Stadt ohne Messe

Über die Gefahr weiterer Verluste

2018 erschien ein ebenso originelles wie großartiges Buch der Schriftstellerin und Buchgestalterin Judith Schalansky. Das Verzeichnis einiger Verluste. Im Herbst desselben Jahres konnte ich Werk und Autorin auf der BuchWien (eine Art österreichische Buchmesse) kennenlernen. Es war zu einer unbeschwerten Zeit, als Gedränge in Messegängen und in überfüllten Veranstaltungsräumen sorglos selbstverständlich waren. Niemand ahnte, dass ein gutes Jahr später Begriffe wie Corona, Covid-19, Epidemie und Pandemie in aller Munde sein würden.

Judith Schalansky schreibt, in dem von ihr selbst gestalteten, bibliophil anmutenden Band, von dem, was nicht mehr ist. Dem kaspischen Tiger, der ausgestorben ist, dem Hafen von Greifswald, dessen Verbindung zum Meer inzwischen verlandet ist, dem Palast der Republik in (Ost)-Berlin, einst vitales Repräsentations- und Veranstaltungszentrum des DDR-Staates, inzwischen abgerissen. 

Von den Sieben Büchern des Mani, eines Predigers und Missionars, Begründer des Manichäismus; Glaubensrichtung und verfasste Schriften des Persers, der im 3. Jahrhundert n. Chr. lebte, sind bis auf Rudimente aus der Welt verschwunden. Schalansky schreibt über die Sängerin und Dichterin Sapphos, von deren legendären Liebesliedern die aufgefundenen Schnipsel allenfalls eine Ahnung ermöglichen. Sollte sich Judith Schalanskys Verlag eines Tages zu einer erweiterten Neuauflage ihres Buches entschließen, wird sie möglicherweise einen Beitrag über die verschwundene Leipziger Buchmesse hinzufügen müssen.

Die Leipziger Buchmesse 2022 wurde abgesagt. So ging es dieser Tage durch Presse, Funk und Foren. Coronabedenken und Querrechner in großen Medienkonzernen, die ihre Teilnahme zunächst zugesagt hatten, später zurückzogen, gaben den Ausschlag für die Entscheidung von Stadt, Freistaat und Messeleitung. Um welche Art Firmen handelt es sich?

Zum Beispiel das Holtzbrinck-Konglomerat. In Deutschland findet man unter dessen Dach traditionelle Marken wie S. Fischer, Rowohlt, Kiepenheuer & Witsch, Droemer Knaur. Das große Rad dreht der Konzern international. Über MacMillan Publishers gehört er zu den großen Mitspielern im Geschäft mit der Vermarktung digitaler wissenschaftlicher Information. Dass hier Milliardenumsätze generiert werden, ist weniger bekannt. Science journals, Datenbanken, Forschungsdaten und deren Management, sprich Verwertung und Vermarktung, übersteigen die Erlöse traditioneller Literaturverlage um ein X-faches. Dazu kommen Beteiligungen an Zeitungsverlagen, Fernsehsendern, Plattformen und Streamingdiensten. Bleibt ein Name wie Holtzbrinck, für Bertelsmann, Bonniers und Co. gilt Gleiches, einer Angebotsmesse fern, fehlen dieser mehr als nur ein paar Stände.

Allerdings wird in der aktuellen Berichterstattung kaum deutlich, dass man die Marke Leipziger Buchmesse nicht auf seine Standaufbauten reduzieren kann. Nicht auf adrettes Verkaufspersonal, reichlich fließenden Perlwein, stets gut gefüllte Schälchen mit Knabberzeug. Es geht keineswegs lediglich um die nicht auszurottende Prospekt- und Flyerflut, um verschenkte Kugelschreiber, um bunte Luftballons für den Konsumentennachwuchs.

Leipzig im März, ob es schon blüht oder, wie nicht selten, das Winterweiß zurückkehrt, ist neben der traditionellen Messe der Buch- und Medienbranche ein dicker Strauß weiterer Veranstaltungen und Ereignisse. Wie die Manga-Comic-Con, das junge farbenfrohe Event, zu der Fans aus ganz Deutschland anreisen, um sich, als Comic- oder Mangafiguren verkleidet, zu treffen, auszutauschen, miteinander zu feiern – für viele ein lang erwarteter Jahreshöhepunkt.

