, auf eine bessere Zukunft, die Linderung der Not zu hoffen, gab es wenige. Dass Schulen und Universitäten, Archive und Bibliotheken geplündert, zerstört, häufig unbenutzbar geworden waren, schien auf den ersten Blick zu den geringeren Übeln zu gehören. Doch über alle existenziellen Sorgen hinaus gab es dieses nie völlig erloschene Verlangen nach mehr als sättigenden Mahlzeiten, sicheren Unterkünften, bescheidenem Auskommen. Ein vages Sehnen nach geistiger Nahrung, nach Bildung, ja vielleicht sogar ein klein wenig ablenkender Unterhaltung. Nie hat irgend ein Krieg diesen Rest Humanität abtöten können.

Zu den ersten die das erkannten und mit Empathie und Einfallsreichtum Initiativen starteten, die dazu beitrugen zumindest in einem bescheidenen Umfang, mit einfachen Mitteln, für Wiederaufbau und Neuausrichtung zu sorgen, gehörte Jella Lepman. Sie kam 1891 als Jella Lehmann in Stuttgart zur Welt, wuchs in einem liberalen jüdischen Elternhaus auf, besuchte zunächst in der württembergischen Hauptstadt die Schule, später ein Internat in der Schweiz. 1913 heiratete sie den Fabrikanten Gustav Lepman, der bereits 1922 an seinen Verletzungen aus dem Ersten Weltkrieg verstarb. Jella Lepman begann für das Stuttgarter Neue Tagblatt zu schreiben und wurde die erste weibliche Redakteurin der Zeitung. 1932 wegen ihrer jüdischen Abstammung entlassen, emigrierte sie mit ihren beiden Kindern nach England.

An der Cambridge University Library bearbeitete sie den Nachlass Arthur Schnitzlers, arbeitete in London für die BBC und später für die American Broadcasting Station in Europe (ABSIE). 1945 beauftragte die US-Militärregierung der deutschen Besatzungszone die inzwischen anerkannte Kinder- und Jugendbuchexpertin mit dem Entwurf von Konzepten zur „Reeducation“ von Frauen, Kindern und Jugendlichen im Nachkriegsdeutschland.

Auf einer Rundreise durch Süddeutschland ermittelte Lepman den Status Quo und bilanzierte, dass es an ganz elementaren Dingen im Bereich Bildung und Ausbildung, Aufklärung und demokratischer Grundschulung fehlte. Eine Wanderausstellung mit Kinder- und Jugendbüchern aus vielen Ländern sollte als bescheidener Anfang eine konstituierende Veränderung einleiten. In einem ersten Schritt konnten für das Vorhaben 4.000 Bücher aus 14 Ländern als Spenden eingeworben werden. 

(Mit freundlicher Genehmigung der Internationalen Jugendbibliothek (IJB), München)

Sie bildeten den Grundstock für die spätere Internationale Jugendbibliothek (IJB) in München, die am 14. September 1949 eröffnet wurde. Als Trägerin fungierte zunächst die 1948 von Jella Lepman initiierte Vereinigung der Freunde der Internationalen Jugendbibliothek e. V. Zahlreiche Menschen, prominente und weniger bekannte Zeitgenossen, hatten Lepman auf ihrem Weg unterstützt. Neben Persönlichkeiten der amerikanischen und englischen Besatzungsmächte, zählten von deutscher Seite, neben Erich Kästner und Golo Mann, der spätere Bundespräsident Theodor Heuss und seine Gattin Elly Heuss-Knapp dazu. Kästner, der zu den treibenden Kräften und frühen Unterstützern des Vorhabens gehörte, übergab das Haus mit einer launigen Eröffnungsrede an die eigentlichen Besitzer der großen Bibliothek: Die Kinder und Jugendlichen vor Ort, in München, Bayern und der ganzen Welt.

Die spannende Entstehungsgeschichte der IJB, sowie ihre persönliche Rolle auf dem Weg zu dieser heute international einmaligen Institution, schilderte Jella Lepman in einem Buch, das unter dem Titel Die Kinderbuchbrücke erstmals 1964 veröffentlicht wurde. Darin erzählt sie, wie alles mit der erwähnten Wanderausstellung begann. Erste Station war das Haus der Kunst in München, es folgten weitere unter anderem in Frankfurt am Main und West-Berlin. Pläne, die Exponate auch im sowjetischen Sektor, also der späteren DDR, zu zeigen, zerschlugen sich nach entsprechenden Signalen aus Moskau. Dabei wurde von Anfang an die globale Ausrichtung des Vorhabens betont. Das blieb so, als aus der Wanderausstellung schließlich eine stationäre Einrichtung wurde: die Internationale Jugendbibliothek (IJB) in München. Dass Lepmans Rückblick nicht ganz ohne kleine Selbstgefälligkeiten auskommt, sieht man ihr gerne nach. Das Geleistete bleibt außergewöhnlich. 

Die Erstausgabe der Kinderbuchbrücke wurde bei S. Fischer verlegt, eine englische Ausgabe folgte 1969. Nachdem das Buch lange vergriffen war, erschien im letzten Jahr eine komplett neu gestaltete Ausgabe beim Münchener Verlag Kunstmann. Herausgegeben von der IJB und bearbeitet von Anna Becchi, die Lepmans Schilderungen um einen Lebensabriss der engagierten Frau erweiterte. Umfangreiche kommentierende Anmerkungen im Anhang erleichtern die zeitgeschichtliche Zuordnung. So ganz nebenbei ist dieser Band auch eine Art Kultur- und Sozialgeschichte der bundesdeutschen Nachkriegsjahre aus einem ganz besonderen Blickwinkel. Die vielen schwarzweißen Fotografien verraten den genauen Betrachtern interessante zusätzliche Details und gewähren immer wieder einmal überraschende Einblicke in Lepmans Umfeld, in dem bekannte und weniger bekannte Männer und Frauen der Nachkriegs-Jahrzehnte zu entdecken sind. Die Neuausgabe ist hochwertig ausgestattet, ihre fröhlich-farbige Umschlaggestaltung wurde von der bekannten Kinderbuchautorin und -illustratorin Rotraut Susanne Berner besorgt; das macht aus dem informativen Band ein optisch sehr attraktives Druckwerk.

Der Bestand der Internationalen Jugendbibliothek war bis 2020 auf über 650 000 Medieneinheiten angewachsen, 250 Sprachen sind vertreten. Es ist die weltweit umfangreichste Sammlung auf diesem Gebiet. Dem Haus überließ Michael Ende einen Teil seines Nachlasses, ihm ist innerhalb der IJB ein kleines Museum gewidmet. Von James Krüss, Hans Baumann und Mirjam Pressler, um nur einige stellvertretend zu nennen, kamen ebenfalls Teilsammlungen und Nachlässe nach München. So hat sich die Einrichtung inzwischen zu einer viel gefragten und frequentierten Forschungseinrichtung entwickelt. Seit 2013 wird alle zwei Jahre der James-Krüss-Preis für internationale Kinder- und Jugendliteratur vergeben.

Jella Lepman schrieb selbst mehrere Kinderbücher, gab Sammlungen von Kindergeschichten heraus, darunter eine mehrbändige Ausgabe von Gutenachtgeschichten, die sie über die Jahre zusammengetragen hatte. Ihre eigenen Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. Erich Kästner regte sie zu dessen kindgerechtem Friedensaufruf Konferenz der Tiere an. Bis 1957 blieb Lepman die erste Direktorin der IJB. Bei ihrem Abschied wurde sie mit dem Bundesverdienstkreuz 1. Klasse ausgezeichnet. Im Ruhestand zog sie nach Zürich, weil sie in der Stadt ein Umfeld aus Bekannten und Freunden vorfand. Dort starb Jella Lepman im Oktober 1970 im Alter von 79 Jahren.

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Lepman, Jella: Die Kinderbuchbrücke. – Hrsg. von der Internationalen Jugendbibliothek unter Mitarb. von Anna Becchi. – München : Kunstmann, 2020

Über die Freuden literaturhistorischen Forschens

Am Beispiel von Hermann Hesses Beziehung zur schwäbischen Donaustadt Ulm

Ein Gastbeitrag von Bernd Michael Köhler (*)

Die einzigartigen, i.d.R. männlichen Figuren, die Hermann Hesse (1877 – 1962) in seinen Prosawerken erschuf, vermitteln dem Leser, der Leserin in exemplarischen Entwicklungsgeschichten Wesentliches über die menschliche Existenz und das menschliche Miteinander: der unglückliche Schüler Hans Giebenrath in Unterm Rad, der von Ängsten und Schuldgefühlen geplagte Elfjährige in Kinderseele, der vagabundierende Außenseiter Knulp, der Maler Klingsor in seinem letzten Sommer, der junge Emil Sinclair auf der Suche nach sich selbst im Dialog mit Demian, der den Sinn des Lebens suchende Siddhartha, der Steppenwolf Harry Haller, das polare Menschenpaar Narziß und Goldmund, die geheimnisvollen Morgenlandfahrer, schließlich der Magister Ludi Josef Knecht im Glasperlenspiel. Über diese und weitere vom Dichter modellhaft kreierte Figuren und deren Agieren und Interagieren in der Welt erfährt man nicht nur viel über die Kunst des Geschichtenerzählens. Man bekommt darüber hinaus Einblick in die ewigen Kreisläufe von Gelingen und Scheitern, von Voranschreiten und Zurückweichen, sowie die zahllosen Abstufungen zwischen diesen Gegensätzen.

Illustrierte Liebhaberausgabe der Büchergilde Gutenberg. – Foto: Bernd Michael Köhler

Am Beispiel Hermann Hesses möchte ich zeigen, wie reizvoll es sein kann, sich intensiv mit bisher weniger oder gar unbeachteten Aspekten aus Leben und Werk einer bekannten Schriftstellerpersönlichkeit zu befassen. Es zeigt, wie sich die Einschätzung des Literaten aus Montagnola, der in der akademischen Welt längst nicht die Aufmerksamkeit findet wie z.B. ein Thomas Mann, dadurch verändern und weiterentwickeln kann. Nämlich dann, wenn Fragestellungen untersucht werden, die unter Zuhilfenahme der bekannten Primär- und Sekundärliteratur bisher nicht zu beantworten waren. Aus der rein rezipierenden Haltung entwickelt sich ein neugieriger, fragender Blick, dem schließlich die forschende Tätigkeit folgt. 