Von zentrale Bedeutung ist seit über 20 Jahren das Lesefestival Leipzig liest, mit hunderten Lesungen und Präsentationen über die ganze Stadt verteilt. In Buchhandlungen und Apotheken, Theatern und Kulturzentren, Bahnhöfen und Kneipen, alten Sälen und angesagten Cafés. Die Auftritte bieten Autoren, deren Werke nicht auf den Sellerlisten vertreten sind, vielleicht erst am Anfang ihrer Karriere stehen, nicht zu unterschätzende Einkommensmöglichkeiten.

Dazu kommen Fortbildungen, Branchentreffs, Angebote für den Berufsnachwuchs, Leseförderung und Medienpädagogik für Kinder und Jugendliche. Schulungen und Informationen, die sich an Pädagogen, Buch- und Medienschaffende, Blogger und andere Influencer, Netzwerker, Schreibende aller Art oder solche, die es werden wollen, richten. Nicht zu vergessen die Antiquariatsmesse, ein eher ruhiger Ort im Messetrubel, der wie ein Relikt aus anderer Zeit wirkt. Hier werden sehr traditionelle Formen der Buchverehrung gepflegt, treffen sich exzellente Experten, Sammler, Händler und Neugierige.

Die Leipziger Messe bildet einen bewussten, gewollten Gegenpol zum Herbstereignis in Frankfurt. Hier stehen kleinere Verlage, die Leserschaft, Bildungs- und Leseförderung, im Fokus. Und man erlaubt sich eine Blickrichtung, die in den Osten und Südosten Europas gerichtet ist, während andernorts der dominante angelsächsische Markt im Vordergrund steht. Dieser Frühjahrshöhepunkt ist zudem von einiger merkantiler Bedeutung für die Stadt, ihren Handel, Hotels und Gastronomie.

Die Geschichte der Buchmesse in Leipzig geht weit zurück. Leipzig war nach der Reformation und dem folgenden Erfolgszug des Buchdrucks einer der wichtigsten Druckorte Europas. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts begann der Aufstieg zur bedeutenden Messestadt. Der erste Ratsmessekatalog mit Neuerscheinungen erschien 1594, vier Jahre früher als in Frankfurt am Main, das sich zum Konkurrenten entwickelte.

Auch die Stadt am Main hat eine lange Buchmessetradition, wichtige Institutionen der Buch- und Verlagswelt haben hier ihren Sitz. Hier befindet sich die Paulskirche, in der alljährlich der Friedenspreis des deutschen Buchhandels vergeben wird. Frankfurt ist die Geburtsstadt der Klassikerikone Goethe, den es später für kurze Zeit nach Leipzig zog, wo er es recht wild trieb und dabei auf Ideen kam, die im Lebenswerk Faust ihren Niederschlag fanden.

Dieser Tage, noch vor dem Leipziger Messestorno, verbreitete sich von Frankfurt am Main aus ein Raunen in der Republik. Brauchen wir Leipzig eigentlich? Sind zwei Buchmessen im Jahr notwendig? Fällt nach dreimaligem Ausfall ein endgültiges Verschwinden überhaupt auf? Sind nicht die meisten Betriebe einer einst blühenden Druck- und Verlagslandschaft, die lange die Stadt prägte, längst in den Westen oder nach Berlin abgewandert? Und ein maßgeblicher Journalist stellte in Frage, inwieweit eine unwirtschaftliche, auf staatliche und städtische Unterstützung angewiesene Veranstaltung, überhaupt vertretbar sei.

Viel Salz in der Suppe. Wer löffelt sie aus?

Fiele Leipzig tatsächlich wie auch immer gearteten Zwängen oder Absichten zum Opfer, wären die Leidtragenden kleine unabhängige Verlage, die hier ihren Platz haben, weil sie in Frankfurt untergehen würden und sich den Auftritt ohnehin nicht leisten können. Es wäre dies der von Ladenketten unabhängige Buchhandel, eine Vielzahl Autoren und Autorinnen, denen Präsentations- und Einkommensmöglichkeiten entfielen. Betroffen wäre eine begeisterte Leserschaft samt Lesernachwuchs, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dieses kleinen und besonderen Kulturbereichs. Betroffen wären einmal mehr die Messebauer. Die Gastronomie und die Gastgeber der sächsischen Metropole.

Die Konsequenz wäre darüber hinaus eine tendenzielle Verschiebung von Marktsegmenten hin zu den großen globalen Playern, wäre eine Zunahme der Monopolisierung, eine Gemengelage, in der es für Originalität, Nischenprodukte, Neues, immer schwerer würde einen Platz, einen Weg zum Publikum zu finden. Der Vorrang für Absatzchancen und grenzenlose Gewinnorientierung bedeutet einen Verzicht auf Vielfalt und Ideenreichtum. In Leipzig wurden bisher Kompetenzen und Kreativität unterstützt und gefördert. Ein Nährboden, eine Talentschmiede, auf die mittel- und langfristig ausgerechnet die Marktgrößen im Interesse der Zukunft ihrer Geschäftsmodelle angewiesen sind. 

Inzwischen protestieren betroffene Interessengruppen gegen das aus ihrer Sicht kurzsichtige und unangebrachte Vorgehen und verurteilen die vorschnelle Absage. Sie fordern ein klares Bekenntnis zur Fortsetzung der Leipziger Buchmesse. Sehr schnell meldete sich die Kurt-Wolff-Stiftung zu Wort, ein Zusammenschluss eben jener kleineren unabhängigen Verlage, und bekräftigte die Teilnahmebereitschaft für dieses und kommende Jahre. Eine Solidaritätsaktion, die sich für den Erhalt der Leipziger Buchmesse einsetzt, verbunden mit einer Unterschriftensammlung, läuft im Netz und findet regen Zuspruch.

Sehr deutlich wird die Süddeutsche Zeitung in ihrer Ausgabe vom Samstag, den 13. Februar: 

Verstörung. Berlinale, Londoner Buchmesse, Lit.Cologne. Alle Großveranstaltungen finden statt, nur die Leipziger Buchmesse nicht. Chronologie eines kulturellen Desasters in Deutschland. 

Resümierend heißt es im Blatt: Die Leipziger Buchmesse hätte stattfinden können, wenn die drei großen westdeutschen Verlagskonzerne sich aufgerafft … hätten. Wenn es in den Konzernzentralen ein Bewusstsein gegeben hätte für die Rolle, die die Leipziger Buchmesse in der ostdeutschen Gesellschaft spielt …, und … was für ein wichtiger Brückenkopf sie ist für die liberalen, demokratischen Gesellschaftsteile in Polen, Ungarn, der Ukraine

Ein Bewusstsein für gesellschaftspolitische Verpflichtungen und eine Mitverantwortung für demokratische Gesellschaftsteile ist eben nicht profitabel, Ostdeutschland und ganz Osteuropa kein vielversprechendes Geschäftsfeld.

Unter dem Titel Drei Jahre ohne den Frühling der Literatur macht sich der Leipziger Schriftsteller Clemens Meyer, einst Gewinner des Preises der Leipziger Buchmesse, in der Leipziger Volkszeitung Gedanken über die geistige Leere, die im Frühjahr mit der dritten abgesagten Buchmesse in Leipzig einhergehen wird. Er glaubt, dass man in Leipzig vieles ertragen kann, was dem Osten zugemutet wird, wenn die Literatur fünf Tage Einzug hielt. Wir müssen sie ja nur ein wenig pflegen, unsere Dichter und ihre Werke. Die letzten Buchhandlungen unserer Stadt (und damit meine ich die kleinen, privat geführten) sind die Denkmäler einer immer währenden Revolution, friedlich, aber gar nicht niedlich …

Bleibt die Hoffnung, dass Judith Schalanskys Verzeichnis einiger Verluste noch viele Neuauflagen erleben wird, und dass diese ohne ein ergänzendes Kapitel auskommen.

Bis nächstes Jahr – in Leipzig!

Die letzte Lesung

Blau karierte Tischdecke, Rotwein und Pizza Frutti di Mare. Der Kellner im perfekt sitzenden Anzug mit nobler Fliege. Den italienischen Akzent wird er sich antrainiert haben, denn er wurde vor zwei Generationen in Deutschland geboren. Er sorgt sich dieser Tage um ältere Verwandtschaft, die noch in der Gegend von Bergamo lebt. Meine vorerst letzte Pizza außer Haus in diesem so geliebten Ambiente.

Der Erika-Mann-Platz im Zentrum. Alte Linden in der Mitte, drumherum fidele Mischung aus historischem Bestand und sachlicher Funktionalität. Ort quirliger Urbanität. Cafès, Kneipen, Restaurants. An der südöstlichen Ecke die kleine Kultbuchhandlung. Wird mein letzter Besuch im Laden auf unabsehbar der letzte bleiben? Wenige hundert Meter weiter, hinter dem Rathaus, die Stadtbibliothek. Seit zwei Wochen sichtbares Symbol einer hermetischen Gesellschaft. Dreivier Romane liegen zuhause, sie waren weniger fesselnd als erwartet. Die Leihfrist verlängert bis Sankt Nimmerlein.