Vor dem Hintergrund jahrzehntelanger Auseinandersetzung mit Hermann Hesse rückte bereits vor einiger Zeit Hesses Lesung im Ulm des Jahres 1925 in den Fokus (eine zweite Ulmer Lesung folgte 1929). Sie spielt in der autobiographischen Erzählung Die Nürnberger Reise (1927 erschienen) eine nicht unbedeutende Rolle. Bereits während meiner aktiven Zeit als Bibliothekar in der Ulmer Universitätsbibliothek hatte ich einiges Material zu dieser Lesung und den beteiligten Personen zusammengetragen. In intensiven Gesprächen und Diskussionen mit meinem Berufskollegen und Co-Autor Jan Haag, Betreiber des Literaturblogs con=libri, zeichnete sich schließlich ein Projekt ab, das in die Publikation eines Buches über Hermann Hesse und seine besondere Beziehung zu Ulm mündete.

Unser primäres Interesse galt zunächst der Identifizierung des in der Nürnberger Reise ohne Namensnennung erwähnten wichtigsten Ulmer Freundes von Hermann Hesse. So lernten wir Eugen Zeller (1871 – 1953) kennen, von dem bald ersichtlich wurde, dass es sich bei ihm um eine bedeutende Ulmer Persönlichkeit gehandelt hatte. Das kleine private Projekt weitete sich schließlich zu einer umfassenden Forschungsarbeit aus, bei der wir nicht zuletzt von unserem bibliothekarischen Know-how profitieren konnten. 

Die systematische Recherche nach einschlägigen Quellen zum Thema Hermann Hesse und Ulm brachte erstaunliche Ergebnisse hervor, die in der Gesamtbewertung schließlich Hesses besondere Bindung an das alte Ulm und seine Ulmer Freunde belegten.

Im langwierigen Prozess der Ermittlung und Beschaffung auch bisher in der Hesse-Forschung nicht bekannter Quellen hoben wir Aspekte einer weit zurückliegenden Zeit Schritt für Schritt in die Gegenwart. Eugen Zeller, anfangs nur ein Name mit knappsten biographischen Angaben, nahm mit jedem neu aufgefundenen Dokument immer mehr Gestalt an, weitere Freunde und Bekannte aus Hesses Ulmer Beziehungsgeflecht konnten identifiziert und ihr persönliches Verhältnis zum Dichter beschrieben werden. Sein Ulmer Gastgeber Eugen Link (1883 – 1973), die schwäbische Dichterin Maria Müller-Gögler, die Journalistin und Autorin Johanne von Gemmingen, Prof. Wilhelm Häcker in Blaubeuren nahe Ulm und einige andere mehr. 

Immer wieder gab es spannende Momente, wenn etwa beim Lesen eines neu entdeckten Zeitzeugenberichtes der Dichter und seine Freunde im Ulm der Vorkriegszeit vor dem inneren Auge Gestalt annahmen, wie bei Eugen Zellers Willkommensartikel in der Donauwacht anlässlich der Lesung am 3. November 1925 mit einem ausführlichen Rückblick auf den ersten gemeinsam in Ulm verbrachten Tag im April 1904.

2018 im Verlag Klemm+Oelschläger erschienen. – Foto: Bernd Michael Köhler

Nach Beendigung dieser literaturhistorischen Arbeit, nach Fertigstellung eines Werkes oder Werkteiles, nach intensiver Beschäftigung mit Vergangenem aus der Welt der Literatur, meldet sich gerne ein Bedürfnis nach dem Hier und Jetzt. Im Falle Hermann Hesses nach dessen Erscheinungsformen in der Gegenwart.

Im Februar 2020 kam die Verfilmung von Narziß und Goldmund durch den Oscar-Preisträger Stefan Ruzowitzky in die Kinos. Der erste Lockdown der Corona-Pandemie bescherte dem Freundespaar Narziß und Goldmund nur eine kurze Laufzeit auf der Leinwand. Immerhin ist der zweistündige Film inzwischen als DVD und Blue-ray-Disc zu bekommen. 

Im Oktober 2020 ist der Band 6 der auf 10 Bände angelegten und von Volker Michels herausgegebenen großen Werkausgabe Die Briefe unter dem Titel „Große Zeiten hinterlassen große Schutthaufen“ erschienen. Über 500 Briefdokumente aus den Jahren 1940 – 1946, davon die meisten bisher unveröffentlicht, laden ein, den Dichter und sein Denken und Handeln vor allem während der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges und der Diktatur des NS-Regimes noch einmal neu kennenzulernen. Beginnend mit der Durchsicht und Überprüfung der Register des neuen Bandes. Was ist zu finden über Ulm, Neu-Ulm, Eugen Zeller, Eugen Link und Co.?

„Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden“, wie Hermann Hesse es in seinem wohl bekanntesten Gedicht zum Ausdruck bringt und wie es auch für die Freude am Suchen und Forschen gelten kann.        

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In der Folge für alle Interessierten eine Auflistung der verwendeten Schrifttumsarten und Recherchegattungen, sowie weiterer Hinweise.

  • Lokal- und Regionalliteratur 
  • Primär- und Sekundärliteratur zu Hesse (selbstständige und unselbstständige Literatur)
  • Archivalien
  • Bibliothekskataloge
  • Einsichtnahme von zum Thema passenden Systemstellen in Bibliotheken
  • Metakataloge  
  • Bibliotheksportale (KatalogPlus)
  • Landesbibliographien
  • Nationalbibliographien (i.d.R. die Kataloge der Nationalbibliotheken)
  • Fachbibliographien
  • Fachdatenbanken
  • Findbücher
  • Volltextdatenbanken urheberrechtsfreier Medienformen
    Beispiel: In den Digitalen Sammlungen der SLUB Dresden konnten erstmals Nachweise von bisher unbekannten Zeitungsartikeln rund um das Erscheinen von Hesses Erzählung Narziß und Goldmund im Jahre 1930 gefunden werden sowie weitere neue Quellen. Auch die Artikelkopie einer Rezension von Narziß und Goldmund ohne Quellenangabe konnte über die Dresdner Datenbank verifiziert sowie der in der Fachliteratur vermerkte Erscheinungsmonat Juli auf Anfang April korrigiert werden. 
  • Volltextdatenbanken Periodika
    Beispiel: Erstmaliger Nachweis von Lesungen in Prag 1905 und Wien 1912 über ANNO (AustriaN Newspapers Online)

3 Zeitungsartikel zu Hesses vermuteter Lesung am 12.11.1905 in Prag erstmals nachgewiesen. Hier: Prager Tagblatt vom 12.11.1905, S. 33.

  • Zentrale Nachweisportale (Zeitschriftendatenbank, Elektronische Zeitschriftenbibliothek, Datenbank-Infosystem)
  • Internetquellen
  • Suchmaschinen
    Beispiel: über Google erstmaliger Nachweis des Berichtes einer Zeitzeugin über eine Lesung Hermann Hesses während des zweiwöchigen Sommerkurses der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit im Schweizerischen Lugano am 21. August 1922. Der Dichter trug die zwei letzten Kapitel aus der zu diesem Zeitpunkt noch unveröffentlichten indischen Dichtung Siddhartha vor sowie den Prosatext Bäume aus dem bebilderten Skizzenbuch Wanderung.                
  • Auswertung bisher unbekannter Quellen
  • Literaturverzeichnisse von Büchern, Aufsätzen u.a. 
  • Fußnoten 
  • Verwendung von Suchtechniken (Boolesche Operatoren u.a.)
  • Verwendung von Expertensuche, Advanced Search u.ä. 
  • Faktencheck
  • Beobachtung von Rezensionen (Perlentaucher u.ä.)
  • Themenzentrierte Aufmerksamkeit für Massenmedien
  • Literaturermittlung in vor-digitaler Zeit

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Haag, Jan; Köhler, Bernd Michael: Seien Sie gegrüßt, liebe Freunde in Ulm. Hermann Hesse und die schwäbische Donaustadt. Klemm + Oelschläger 2018

Limberg, Michael (Hrsg.): Autorenabende mit Hermann Hesse. Eine Dokumentation. Books on Demand 2016

Limberg, Michael: Hermann-Hesse-Literatur Jg. 1/2.1994/95 ff. Online-Ausgabe: Jahresverzeichnis der Hermann-Hesse-Literatur Jg. 1.1994 ff. http://hesse.projects.gss.ucsb.edu/publications/limberg.html

 

(*) Bernd Michael Köhler ist Bibliothekar, Buch- und Literaturliebhaber. Aufgewachsen am Fuße des Westerwaldes ist er seit einigen Jahrzehnten in der Doppelstadt Ulm/Neu-Ulm beheimatet. Lebensbegleitend beschäftigt er sich mit Hermann Hesse, schreibt und fotografiert gerne.

Zehn zahme Ziegen zogen zehn Zentner Zucker zum Zoo

Von Zungenbrechern und einer Wunderkammer

Vor den coronabedingten Einschränkungen war ich in einer Kita Lesepate und Vorleser. Eine Aufgabe die mir viel Freude gemacht hat. Bevor ich den Kindern ein weiteres Kapitel aus der Kleinen Hexe, dem Räuber Hotzenplotz oder von Urmel aus dem Eis vorlas, trug ich meist ein lustiges (manchmal auch ein ernstes) Gedicht vor, das wir dann zusammen nachsprachen – mal schell und mal gaaanz laaangsam. Hin und wieder wählte ich an Stelle des Gedichts einen Zungenbrecher.

Etwa den Klassiker: Fischers Fritz fischt frische Fische, frische Fische fischt Fischers Fritze.

Ich sprach es den Vier- bis Sechsjährigen vor und ließ sie dann selbst wiederholen, so lange bis es einigermaßen korrekt klang. Oder eben nicht. Sondern wie Kauderwelsch oder wie mit der heißen Kartoffel im Mund. Ein Riesenspaß!

Auf der Suche nach neuen unsinnigen Lautmalereien machte ich das was heutzutage alle so machen würden. Ich gab in den Googleschlitz zunächst „Zungenbrecher für Kinder“ ein, später, das Ergebnis dieser ersten Suche war mager, beließ ich es beim allgemeinen „Zungenbrecher“. Die Trefferquote blieb spärlich und beschränkte sich fast ausschließlich auf Altbekanntes.

Entfallen war mir, dass, was mir weiterhelfen konnte, längst im heimischen Bücherregal wartete. Als es mir wieder einfiel, fand ich, dank konsequenter grobsystematischer Ordnung, inmitten der kleinen Abteilung „Sprache und Schreiben“ Die Wunderkammer der Deutschen Sprache. Ein wahrer Hausschatz, ein Schatzkästchen, das ultimative Werk für Menschen, die ihre Ausdrucksfähigkeit zu mehr als Imbissbudenbestellungen oder Fangesängen nutzen möchten.

Zungenbrecher gibt es auf den Seiten 140 und 141. Hier einer der kürzeren: Brauchbare Bierbrauerburschen brauen brausendes Braunbier.

Was diese Wunderkammer ausmacht, was sie bietet, womit sie lockt und reizt, erklärt ihr Untertitel: Gefüllt mit Wortschönheiten, Kuriositäten, Alltagspoesie und Episoden der Sprachgeschichte. Die logopädischen Stabreimereien machen nur eines der vielen erstaunlichen Kapitel des Buches aus. Über zwanzig verschiedene Kategorien werden geboten. Von der Alchemie des Deutschen, über Liebesbekundungen bis Zitate und, ja, eben Zungenbrechern. Im Detail finden sich originelle Sammlungen und kuriose Blickwinkel auf ein Deutsch, das aus dem Sprachbewusstsein und der Alltags-Kommunikation nahezu verschwunden ist.

Foto: Bernd Michael Köhler

Vergleichen wir doch einmal den Wortschatz der DDR mit dem des Großdichters Johann Wolfgang Goethe. Ergebnis: Es gibt keine Schnittmenge. Und wer weiß denn auf Anhieb, was Palindrome sind? Wörter, Sätze, die man von vorne und von hinten lesen kann und es bedeutet immer dasselbe: Rentner, Marktkram … Lagertonnennotregal … Lag er im Kajak? Mir egal! (Die Satzzeichen bleiben unberücksichtigt.)

Die Wunderkammer bietet kulinarische Aufklärung. Man erfährt – so man es denn wirklich wissen will – was es mit den Schillerlocken auf sich hat und warum bei Eisbein warme Socken nutzlos sind. Wollte ich schon immer die zehn Lieblingswörter der Schriftstellerin Karen Duve kennenlernen? Eigentlich nicht zwingend. Doch nun weiß ich, dass Badezimmerobst, Rokokokröte und Tollpatsch dazu gehören.

Vermutet hatte ich es längst, in der Wunderkammer finde ich es fundiert belegt. Das erste große Wörterbuch der Deutschen Sprache stammt nicht von den Grimms. Sondern von Johann Christoph Adelung (1732 – 1806). Erschienen in den Jahren 1774 bis 1786, fünf Bände mit 60.000 Artikeln, die Herkunft, Bedeutung und Verwendung der Worte erläutern. Der ehrgeizige Wilhelm (1786 – 1859) und der etwas verträumte Jacob (1785 – 1863) haben das natürlich übertreffen müssen: 33 Bände umfasst das Deutsche Wörterbuch der Brüder Grimm.

34.000 Seiten, 350.000 Stichworte und 600.000 Belegzitate. Jahrzehnte waren sie damit beschäftigt. Zur Erholung und zum Ausgleich sammelten sie in Kassels Umgebung Märchen, die nach heutigem Stand der Literaturpädagogik für kleinere Kinder nicht geeignet sind. Verbissen arbeiteten sie Jahrzehnte an ihrem Vorhaben ohne ans Ziel zu kommen: dem Zypressenzweig. Es waren weitere Generationen von germanistischen Wortsammlern am Werk, bevor endlich der letzte Band im Jahr 1961 in den Bibliotheken stand. (Längst gibt es Neuauflagen und Nachbearbeitungen.)

Heutigen Autoren und Autorinnen sei empfohlen gelegentlich bei den Grimms nachzuschlagen und die eigenen mageren Auslassungen mit saftigen Fundstücken aus der Grimm‘schen Wortwelt zu bereichern: Blitzzwiebelblau, busenwarm, Galanteriewarenhändler, Tollhausbibliothekar, lusttaumelnd, Quetschgesicht, wuppsen.

Jetzt ist es ja so, – und das nicht erst seit Corona – dass die Heimatzeitungen inhaltlich starken Abmagerungserscheinungen ausgesetzt sind. Je mehr die hauseigenen journalistischen Beiträge schwinden, umso kurioser die Versuche ohne Aufwand Fülle herzustellen. Seiten voller Grüße der Enkel an die Großeltern und umgekehrt, Geschichten, die die Leser und Leserinnen selbst schreiben müssen, Belanglosigkeiten und überdimensioniertes Bildmaterial statt recherchierter Berichte und wohl wägender Kommentare.

Dass in Zeiten von Home Office und in der eigenen Familie gestrandeten Kindern, die von didaktisch defizitären Eltern im Home Schooling traktiert werden, die Kinderseiten der gedruckten Tageszeitungen eine Renaissance erleben, gehört sicher zu den nicht ganz unerfreulichen Erscheinungen der Pandemie. Und siehe, war da dieser Tage in meinem Leib- und Lokalblättchen tatsächlich eine kwietschbunte Seite im traditionellen Großformat gefüllt mit Zungenbrechern zu entdecken.

Wie diesem typischen Beispiel: Putzige Pinguine packen pausenlos Pralinenpakete.

Noch ein letztes Mal zurück in die Wunderkammer und hinein in den Wortschatz der DDR. Der Einheitspartei war bereits damals die Einsickerung englischsprachiger Ausdrücke in die deutsche Sprache ein Dorn im Auge, insbesondere jenem der Volksbildungsministerin Margot Honecker. So wurde aus „Bodybuilding“ das klangschöne „Körperkulturistik“ und aus „Darts“ ein simples „Wurfspiel“. Die Frau Ministerin ihrerseits wurde angesichts der meist blau-violett schimmernden Haare als „Blaue Eminenz“ verhohnepiepelt.

Die Wunderkammer der Deutschen Sprache wurde von Thomas Böhm und Carsten Pfeiffer herausgegeben, die auch die kongeniale Auswahl besorgten. Sie wurde von 2xGoldstein (Rheinstetten) aufwändig gestaltet und ausgestattet, zweifarbig gedruckt und in Leinen gebunden bei Ebner & Spiegel in Ulm. Das 300 Seiten umfassende Werk liegt mir in der zweiten Auflage von 2020 vor. Es hat einen angemessenen Preis.

Böhm, Thomas; Pfeiffer Carsten (Hrsg.) Die Wunderkammer der Deutschen Sprache. Gefüllt mit Kuriositäten, Alltagspoesie und Episoden der Sprachgeschichte. – Berlin : Verlag Das Kulturelle Gedächtnis, 2. Aufl. 2020

 

(Der Verlag ist Preisträger des Deutschen Verlagspreises 2020)

P.S.: Zungenbrecher entfalten ihre volle Wirkung am besten, wenn man sie mehrmals schnell hintereinander spricht.

Die letzte Lesung

Blau karierte Tischdecke, Rotwein und Pizza Frutti di Mare. Der Kellner im perfekt sitzenden Anzug mit nobler Fliege. Den italienischen Akzent wird er sich antrainiert haben, denn er wurde vor zwei Generationen in Deutschland geboren. Er sorgt sich dieser Tage um ältere Verwandtschaft, die noch in der Gegend von Bergamo lebt. Meine vorerst letzte Pizza außer Haus in diesem so geliebten Ambiente.

Der Erika-Mann-Platz im Zentrum. Alte Linden in der Mitte, drumherum fidele Mischung aus historischem Bestand und sachlicher Funktionalität. Ort quirliger Urbanität. Cafès, Kneipen, Restaurants. An der südöstlichen Ecke die kleine Kultbuchhandlung. Wird mein letzter Besuch im Laden auf unabsehbar der letzte bleiben? Wenige hundert Meter weiter, hinter dem Rathaus, die Stadtbibliothek. Seit zwei Wochen sichtbares Symbol einer hermetischen Gesellschaft. Dreivier Romane liegen zuhause, sie waren weniger fesselnd als erwartet. Die Leihfrist verlängert bis Sankt Nimmerlein.

Die letzte Bierbestellung bei Charlotte, genannt Charly, seit vielen Jahren Stammkraft in meiner Altstadt-Stammkneipe. Wenn ich gewusst hätte, dass diese Halbe an diesem Ort die letzte sein würde für lange Zeit, wäre es an diesem Abend bestimmt nicht die letzte geblieben.

Ich verbringe viel Zeit mit Kindern und Frau, was natürlich schön ist, und trauere manchmal den Veranstaltungen nach, die jetzt gerade wären. Der Schriftsteller Ingo Schulze im Hessischen Rundfunk.

Ingo Schulze (l.), Foto: Wiebke Haag

Ingo Schulze war der bislang letzte Schriftsteller, den ich auf einer echten Lesung, leibhaftig und vor Ort mit reichlich Zuhörerschaft erleben durfte. Damals, es war der 12. März, eine durchaus riskante Angelegenheit, obwohl mir die Eintrittskarte von einem Latexhandschuh überreicht wurde und reichlich Desinfektionsmittel strategisch günstig positioniert zur allgemeinen Verfügung standen. Doch dann der überfüllte Saal, die stickige Luft – der Besuch der Veranstaltung wurde zur Herausforderung des Schicksals. Das alles nicht einmal das reinste Vergnügen. Bei stümperhafter Moderation mit hohem Fremdschämfaktor und einem gleichmütig reagierenden Schriftsteller, der viel zu lange Passagen aus dem neuen Roman las und damit den potentiellen zukünftigen Lesern einiges an möglicher Spannung nahm.