Die letzte Bierbestellung bei Charlotte, genannt Charly, seit vielen Jahren Stammkraft in meiner Altstadt-Stammkneipe. Wenn ich gewusst hätte, dass diese Halbe an diesem Ort die letzte sein würde für lange Zeit, wäre es an diesem Abend bestimmt nicht die letzte geblieben.

Ich verbringe viel Zeit mit Kindern und Frau, was natürlich schön ist, und trauere manchmal den Veranstaltungen nach, die jetzt gerade wären. Der Schriftsteller Ingo Schulze im Hessischen Rundfunk.

Ingo Schulze (l.), Foto: Wiebke Haag

Ingo Schulze war der bislang letzte Schriftsteller, den ich auf einer echten Lesung, leibhaftig und vor Ort mit reichlich Zuhörerschaft erleben durfte. Damals, es war der 12. März, eine durchaus riskante Angelegenheit, obwohl mir die Eintrittskarte von einem Latexhandschuh überreicht wurde und reichlich Desinfektionsmittel strategisch günstig positioniert zur allgemeinen Verfügung standen. Doch dann der überfüllte Saal, die stickige Luft – der Besuch der Veranstaltung wurde zur Herausforderung des Schicksals. Das alles nicht einmal das reinste Vergnügen. Bei stümperhafter Moderation mit hohem Fremdschämfaktor und einem gleichmütig reagierenden Schriftsteller, der viel zu lange Passagen aus dem neuen Roman las und damit den potentiellen zukünftigen Lesern einiges an möglicher Spannung nahm.

Mitte März 2020. Kommt mir vor als wäre es schon ewig her. Die Buchmessestadt Leipzig ohne Buchmesse. Leipzig in trister Stimmung, bei bedecktem Himmel, gelegentlichem Regen und auffrischendem Nordostwind. Die Lesung von Schulze war eines der wenigen Ereignisse die vom geplanten und längst sorgfältig vorbereiteten, die Buchmesse normalerweise begleitenden Mega-Event Leipzig liest übrig blieb. Nicht wenige Buchmenschen waren trotz Messeausfall und viraler Widrigkeiten nach Sachsen gekommen. (Es war kurz vor den Verboten und wohlmeinenden Verhaltensnormen – eine Zeitenwende vor heute.) Aus Solidarität mit den kleinen Verlagen, den unabhängigen Buchhändlern, den verblüfften Autoren und Autorinnen, die langsam erkannten, dass es ab sofort an die Fundamente ihrer materiellen Existenz gehen würde. Aus Sympathie zum Hotel in dem man seit Jahren entgegen der üblichen Messetrends stets wohlfeile und freundliche Aufnahme fand.

So viele Gutscheine können wir gar nicht verkaufen, sagen die Inhaber der kleinen Buchläden, so tolle Webshops nicht ins Netz stampfen, so viele Fahrradkuriere niemals aussenden, so viel auf Kosten der eigenen Gesundheit schuften, dass die jetzt eingetretenen Verluste kompensiert werden könnten. Camus Pest und Manns Tod in Venedig sind die Seuchenbestseller, die sie in günstigen Taschenbuchausgaben den Kunden vor die Quarantäne-Schleuse legen dürfen.

Seltsam im Freien zu Wandeln. Mit Misstrauen bedacht ein Jeglicher der entgegenkommt, schon vorab verdächtig der Bereitschaft die nunmehr geltenden Abstands- und Anstandsregeln zu verletzen. Die Folge ist verdrucktes, huschiges Aneinandervorbei. Wenige Schritte weiter springt ein Plakat ins Auge das Dank aus- und Solidarität verspricht, und im Ohr noch den Fernsehsprecher, der von Wellen der Hilfsbereitschaft weiß und dessen Sender versichert für EUCH, also für dich und mich, da zu sein.

Das letzte Buch gelesen. In der Krise plötzlich nicht mehr lesen können. … Ich spiele Scrabble mit einer App, ich schaue Netflix, ca. dreizehn Minuten. Dann falle ich in einen tiefen Schlaf. Es läuft ganz gut, dachte ich, aber heute ist so ein Tag, an dem der Rücken schmerzt, und alles reizt, jede Kleinigkeit, und ich nicht mehr mag, und ich das auch so gerne einfach so sagen möchte: Ich mag nicht mehr. (Die Schriftstellerin Lena Gorelik über den Alltag in der Isolation, mit Kinderbetreuung, Autorinnentätigkeit und vernachlässigten individuellen Bedürfnissen.)