Mitte März 2020. Kommt mir vor als wäre es schon ewig her. Die Buchmessestadt Leipzig ohne Buchmesse. Leipzig in trister Stimmung, bei bedecktem Himmel, gelegentlichem Regen und auffrischendem Nordostwind. Die Lesung von Schulze war eines der wenigen Ereignisse die vom geplanten und längst sorgfältig vorbereiteten, die Buchmesse normalerweise begleitenden Mega-Event Leipzig liest übrig blieb. Nicht wenige Buchmenschen waren trotz Messeausfall und viraler Widrigkeiten nach Sachsen gekommen. (Es war kurz vor den Verboten und wohlmeinenden Verhaltensnormen – eine Zeitenwende vor heute.) Aus Solidarität mit den kleinen Verlagen, den unabhängigen Buchhändlern, den verblüfften Autoren und Autorinnen, die langsam erkannten, dass es ab sofort an die Fundamente ihrer materiellen Existenz gehen würde. Aus Sympathie zum Hotel in dem man seit Jahren entgegen der üblichen Messetrends stets wohlfeile und freundliche Aufnahme fand.

So viele Gutscheine können wir gar nicht verkaufen, sagen die Inhaber der kleinen Buchläden, so tolle Webshops nicht ins Netz stampfen, so viele Fahrradkuriere niemals aussenden, so viel auf Kosten der eigenen Gesundheit schuften, dass die jetzt eingetretenen Verluste kompensiert werden könnten. Camus Pest und Manns Tod in Venedig sind die Seuchenbestseller, die sie in günstigen Taschenbuchausgaben den Kunden vor die Quarantäne-Schleuse legen dürfen.

Seltsam im Freien zu Wandeln. Mit Misstrauen bedacht ein Jeglicher der entgegenkommt, schon vorab verdächtig der Bereitschaft die nunmehr geltenden Abstands- und Anstandsregeln zu verletzen. Die Folge ist verdrucktes, huschiges Aneinandervorbei. Wenige Schritte weiter springt ein Plakat ins Auge das Dank aus- und Solidarität verspricht, und im Ohr noch den Fernsehsprecher, der von Wellen der Hilfsbereitschaft weiß und dessen Sender versichert für EUCH, also für dich und mich, da zu sein.

Das letzte Buch gelesen. In der Krise plötzlich nicht mehr lesen können. … Ich spiele Scrabble mit einer App, ich schaue Netflix, ca. dreizehn Minuten. Dann falle ich in einen tiefen Schlaf. Es läuft ganz gut, dachte ich, aber heute ist so ein Tag, an dem der Rücken schmerzt, und alles reizt, jede Kleinigkeit, und ich nicht mehr mag, und ich das auch so gerne einfach so sagen möchte: Ich mag nicht mehr. (Die Schriftstellerin Lena Gorelik über den Alltag in der Isolation, mit Kinderbetreuung, Autorinnentätigkeit und vernachlässigten individuellen Bedürfnissen.)

Seltsam kommt es nun jenen vor die Enkel haben und denen nicht mehr nahe sein dürfen. Vorlesestunden mit kuscheligem Aneinander sind Vergangenheit. Datenfernkommunkation in Ton und Bild stellt keine wirklich genügende Ersatznähe her. Da muss in höchster Not und angesichts akutem Büchermangel der beliebte Logistikdienstleister DHL bemüht werden. Und so gehen Der Räuber Hotzenplotz, die einfallsreichen Geschichten und Bilder von Janosch, Der Maulwurf Grabowski zusammen mit vielen anderen spannenden Erzählungen und bunten Bilderwelten als Fünf-Kilo-Paket auf die Reise zu den Lieben, die geographisch nah, gleichzeitig unerreichbar sind. Seltsam auch das längst erwachsene Kind in einem anderen Land zu wissen, in dem die Menschen zwar die gleiche Sprache sprechen und das ungleich näher liegt als irgend ein sagenumwobenes Timbuktu, das jedoch, gleich dem eigenen Staat, Grenzen definiert, die Begegnungen mit Hüben oder Drüben ausschließen. 

Große Reiche vergehen, ein gutes Buch bleibt. Ich glaube an gut beschriebenes Papier mehr als an Maschinengewehre, lässt Lion Feuchtwanger sein alter ego Jacques Tüverlin im Roman Erfolg feststellen. Corona ist lautlos und hinterhältig, mikroskopisch klein und mit Literatur allein nicht zu besiegen, allenfalls besser zu ertragen. Es gilt die Zeit mit guten Büchern zu überbrücken, bis der Gegner mit den Waffen moderner medizinisch-biologischer Forschung in seine Schranken gewiesen werden kann. Dann wäre neu zu hoffen: Dass die emsige Buchhandlung im Städtchen wieder öffnet, der kleine unabhängige Lieblingsverlag noch existiert, eine nächste Buchmesse angekündigt wird. Und die Generationen wieder auf einem Lesesofa vereint sind.

Das Buch verschwindet!

Es unken die Unken, es pfeifen die Spatzen vom Flachdach und selbst die Verbandsfunktionäre glauben zu wissen: Das Buch verschwindet. Zumindest das gedruckte. Zuerst werden Gebrauchsanweisungen und Lehrbücher obsolet, bis schließlich auch die erzählende, sogenannte Schöne Literatur, der digitalen Übermacht erliegt.

Jene, die glauben es wissen zu müssen, versichern, dass nur die Digitalisierung helfen kann wenigstens die Inhalte zu sichern. Auf Speichermedien, in Clouds. Für alle Ewigkeit. Sicher und fest wie die strahlende Hinterlassenschaft des Atomstroms im Salzbergwerk. Verfügbar über alle Hard- und Softwaregenerationen hinweg. In sicherer Obhut von Microsoft, Google und Companie.

Die Märkte wissen wie immer Bescheid, die Wahrsagerin hat es längst gewusst, im Kaffeesatz steht es, selbst in Familien deren Mitglieder seit Jahrhunderten Buchhandel betreiben macht sich die Gewissheit breit: Das Buch verschwindet! Schließlich sagen uns aktuelle Statistiken, dass immer mehr Menschen immer weniger lesen. Dass der Absatz von Druckwerken von Jahr zu Jahr rückläufig ist.

Noch ist es nicht so weit. Derzeit zeugen sogar einige Trends scheinbar vom Gegenteil. Noch nie gab es so viele Lesefestivals, große und kleine Buchmessen, Tauschbörsen, offene Bibliotheken, Bibliotheksneubauten, junge Verlage, Autoren und Autorinnen. Doch dies sei ein letztes Aufflammen, Strohfeuer und ohnehin nur von Minderheiten wahrgenommen und frequentiert.

Es sei, so wieder die Statistiker, in dieser Hinsicht wie mit der Vermögensverteilung, immer weniger Menschen besitzen immer mehr. In unserem Fall vom Wirtschaftsgut Buch. Gut, wer kann sich bei der seit Jahren zu beobachtenden Preisentwicklung auf dem Wohnungsmarkt noch ein Heim leisten in dem Raum für meterlange Bücherregale ist? (Eine fundierte Untersuchung über die Wechselwirkungen von Wohnungs- und Buchmarkt ist überfällig.) So wird der Buchbesitz in Zukunft vielleicht zur Sache von Snobs und Begüterten. Zum Sammelgut, zur Wertanlage. Was weniger wird, wird wertvoll. Was wertvoll ist weckt Begierde.

Pädagogen, Bibliothekare, Traditionalisten der Branche und viele engagierte Leser stemmen sich dem Trend entgegen. Setzen auf Lesekompetenz, auf gut ausgestattete Bibliotheken und Archive. Betonen die Bedeutung des Vorlesens im frühen Kindesalter. Eltern, Großeltern, Paten und Freunde sind als Lesevorbilder gefragt. Von Kulturpolitikern, Schulen und Vorschulen wird Unterstützung finanzieller und struktureller Art gefordert.

Das sind Übergangsstadien, wird prognostiziert, die das endgültige Verschwinden allenfalls hinauszögern. Die Endzeit hat längst begonnen.

Foto: Wiebke Haag

Es wird anders kommen.

… als die Literatur beginnt, sich vom Atem des Menschen zu lösen und auf ein Trägermedium auszuwandern, beginnt sie sich gewissermaßen reisefertig zu machen. (Jürgen Wertheimer in Weltsprache Literatur)

Nach ersten Versuchen auf Steintafeln und Papyrusrollen erwies sich spätestens seit Gutenberg das gedruckte Buch als idealer Träger für alles was sich Menschen nicht nur mitteilen, sondern darüber hinaus für folgende Generationen bewahren wollten. Das Erzählen wird nicht aufhören solange es Bewohner auf diesem Planeten gibt. Wenn eines fernen oder auch näheren Tages dieses menschliche Erzählen längst an seinem Ende angekommen sein wird, wird es die niedergeschriebenen und in Satz und Druck wiedergegebenen Erzählungen immer noch geben.

Der große Widerspenstige unter den deutschen Schriftstellern des zwanzigsten Jahrhunderts, Arno Schmidt, hat dies zutiefst bedauert. Er setzte auf ein rasches Vergessenwerden nach seinem Tod, das schien ihm Erlösung. In seiner Erzählung TINA oder über die Unsterblichkeit schildert er in einer fiktiven Konstellation wie schrecklich es sein kann, wenn dies nicht eintritt.

Dichter und Dichterinnen landen nach ihrem Ableben in einem quälenden Hades. Sie möchten die unwirtliche Stätte so rasch wie möglich verlassen. Allerdings dürfen sie nicht, solange sie nicht komplett vergessen sind. Endgültig tot ist nur der, an den sich niemand mehr erinnert. Die Aussichten sind nicht allzu rosig. Solange noch 1 Exemplar eines ihrer Bücher vorhanden ist, besteht schon gar keine Aussicht. Während also heute immer mehr Zeitgenossen gegen das Vergessenwerden anschreiben (Wer schreibt der bleibt!), sind unseren Unterweltbewohnern ihre gedruckten Werke zum Verhängnis geworden.