Seltsam kommt es nun jenen vor die Enkel haben und denen nicht mehr nahe sein dürfen. Vorlesestunden mit kuscheligem Aneinander sind Vergangenheit. Datenfernkommunkation in Ton und Bild stellt keine wirklich genügende Ersatznähe her. Da muss in höchster Not und angesichts akutem Büchermangel der beliebte Logistikdienstleister DHL bemüht werden. Und so gehen Der Räuber Hotzenplotz, die einfallsreichen Geschichten und Bilder von Janosch, Der Maulwurf Grabowski zusammen mit vielen anderen spannenden Erzählungen und bunten Bilderwelten als Fünf-Kilo-Paket auf die Reise zu den Lieben, die geographisch nah, gleichzeitig unerreichbar sind. Seltsam auch das längst erwachsene Kind in einem anderen Land zu wissen, in dem die Menschen zwar die gleiche Sprache sprechen und das ungleich näher liegt als irgend ein sagenumwobenes Timbuktu, das jedoch, gleich dem eigenen Staat, Grenzen definiert, die Begegnungen mit Hüben oder Drüben ausschließen. 

Große Reiche vergehen, ein gutes Buch bleibt. Ich glaube an gut beschriebenes Papier mehr als an Maschinengewehre, lässt Lion Feuchtwanger sein alter ego Jacques Tüverlin im Roman Erfolg feststellen. Corona ist lautlos und hinterhältig, mikroskopisch klein und mit Literatur allein nicht zu besiegen, allenfalls besser zu ertragen. Es gilt die Zeit mit guten Büchern zu überbrücken, bis der Gegner mit den Waffen moderner medizinisch-biologischer Forschung in seine Schranken gewiesen werden kann. Dann wäre neu zu hoffen: Dass die emsige Buchhandlung im Städtchen wieder öffnet, der kleine unabhängige Lieblingsverlag noch existiert, eine nächste Buchmesse angekündigt wird. Und die Generationen wieder auf einem Lesesofa vereint sind.

Buch Wien 2019

Was war und was nicht.

Zuverlässig. Pünktlich. Preisgünstig und fast rund um die Uhr bringen Busse, U-Bahn und Straßenbahnen (Wiener Straßenbahn: 306 Millionen Fahrgäste / 2016, Gleislänge 432 km) der Wiener Linien Tag für Tag tausende Menschen von hier nach dort in dieser faszinierenden Stadt. Von Theater zu Theater. Von Kaffeehaus zu Kaffeehaus. Ins Belvedere, nach Schönbrunn, spät des Abends vom Beisl sicher nach Hause. Oder an die Messehalle D. Zur Buch Wien.

Buch Wien? So nennt sich seit nunmehr 11 Jahren eine Messe, die mit ihrem Namen regionale Begrenzung andeutet und sich gleichzeitig zunehmend zur österreichischen Buchmesse mit Alleinstellungsmerkmal entwickelt. Vielleicht gelingt es dem Format, den bundesdeutschen Vorbildern Leipzig und Frankfurt in den kommenden Jahren in Sachen Größe, Zuspruch und Debattentauglichkeit ein Stück näher zu rücken.

Was fehlte (1). Auf der abendlichen Eröffnungsveranstaltung wurden die angekündigten Michael Köhlmeier und Tobias Moretti vermisst. Sie fehlten krankheitsbedingt. G’rad schad’ war’s. Die entstandenen Lücken boten der sehr animierten und redseligen Vea Kaiser umso mehr Raum und Zeit sich den Gästen als unterhaltsame Plaudertasche und Vollbluterzählerin zu präsentieren. Gerüchte, die Kaiser gäbe nächstens in Salzburg die neue Buhlschaft an der Seite Morettis, erwiesen sich als aus der Luft gegriffen. Es wird die wunderbare Caroline Peters, längst eine der beliebtesten Darstellerinnen am Burgtheater.

Verlage (1). Große und kleine. Erfolgreiche und aufstrebende. Seltsame und weitgereiste aus dem Morgenland. Für so wenige ist Platz in einem kleinen Literaturblog. Es bleibt bei exemplarischen Erwähnungen. Als da wären die Macher von Text/Rahmen. Dominik Uhl und Michael Marlovics haben beide sehr sinnerfüllende Hauptberufe, dennoch sind sie alles andere als Amateure (Roman von Kinga Litkey, erschienen bei Text/Rahmen) im Verlagsmetier. 