Mit den Hinterbliebenen und den Büchern, die sich als unausrottbar erweisen, bleibt die Erinnerung. Es wird jedoch unumkehrbar eine Zeit kommen, da selbst diese entschwindet. Mit den Letzten der Menschheit. Auf dem entmenschlichten Planeten zurück bleiben Echsen und Ameisen, strahlenmutierte Riesenspinnen und zweiköpfige Ratten. Und unzählige verstreute Bücher. Seit Myriaden von Jahren ungelesen, unbeachtet, sich selbst und der Macht der Natur überlassen.

Martin Luther war sich bekanntlich sicher, stünde nächstentags der Weltuntergang bevor, würde er heute noch ein neues Apfelbäumchen pflanzen. Eine Mischung aus Verzweiflung, Hoffnung und Lebenskraft. In den letzten Jahrzehnten entdecken politisch junge Staaten ihr kulturelles Erbe und setzen auf Pflege und Bewahrung. Das Bild in diesem Artikel zeigt den 2015 fertig gestellten Neubau der lettischen Nationalbibliothek in Riga. Das von Gunnar Birkerts entworfene Gebäude beherbergt etwa fünf Millionen Medieneinheiten (ca. 2,5 pro Einwohner), überwiegend in gedruckter Form. Ein kühnes, mutiges Vorhaben, das Tradition bewahrt und Zukunft signalisiert.

„Kraft“ von Jonas Lüscher

Ein kurzer Blick auf den Klappentext und ich wusste, dass ich an diesem Buch nicht vorbeikomme: „Richard Kraft, Rhetorikprofessor in Tübingen …“ Ein Buch über einen fiktiven Nachfolger des legendären Walter Jens. Ein Buch also, wie für mich gemacht? Nicht ganz, denn schon nach wenigen Seiten war ich genau da, wo ich mit meiner aktuellen Lektüre nicht hinwollte. In den Vereinigten Staaten von Amerika. Die penetrante PR für zwei dickleibige Wälzer von dort hatten mich in den letzten Wochen eher abgeschreckt. Der Trend ist nun einmal nicht mein Freund. Mir war noch gut in Erinnerung, dass vor einem Jahr der neue Franzen längst nicht hielt, was die Werbetrommeln verkündet hatten.

Kraft hat eine beachtliche akademische Karriere absolviert, die ihn bis auf den renommierten Lehrstuhl in Tübingen und zu Kongressen und Vorträgen in der ganzen Welt brachte. Dennoch sieht er sich als gescheitert – sein Maßstab für Erfolg und Glück ist in erster Linie ein materieller. Geld bedeutet ihm Freiheit. Seine Freiheit hat er mit mehreren gescheiterten Ehen, den Kindern und den entstandenen finanziellen Verpflichtungen restlos eingebüßt. Die so entstandene, von ihm als nahezu ausweglos empfundene Situation macht er für seine nachlassende geistige Schaffenskraft und Kreativität verantwortlich. Er wartet auf einen Befreiungsschlag.

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Die Chance darauf tut sich auf in Form eines Wettbewerbs den ein us-amerikanischer IT-Unternehmer und Multi-Milliardär ausgeschrieben hat. Eine Million Dollar winken dem Gewinner eines Essay-Wettbewerbs. Dieser Aufsatz ist im direkten Wettstreit mit anderen Teilnehmern öffentlich zu präsentieren. Thema ist die Gottesfrage, auch als Theodizee-Problem bekannt. Warum lässt Gott das Schlechte auf der Welt zu? Kann Gott existieren, wenn der von ihm geschaffene Mensch so viel Böses anrichtet? Und wenn Gott existiert, warum verhindert er dann Kriege und Elend nicht? Die konkurrierenden Denker haben zudem nachzuweisen, warum die Welt gut ist wie sie ist.

Krafts Noch-Ehefrau strebt ebenfalls nach einer Zukunft ohne den Gatten. Sie bestärkt ihn in seinem Plan an der Ausschreibung teilzunehmen und bereits für die Vorbereitung nach Kalifornien zu reisen. „Geh, gewinne, bring uns das Geld nach Hause, damit wir alle wieder unsere Freiheit haben, hört Kraft Heike sagen, und dabei muss er an ihren Hallux denken.“

Bei der Familie des alten Freundes Ivan (Isztvan), einem Exil-Ungarn, findet er eine Bleibe und in einer der großzügigen Forschungsbibliotheken den adäquaten Arbeitsplatz. Doch die Arbeit will nicht recht gelingen. Immer mehr drängen sich Erinnerungen an den bisherigen Lebensweg und Reflektionen über vergebene Möglichkeiten in den Vordergrund. Kraft war stets glühender Anhänger einer libertären Wirtschaftsordnung. Ronald Reagan, Maggie Thatcher und Graf Lambsdorff hat er bewundert, vorübergehend an das geistig-moralische Wende-Versprechen Helmut Kohls geglaubt und den Kräften der Märkte vertraut. Die Begegnung mit dem real existierenden Unternehmertum, mit forschen Dienern des Kapitalwachstums, narzisstischen Waffenträgern und softwareentwickelnden Dauerpubertären, bringt sein Weltbild ins Wanken.

Diese ideologische Ausrichtung des Protagonisten gehört zu den Besonderheiten des Buches und unterscheidet es deutlich von den linksalternativen Lebensentwürfen hinter bodentiefen Fensterscheiben der Hauptstadt, die so häufig im Mittelpunkt der Werke gegenwärtiger Jungautoren stehen.

Zudem schreibt Jonas Lüscher hochklassisch. Bevorzugt lange, geduldig ausformulierte Sätze, bei realistischer Erzählweise und einer durchgängigen ironischen Distanz. Das Buch hat Witz. Etwa wenn Kraft bei seinem Ruderausflug auf unbekanntem Gewässer gegen guten Rat grandios Schiffbruch erleidet und diese Szenen stark an einen Segelausflug auf dem stürmischen Bodensee in Martin Walsers „Ein fliehendes Pferd“ erinnern.

Und wenn die hippe Lifestyle-Kultur solventer Nerds rund um das Silicon Valley auf die Schippe genommen wird. Da stehen sie in langer Reihe geduldig vor einem In-Lokal Schlange, um, endlich eingelassen, mit einem nach normalen Maßstäben eher bescheidenen Mahl abgespeist zu werden. „Die Mühsal der Speisenauswahl kann man sich hier sparen, es gibt nur ein Gericht. Kraft schaut etwas ratlos auf das mit goldbraunem Paniermehl überbackene Nudelgratin … Exakt achtzehn Minuten nachdem sie das Lokal betreten haben, stehen sie wieder auf der Valencia Street.“

In diesen achtzehn Minuten erläutert der einladende Mäzen Erkner seine Zukunftsvisionen. Visionen von einem Projekt, verbunden mit einem Menschen- und Weltbild, das Krafts ideologische Festung endgültig erschüttert. Er hat in seinem Leben einen entscheidenden Wendepunkt erreicht. Das Ende des immer spannender werdenden Ablaufs ist überraschend.

Jonas Lüscher, ein Schweizer der in München lebt, hat 2013 mit der Novelle „Frühling der Barbaren“ debütiert. Er hatte zunächst eine akademische Laufbahn als Philosoph eingeschlagen und bereits drei Jahre in seine Dissertation investiert. „Aus der Dissertation ist leider nichts geworden, dafür ist nun der vorliegende Roman entstanden, in den einiges eingeflossen ist, über das ich im Rahmen meiner wissenschaftlichen Tätigkeit nachgedacht habe.“ So steht es in der „Danksagung“ am Ende des Buches, das nicht durchgängig leicht zu lesen ist. Doch Ausdauer und Mitdenken des Lesers werden mit einem Erlebnis belohnt, das Anspruch und Vergnügen auf fast ideale Weise kombiniert.

media_44388249Die „Süddeutsche Zeitung“ war begeistert von „Kraft“ und widmete dem Buch und seinem Autor in der Ausgabe vom 4. Februar eine ausführliche, farbig illustrierte Rezension. Das Fazit von Christopher Schmidt: „Die kühle Intellektualität dieses Autors ist ein schöner Fremdkörper in einer Zeit, in der Reflexionsprosa nicht allzu hoch im Kurs steht, … wohltuend ist der Laserblick eines Jonas Lüscher, der unsere Gegenwart mit einem eisigen Sengstrahl analysiert.“

Lüscher, Jonas: Kraft. Roman. – C. H. Beck, 2017. Euro 19,95

„Das Tiefste wirst du endlich schauen…“

Der Roman “Am Schwarzen Berg” von Anna Katharina Hahn

Welche Stuttgart-Romane von einiger Bedeutung sind eigentlich in den letzten Jahrzehnten erschienen? Bevor ich Anna Katharina Hahns Bücher kennenlernte, wären mir wahrscheinlich vorzugsweise die Werke von drei Autoren eingefallen. Im ersten Fall handelt es sich um einen Roman-Zyklus. In insgesamt neun selbstständigen Erzählwerken – unter dem Motto “Vergangene Gegenwart” lose zusammengefasst – schildert Hermann Lenz (1913 – 1998) Herkunft und Leben des Schriftstellers Eugen Rapp und schöpft dabei fast ausschließlich aus der eigenen Biographie. Die Handlung ist, bis auf Abstecher zu den Schauplätzen des Weltkriegs, in Stuttgart und München angesiedelt. Mit ruhiger Sprache und unspektakulärer Erzählweise, sind die Bücher bleibende Zeugnisse vergangener Zeiten und einer nahezu unscheinbaren Dichter-Existenz.

Da war das Roman-Debüt des Martin Walser (geb. 1927) – “Ehen in Philippsburg” – schon von anderem Kaliber und mit unüberhörbarem Widerhall in Medien und Gesellschaft. Seine Schilderungen der bundesdeutschen Nachkriegszeit und der ersten Schritte eines jungen Akademikers auf dem Weg zum Schriftsteller-Beruf haben ausschließlich die Medienstadt Stuttgart der 1950er-Jahre zur Vorlage.

Während Walser und Lenz in ihren Darstellungen eine bürgerliche Welt abbildeten, entführte Manfred Esser (1938-1996) die Leser in eine dazu völlig konträre. Prollig und streckenweise ordinär geht es zu im Osten der schwäbischen Großstadt. Essers “Ostend-Roman”, der beim Erscheinen (1978) von Leitmedien wie „DER SPIEGEL“ und „DIE ZEIT“ fast hymnisch gefeiert wurde, ist saftig wirklichkeitsnah und von kraftvoller literarischer Qualität. Erschienen ist er einst im nicht mehr existierenden und inzwischen sagenumwobenden Verlag “März”. Nur noch antiquarisch mit kräftigem Preisaufschlag zu bekommen.

Wohl nicht zufällig findet man in den Büchern Anna Katharina Hahns Spurenelemente dieser drei Vorgänger. Sie blickt hinter die Fassade intellektueller Bürgerlichkeit, entlarvt die schale Behaglichkeit einer auf den ersten Blick sehr sauberen Großstadt zwischen Wohlstand und Weinbergen. Sie zeigt uns die kaum wahrgenommenen Randexistenzen neben den wohlbestallten Ministerialbeamten und Oberstudienräten, die verschämten Schmuddelecken neben den klinisch reinen Straßenbahn-Haltestellen. Dabei kommt die Drastik bei Anna Katharina Hahn ruhig, aber sehr präzise daher, und ist gerade deshalb so schneidend und wirkungsvoll. Kleine kräftige Schläge treffen den Leser immer wieder ganz unvorbereitet. Und sie schildert “Schmerzlinien”, wie sie fast jedes Leben durchziehen.

Anna Katharina Hahn im März 2012 auf der Leipziger Buchmesse

Der neue, im Februar erschienene Roman von Anna Katharina Hahn heißt “Am Schwarzen Berg” und schildert fünf eng miteinander verwobene Schicksale. Als Peter Rau, Sohn der Nachbarn von Emil und Veronika Bub, und gleichzeitig eine Art Ziehsohn des kinderlosen Paares, in eine schwere Lebenskrise gerät, bricht die mühsam aufrechterhaltene Scheinwelt beider Häuser auseinander. Der Gymnasiallehrer Emil Bub hatte einst in Peter einen dankbaren Mitstreiter für seine Mörike-Begeisterung gefunden, seine Frau ein Ziel für brachliegende Muttergefühle. Jetzt kämpfen die beiden gealterten Paare um Wohl und Zukunft des verzweifelt Gescheiterten. Sie tun dies, über Jahrzehnte kumulierten Ballast bequemer Lebenslügen und Scheinwahrheiten im Gepäck, mit nicht tauglichen Mitteln. Hinter der Hilflosigkeit der Helfer zeichnet sich bald die Unaufhaltsamkeit einer Tragödie ab.

Nach “Kürzere Tage” hat Anna Katharina Hahn einen zweiten großartigen Stuttgart-Roman geschrieben; damit wurde diese Gattung innert weniger Jahre gleich zweifach bereichert und erweitert. “Am Schwarzen Berg” ist aber weit mehr als ein Stuttgart-Buch; mehr als ein Werk über bröckelnde Bürger-Idylle. In weiteren kunstvollen Schichten, die uns die Autorin präsentiert, entdecken wir Spuren zum langsam in Vergessenheit geratenden Hermann Lenz, vor allem aber zum unvergesslichen schwäbischen Parnass-Bewohner Eduard Mörike, dem gelernten Theologen und dichtenden Fast-Aussteiger, aus dessen Gedicht “Elemente” der Titel des Romans stammt.

Darüber hinaus gibt es in diesem Buch sehr gegenwärtige Stuttgart-Bezüge voll frischer Aktualität. So wird dieser Roman von zukünftigen Lesern, die er hoffentlich zahlreich findet, als Stimmungsbild der frühen 2010er Jahre gelesen werden können. Unter anderem dienen die Auseinandersetzungen um Stuttgart 21 als Kulisse. Der krisengetriebene Peter Rau treibt sich eine zeitlang samt Kindern in der Parkschützer-Szene herum. Während sie die Geschehnisse schildert, findet die Autorin auch noch Sprachraum um uns mit reichem Vokabular und wie nebenbei von der naturräumlichen Gegenwelt, der artenreichen Flora und Fauna, einer deutschen Metropole zu berichten.

Die Stadtbibliothek Stuttgart einst …

Traurig-schön hingegen die Schilderung des schweren Abschieds von der alten Stadtbibliothek im Wilhelmspalais, wo die langsam aber stetig im Alkohol ertrinkende Veronika Bub fast ihr ganzes Berufsleben verbracht hat und die jetzt in das neuerbaute koreanische Luftschloss nahe des bald schon ehemaligen Bahnhofsgeländes ziehen muss – nicht nur für sie ein Fast-Begräbnis. Anna Katharina Hahn betrachtet durch die Brille ihrer bibliothekarischen Protagonistin noch einmal die Athmosphäre des charmant gealterten, nicht mehr zeitgemäßen Bibliotheks-Baus:

“Im Lesesaal war es plötzlich ganz ruhig. Ein gleichmäßiges Summen und Murmeln, Blättern und Knistern durchdrang den Raum. Niemand sprach, die Leute hatten die Köpfe über ihre Bücher gebeugt. Stadtverkehr und Spatzengetschilpe aus den Büschen um das Palais drangen nur gedämpft herein… Ein paar Erschöpfte schliefen mit den Köpfen auf den aufgeschlagenen Büchern… Sie alle wurden von der großen, unangreifbren Ruhe eingehüllt, die hier herrschte und von den Tausenden und Abertausenden von Büchern bewacht wurde. Dicht an dicht postierten sie auf ihren Plätzen und bewachten jene, die hinter ihren bunten Rücken Schutz suchten”

… und heute.
Foto: Ursula Doll

Anna Katharina Hahn hat in Hamburg und Berlin studiert und wissenschaftlich gearbeitet. Heute lebt sie mit Mann und zwei Söhnen in Stuttgart. Vor den beiden Romanen wurden von ihr zwei schmale Bände mit Erzählungen veröffentlicht. Die Schriftstellerin liest am 24. April in Tübingen (20 Uhr, Museums-Saal, von Osiander veranstaltet), am 26. April in Kirchheim/Teck (20 Uhr, im Buchhaus Zimmermann) und am 15. Mai in Stuttgart-Möhringen (20 Uhr, in der Pegasus Buchhandlung).

Hahn, Anna Katharina: Am Schwarzen Berg. – Suhrkamp, 2012. Euro 19,95

Aktuell: Deutscher Bibliothekartag 2011

Zukunft für die Bibliotheken?

oder: Wie Günter Grass Bibliothekare ermuntert.

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Einmal im Jahr treffen sich Bibliothekarinnen, Bibliothekare und verwandte Berufsgruppen aus ganz Deutschland zu Fort- und Weiterbildung, zu Diskussion und Erfahrungsaustausch, auf ihrem “Bibliothekartag”. Das hat eine lange Tradition. Und so wird vom 7. bis 10. Juni, zum inzwischen 100. Mal, diese Großveranstaltung mit diesmal etwa 3000 Teilnehmern stattfinden. Tagungsort ist das geschichtsträchtige, an musischer und ethnischer Vielfalt reiche Berlin. Der Kongress hat sich das etwas unscharfe Motto “Bibliotheken für die Zukunft – Zukunft für die Bibliotheken” verordnet.

Erstaunlicherweise hat man als Treffpunkt eine Örtlichkeit gewählt, die keinerlei Nähe zu Bibliotheken oder bibliotheksnahen Einrichtungen bietet. Im “Estrel Convention Center” findet man, ganz im Sinne einer zeitgemäßen Tagungs-Ökonomie, alles unter einem Dach: Bett und Verpflegung, Tagungsräume und Firmenaustellung, selbst den finalen nächtlichen Absacker kann man an der Bar des Hauses einnehmen. Wenn Teilnehmer oder Teilnehmerin nicht will, wird wenig Außenwelt die Kontemplation stören. Man kann nur hoffen, dass soviel klausurartige Sammlung, solch weltabgewandter Einschluss, nicht zum Selbstverständnis der Berufsgruppe und ihrer Arbeitsgebiete gehört; sie brächte es sonst fertig, populäre, in breiten Kreisen im Umlauf befindliche Klischees zu bestätigen.

Bibliotheken genießen nach wie vor hohes Ansehen und oft ehrfurchtsvolle Sympathie. Auch bei dem deutschen Nobelpreisträger Günter Grass. Der 83-jährige hat nach eigenen Aussagen sein literarisches Werk im wesentlichen abgeschlossen, nimmt aber wie eh und je regen Anteil an Alltag, Politik und kulturellen Strömungen unserer Republik. Im Vorfeld des diesjährigen Bibliothekartages gab er der Fachzeitschrift “BuB -Forum Bibliothek und Information” – so etwas wie das Zentralorgan der deutschen Bibliotheks-Szene – ein leicht zerstreutes Interview.

Pflichtgemäß kritisiert der Literat die aktuelle Gefährdung der reichhaltigen deutschen Bibliothekslandschaft durch Sparmaßnahmen und mangelnde Unterstützung der verantwortlichen Politiker. Beim Zukunftsaspekt wirft er dann allerdings Überlegungen zum Buch als gedrucktem Medium, sowie der Bibliothek als Anbieter vielfältiger Informations- und Medienformen, munter durcheinander. Außerdem muss man sich fragen, ob sich jemand zum Thema wirklich sachkundig äußern kann, der berichtet: “Natürlich brauche ich für meine Arbeit viele Bücher. Die lasse ich mir aber bei Bedarf aus der Bücherei bringen.”

Bibliothekare und alle die verwandte Berufe ausüben, alle Bibliotheken, Archive, Museen und Dokumentationszentren im Land, brauchen prominente Unterstützung. Der Dank ist einem Schriftsteller sicher, wenn er uns wissen lässt: “Die Bibliothekare erfüllen eine wichtige Aufgabe … “. Mit seiner reflexartigen Abgrenzung des haptischen – und damit im Grass’schen Sinne positiven Erlebnisses – herkömmlicher Bücher und den neuen problematischen, sprich elektronischen Medien, ist für die aktuellen und kommenden Herausforderungen jedoch niemandem gedient.

“Wenn ich zum Beispiel in einer Bibliothek die Bücher an den Wänden sehe, … dann ist das etwas ganz anderes als ein Blick durch den Bildschirm in die virtuelle Welt.” Ein Satz von Günter Grass der verständlich und nachvollziehbar ist, der aber eben lediglich einen Ausschnitt der heutigen Realität erfasst. Den ebenso realen, wie raschen Wandel, die immer mehr zunehmende Komplexität und die bereits erkennbaren zukünftigen Entwicklungen unserer Medienwelt, spricht Grass in dem BuB-Interview leider nicht an.

Mit seiner, das Gespräch abschließenden Formulierung, deutet er einen Weg an, den einzuschlagen eigentlich naheliegen sollte: “Ich wünsche den deutschen Bibliothekaren, dass sie sich lauter zu Wort melden und ihre Sorgen und Nöte geschlossen vortragen … “ Man wird es gerne hören. Ob Wunsch und Forderung von Günter Grass hinter den Plattenbau-Elementen einer Berliner Hotel- und Tagungs-Burg am besten umgesetzt werden können, wird jene Zukunft zeigen, die dort zum Thema gemacht wird.

Das Interview mit Günter Grass: BuB (5) 2011, S. 354 – 356

Zurück in die Zukunft – Goethe meets Eckermann im Chat-Room

Die Deutsche Initiative Netzwerkinformation – kurz DINI – ist einer breiteren Öffentlichkeit bisher eher wenig bekannt. Das könnte sich für diese Arbeitsgemeinschaft der Medienzentren an Hochschulen e. V. (AM), der Sektion für Wissenschaftliche Universalbibliotheken im Deutschen Bibliotheksverband und den Zentren für Kommunikation und Informationsverarbeitung in Lehre und Forschung e. V. (ZKI) bald ändern. Schwerpunkte ihrer Tätigkeit sind die Förderung elektronischen Publizierens, die Entwicklung von Lernsoftware und die Förderung von Medienkompetenz an Hochschulen.

DINI hat einen spannenden Ideen-Wettbewerb ausgeschrieben. Unter dem Motto “Studentische Netzwerke: kreativ – mobil – kooperativ” werden originelle und zukunftsfähige internet-basierte Aktivitäten, Projekte, sowie Konzepte zur sozialen Vernetzung und Zusammenarbeit gesucht. Gedacht wird dabei z. B. an gemeinsames Lernen durch kreative Nutzung mobiler Endgeräte, Social Networking innerhalb eines Fachgebietes oder zu bestimmten Themen, oder neue Ansätze für den Einsatz von Netztechnologien. Eine bestimmte Richtung wird nicht vorgegeben, Fantasie und kreativen Denken keine Grenzen gesetzt.

Originell ist die zentrale Werbeaussage, mit der dieser Wettbewerb an den Hochschulen und über die Medien bekannt gemacht wird. Auf einem großformatigen Plakat sehen wir da Alexander von Humboldt, der auf seinem Laptop Tischbeins Goethe-Bildnis betrachtet und lesen den Spruch: “Humboldt und Goethe wären heute Blogger.” Witzig und graphisch gut umgesetzt. Vielleicht würde die Aussage sogar zutreffen, könnten die beiden Geistesgrößen via Zeitreise zu unseren Zeitgenossen werden. Doch wie sähe es aus, wenn wir uns die Sache einmal umgekehrt vorstellen? Setzen wir einmal voraus, Goethe und Humboldt hätte bereits zu Ihrer Zeit die heutige Informationstechnologie in all ihren Facetten zur Verfügung gestanden.

“Alles, was an und in mir ist, werde ich mit Freuden mitteilen.” So schrieb Johann Wolfgang Goethe am 27. August 1794 an Friedrich Schiller. Eine Aussage, die nahelegen könnte, dass der Dichter heute durchaus ein häufiger Nutzer sozialer Netzwerke oder diverser elektronischer Verständigungssyssteme wäre. Aktuell geht die Forschung davon aus, dass Goethe etwas 20.000 Briefe geschrieben oder erhalten hat, etwa 15.000 sind erhalten, um die 12.000 veröffentlicht.

Bis heute haben wir damit historische Quellen von unschätzbarem Wert zur Verfügung. Sie lassen nicht nur das Leben und Schaffen des Dichters, Staatsmannes, Naturforschers, Theaterleiters, Bücher- und Kunstsammlers lebendig werden, sondern geben auch Auskunft über den Literatur- und Kunstbetrieb, über Politik, Ökonomie, Handwerk, Fabrikwesen, Verkehr und über die Geistes- und Naturwissenschaften eines ganzen Zeitalters.

„Über allen Gipfeln / Ist Ruh, / In allen Wipfeln / Spürest du / Kaum einen Hauch; / Die Vögelein schweigen im Walde / Warte nur, balde / Ruhest du auch.”

Dieses Gedicht, das ursprünglich einen anderen Titel trug, wurde allgemein als “Wandrers Nachtlied” bekannt. Nehmen wir für einen Augenblick an: Goethe schrieb die berühmten, unvergänglichen Zeilen am Abend eines schönen September-Tages in einer Jagdhütte hoch über dem thüringischen Städtchen Ilmenau in seinen Blog “Gedichte*Orte*Spuren”. Gleichzeitig schrieb er sie mit Bleistift an die Holzwand des Waldhäuschens. Tatsache ist: Dem frühen Graffiti verdanken wir die Überlieferung der einfachen, genialen Verse; es wurde zur Vorlage für mündliche Weitergabe und schriftliche Aufzeichnung. Die Vermutung liegt nahe: Das Blog wäre heute nicht mehr nachweisbar.

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„Alexander von Humboldt ist diesen Morgen für einige Stunden bei mir gewesen. Was ist das für ein Mann! Ich kenne ihn so lange und bin doch von neuem über ihn in Erstaunen. Man kann sagen, er hat an Kenntnissen und lebendigem Wissen nicht seinesgleichen. Und eine Vielseitigkeit, wie sie mir gleichfalls noch nicht vorgekommen ist! Wohin man rührt, er ist überall zu Hause und überschüttet uns mit geistigen Schätzen. Er gleicht einem Brunnen mit vielen Röhren, wo man überall nur Gefäße unterzuhalten braucht und wo es immer erquicklich und unerschöpflich entgegenströmt“.

So sprach einst unser Weimarer Dichterfürst hochachtungsvoll zum treuen Eckermann, der eifrig mitschrieb – wir atmen auf, dass der Austausch nicht mit Hilfe eines chat tools stattfand – , auf dass wir noch heute in den Gesammelten Werken des Dichters davon erfahren.

Auch an Humboldts Erfahrungen, Forschungen, Erkundungen können wir nach wie vor teilhaben. Viele Erkenntnisse und Ergebnisse gegenwärtiger Wissenschaft haben ihr Fundament in den Humboldtschen Vorarbeiten. Die “Ansichten der Natur” erschienen 1808 bei Cotta, sein “Kosmos – Entwurf einer physischen Weltbeschreibung” in den Jahren 1838 bis 1848 bei Perthes in Gotha. Auch von Alexander von Humboldt liegt eine äußerst umfangreiche Sammlung von Briefen vor, die bis heute vielfach editiert und ausgewertet wurde.

Einer der bekanntesten und erfolgreichsten deutschen Romane der letzten Jahrzehnte wäre ohne diese Dokumente und Publikationen nicht entstanden. In “Die Vermessung der Welt” gelingt dem Jungautor Daniel Kehlmann ein einzigartiges Doppelportrait der eigenwilligen Gelehrten Friedrich Wilhelm Gauß und Alexander von Humboldt. Das Buch hat seinen Höhepunkt in einer recht skurrilen Begegnung der beiden, zum Zeitpunkt der fiktiven Szene, schon älteren Männer. Es ist ausgesprochen lesbar und lesenswert, millionenfach verkauft und in viele Sprachen übersetzt.
Man ahnt was nun kommen muss: Und hätte Humboldt von seinen zahlreichen Reisen und Expeditionen gebloggt, getwittert, gemailt oder gechattet…

„In der Nacht schrieb Humboldt, zum Schutz gegen das Schneetreiben zusammengekauert unter einer Decke, zwei Dutzend Briefe, in denen er Europa die Mitteilung machte, daß von allen Sterblichen er am höchsten gelangt sei. Sorgfältig versiegelte er jeden einzelnen. Dann erst schwanden ihm die Sinne.“

(Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt. – Reinbek bei Hamburg, 2005)

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In einem Aufsatz mit dem Titel “Das Buch. Nährstoff des Geistes, politische Waffe und Lebensbegleiter” (Volltext, 5.2010, S. 40 ff.) weißt die Konstanzer Literaturwissenschaftlerin Aleida Assmann darauf hin, dass es sich bei Bücherverbrennungen stets um ein Ritual der Demütigung und den Versuch der Vernichtung des Autors handelte. Als Zensurmaßnahmen waren sie nie effizient, denn irgendwo war immer noch ein Exemplar existent. Dieses hochmütige Medium war durch den Kleingeist nicht ausrottbar, denn “die Dauerhaftigkeit gedruckter Bücher geht im Druckzeitalter nicht auf das haltbare Material zurück … sondern auf ihre Vervielfältigung.” Das Buch hat schließlich 4.500 Jahre technische Evolution hinter sich und Inhalte transportiert die Nachdruck und Eindruck hinterliesen und bis heute Respekt verlangen.

Reden wir von Bloggs, Mails und Social Web, so zweifeln wir nicht nur sofort an der Langlebigkeit des technischen Mediums, sondern häufig auch an Nach- und Sinnhaltigkeit, sowie dem Niveau der transportierten Inhalte. Obwohl immer öfter gar nicht zutreffend, entstehen Unterstellung und Vorurteil über alles dort Veröffentlichte fast ohne kritische Differenzierung, während dem Buch und anderem Gedruckten oft Bedeutung und hehres Maß unterstellt wird. Das dies nicht immer und ausschließlich berechtigt ist, muss nicht betont werden. Doch analoge Medien haben sich so etwas wie eine historische und allgemein anerkannte Wertschätzung und Hochachtung erworben.

Auf jeden Fall ist sicher, dass wir bei elektronischen Medien vor der grundsätzlichen Frage stehen, was von ihnen nach Jahren und Jahrzehnten, nach mehreren Generationen von Hard- und Software, unterschiedlichen und wechselnden Standards, angesichts flottem Gehandel und Geschacher der Content-Anbieter, bleiben wird. Was wird damit in Zukunft Historikern und Verlegern, Schriftstellern und Naturforschern an Quellenmaterial zur Verfügung stehen?

Und damit sind wir wieder bei DINI, und deshalb ist der initiierte Wettbewerb eine gute Sache. Wie selten zuvor wird es immer wichtiger, Kreativität, Originalität, jugendlichen Sturm und Drang, dabei auch Überschwang duldend, anzustoßen, zu mobilisieren, dem Nachwuchs Anreize zu bieten aktiv zu werden. Vielleicht erkennen Bibliothekar, Verleger und Informationswissenschaftler späterer Generationen beim Blick in eine ferne Vergangenheit, die wir heute Gegenwart nennen, dass aus diesem Wettbewerb die ultimative Speicher-Idee, der dringend benötigte dauerhaftige Ideen-Speicher hervorging. Ob Papier oder digital: Information wird Wissen wird Bildung wird Zukunft. Da darf einfach nichts mehr verlorengehen.

So! Rum. Frankfurter Buchmesse MMX

Mittwoch und folgende

Am liebsten würde ich alle analogen und digitalen Empfangsgeräte ausschalten, alle gedruckten Massenmedien in dafür geeignete Container entsorgen, wegschauen, abtauchen, nur noch mit Lieblingsbüchern dauerschmökern, auswandern nach Polylesien, Tau und Tee trinken, Tag und Nacht von Zetteln träumen, das Westallgäu von Nord nach Süd durchwandern, in mein Tagebuch fallen, unsichtbar bleiben. Doch wenn ich geh’, geht nur ein Teil von mir und der and’re schaut zu dir.

Alle reden von Argentinien. Doch ich sehe, höre und lese nur Schweiz. Melinda Nadj Abonji gewann – Sarrazin sei dank! – mit „Tauben fliegen auf“ den diesjährigen deutschen Buchpreis. Das Schicksal einer ungarischen Familie, die aus Serbien in die Schweiz auswandern muss und deren Geschichte nun in Frankfurt und anderswo die Runde macht. Lieblich, ohne nachhaltigen Abgang. Wir sind Europa.

Dorothee Elmiger bekam neulich den Aspekte Literaturpreis des ZDF für „Einladung an die Waghalsigen“. Ich hab’s gelesen – es ist nicht viel und auch nicht lang – aber großartig und ganz eigen. Mit Mut, Phantasie und Sprachvermögen. Nicht dieses weit verbreitete Schreiben, das eine tragische Biographie erzwingt. Wenn sie das Niveau irgendwann bestätigt, können wir eine neue großartige Stimme begrüßen. Dorothee Elmiger stammt aus Wetzikon im Bezirk Hinwil und lebt jetzt – dreimal raten überflüssig – in Berlin.

Schluss mit Schweiz? Nein, einen hab’ ich noch. Beim 44. Literarischen Wettbewerb der GAD (wer es wirklich nicht weiß: Gastronomische Akademie Deutschland) bekamen die Autoren Dominik Flammer und Fabian Scheffold die „Goldene Feder“ für „Schweizer Käse“, erschienen im AT Verlag, der im schweizerischen Aarau zu Hause ist.

Und Argentinien? Der mehrfach begabte Chansonnier Michael Ebmeyer (Mitglied der Berliner Combo „Fön“) hat schon wieder einen Roman geschrieben. „Landungen“ spielt zu großen Teilen in Argentinien. Erschienen ist diese lesenswerte Zeit- und Familiengeschichte natürlich bei Kein und Aber. Ja, genau: Zürich!

Die armen Grimms. Sie kennen doch die Grimms?! Jacob und Wilhelm, die Wörter- und Märchensammler und großen Gelehrten. Früher Göttingen, später Berlin. Wie geschieht heutzutage ihren Gestalten und Geschichten, den altdeutschen Mythen, den volkstümlich romantischen Figuren? In Reckless, dem neuesten Buch der nach Amerika ausgewanderten, aber immer noch deutschsprachigen Erfolgsautorin Cornelia Funke, werden sie Opfer profitabler Umdeutung.

Birgit Dankert, längst im tätigen Ruhestand, einstmals eine meiner Lieblings-Professorinnen am Hamburger Fachbereich, erläuterte letzte Woche in der ZEIT „Warum das neue Buch von Cornelia Funke ein einziges Ärgernis ist.“

„Cornelia Funke operiert zum Teil recht erfolgreich mit der Ausstattung der Grimmschen Märchenwelt … Aber viele der Wesen, die wir aus den alten Märchen kennen, werden in Reckless einfach nur benutzt und ausgebeutet … Die ständige Aufgeregtheit, die Tücke, die Kleptomanie all der Wassergeister, Stilze, Einhörner und Wölfe, die das Buch übervölkern, schaffen immer nur kurzfristig Spannung … Sehr bedenklich ist auch das Frauenbild, das Reckless zeichnet: Reiz und Kraft der weiblichen Figuren liegen fast ausschließlich in ihren sexuellen Vorzügen. Das beliebte Klischee der gefährlichen Frau nimmt breiten Raum ein.“

Frau Dankert kritisiert den Etikettenschwindel, wenn uns weiß gemacht werden soll, es handelt sich um ein „harmloses Kinder- und Jugendbuch für jedes Lesealter.“ Ihr Fazit: „Wirklichkeit zu erkennen, zu deuten, zu bewältigen und zu überspringen – dazu taugen Märchen. Reckless gelingt das nicht. Seine Welt ist synthetisch und kommt im Leben nicht an.“ Aber alsbald als Kassenschlager in die Kinos – möchte man ergänzen, FSK ab 6 und im Sessel Mutter und Vater mit Drei- und Vierjährigen. Heute müssen Eltern ihre Kinder nicht mehr im Wald aussetzen. Es gibt subtilere Möglichkeiten der Vernachlässigung.

Falten Zitronenfalter Zitronen? Enthält Hundekuchen…? Hat die Frankfurter Buchmesse irgendwie mit Literatur zu tun? Mit Büchern schon. Bücher von Autoren die komplexe Begriffe wie (völlig willkürliches Beispiel!) „hummeldumm“ auf so und so viel Seiten exemplarisch, praktisch, lebensnah und banal glauben erläutern zu müssen. Oder Werke von Jung-, Neu- oder Eigentlichnicht-Autoren, die sich vor völlig natürlichen und weit verbreiteten Naturereignissen wie Vaterwerden und Kinderhaben ins Bücherschreiben flüchten.

Und mit E-Books hat sie zu tun. Nun schon im dritten Jahr nacheinander – in Frankfurt und in Leipzig – sind diese unheimlich im Kommen, werden zum unverzichtbaren Lifestyle-Produkt hochgepredigt. Und alle medialen Kanäle stimmen ein. Das Angebot an Hardware ist vielfältig. Was hätten’s denn gerne? Das anglophile Kindle oder den geschmeidigen Sony Reader, Bookeen Cybook Opus, Foxit eSlick oder Ectaco jetBook-Lite? Den PRS-600 Touch black, das Cybook Gen3 Gold Edition oder doch lieber das äußerst günstige Weltbild-Modell? Es gibt auch tatsächlich schon das eine oder andere Buch zum Draufladen und Runterlesen. Aber nicht für alle die gleichen. Das gilt auch für die Formate und Ausstattungsmerkmale. Unter Strom sollte es natürlich schon stehen – Stichwort: Akku-Laufzeit. Flatrate demnächst. Tolstoj und Fontane gratis dazu.

Von Bibliotheken ist und war in Frankfurt allenfalls am Rande die Rede. Die lassen sich nicht handeln und ihre Dividenden sind nicht pekuniär. Das soll sich jetzt ändern, war zu hören. Und wie Vieles kommt auch diese Idee wohl bald über den großen Teich zu uns. Unser aller Terminator und Ex-Ösi Arni gehört zu den Pionieren die hier mutig Neues wagen. In den USA werden neuerdings kommunale Bibliotheken an private Anbieter übergeben. LSSI (Library Systems and Services) ist eine der Firmen, die dieses Geschäftsfeld erschließen. Ich zitiere aus der FAZ vom 30. September: „Das Unternehmen betreibt bereits 14 Stadtbüchereien mit 63 Zweigstellen, die meisten davon im krisengeschüttelten Bundesstaat Kalifornien, wo Gouverneur Arnold Schwarzenegger gegen die chronische Finanznot kämpft … Jüngst hat es (LSSI) den Auftrag bekommen, drei Büchereien in Santa Clarita (Los Angeles County, 170.000 Einwohner) zu managen. Dort will LSSI-Vorstandchef Frank Pezzanite rund eine Million Dollar jährlich einsparen.“

Über die Buchmesse wird viel gesendet und geschrieben. Lesen Sie einfach was Sie wollen oder lassen Sie es bleiben. Nicht versäumen sollten Sie allerdings den Buchmesse-Blog von Andrea Diener auf faz.net. Das ist auch Tage und Wochen danach noch lesens- und – wegen der photographischen Fähigkeiten der Autorin – auch sehenswert. Sehr interessant und auf bestem Niveau sind zudem zahlreiche Kommentare, die den Berichten jeweils prompt folgen. Allerbeste Diskussionskultur, wie man sie im web nur selten findet.

Sonntag-Abend

Der Kaffee wird kalt. Auf meinem Schreibtisch liegt ein knittriger Gutschein für das „Café der Verlage“, zu finden auf der Frankfurter Buchmesse in Halle 3.1, zwischen Gang L und M. Dafür hätte ich wahlweise einen Espresso oder einen Café Latte bekommen. Eigentlich schade, wenn man die Verpflegungspreise auf der Frankfurter Messe kennt. Aber zu verkraften. Dafür gönne ich mir, wenn ich hiermit fertig bin, einen kräftigen Schluck argentinischen Roten und ein großes Stück reifen Emmentaler.