Engagement, Herzblut und ein Stück Selbstausbeutung sorgen für das spannende, beachtlich umfangreiche Programm. Autoren und Autorinnen bekommen bei ihnen die meist erste Möglichkeit, mit einem Roman, einer Erzählung die literarische Bühne zu betreten. Ich mag, wie du denkst (Erzählung von Thorsten Pütz bei Text/Rahmen), Ja, und ich mag was sie machen und wie sie es machen. Es gibt natürlich auch Krimis. Und einen erstaunlichen, originellen Bildband von Alex Dietrich mit dem Titel Da letzte Schmäh. Eine visuelle Konfrontation mit den Nicht-Orten Wiens und gleichzeitig heimliche Liebeserklärung an diese Stadt.

Preiswürdig (1). Norbert Gstrein bekam für seinen neuesten Roman Als ich jung war, den österreichischen Buchpreis. (Auch er fehlte auf der Messe krankheitsbedingt.) Der Debütpreis ging – und zu dieser Wahl kann man nur herzhaft applaudieren – an Angela Lehner für Vater unser. Mit dem Titel stand sie bereits auf der Longlist für den deutschen Buchpreis. Die in Berlin lebende Autorin stellte das Buch mit sichtlichem Vergnügen und unverkennbar osttiroler Akzent vor und erzählte anekdotenreich vom mühsamen Werden desselben. Dazu gehörten unter anderem umfangreiche Recherchen im Otto-Wagner-Spital, einer psychiatrischen und sozialmedizinischen Klinik, die durch Thomas Bernhard als Baumgartner Höhe (s. Wittgensteins Neffe) literarisch verwertet wurde. Hier wird die Protagonistin von Lehners Roman eingeliefert, deren Geschichte wir alsdann erfahren. Humorvoll, manchmal tragisch, immer gekonnt erzählt.

Aufgeschnappt (1). Romane sind eine Zeitverschwendung der Leser. Davor verschont uns die bulgarische Dichterin und Bibliothekarin Yordanka Beleva. Sie selbst belässt es bei kurzen Formen, Lyrik und kleinen Erzählungen. Würden alle so schreiben und publizieren, kämen Buchmessen mit deutlich weniger Platz aus. Mir würde allerdings sehr viel fehlen.

Verlage (2). Kaum hatte man die Messehalle betreten, stand man schon vor einem gigantischen Stapel Handke-Bücher. Er hat viel geschrieben, von ihm wurde und wird viel verlegt, über ihn wird reichlich diskutiert, er ist der Literatur-Nobelpreisträger des Jahres 2019, vor Ort war er nicht. Olga Tokarczuk ist die Literatur-Nobelpreisträgerin des Jahres 2018. (Die Ehrung widerfuhr ihr erst in diesem Jahr, gleichzeitig mit Handke, da die Nobelkommission vorübergehend außer Diensten gewesen war.) Ihre Bücher führten am Schweizer Gemeinschaftsstand ein Nischendasein. Die deutschen Übersetzungen werden inzwischen komplett von Kampa verlegt. Bis Ende November soll ihr Werk nahezu vollständig in Neuauflagen vorliegen. Angeboten wurde bereits Die Jakobsbücher, jenes umfangreiche, vielschichtige Werk, für das sie von den Stockholmern ausgezeichnet wurde. (Kampa hat übrigens den derzeit wieder sehr angesagten Simenon im Portfolio.)

Was fehlte (2). Fehlen wird, und das wohl für immer, eine deutsche Übersetzung von Olga Tokarczuk allererstem Roman Podróż ludzi księgi (auf deutsch etwa: Reise der Buchmenschen). Wie bei Kampa zu erfahren war, hat sich die Autorin inzwischen von dem Werk distanziert und lässt eine Übersetzung und das Erscheinen in deutscher Sprache nicht zu. Schade, natürlich wäre nicht nur ich jetzt erst recht gespannt auf diesen Erstling. Es gab ein wenig Hinundher, ob denn bereits einmal eine deutsche Ausgabe dieser Buchmenschen erschienen sei. Alle Recherchen ergaben, dass dem wohl nicht so ist. Auf con=libri gibt es einen Beitrag über Tokarczuks Ur und andere Zeiten

Aufgeschnappt (2). Kinder wollen nichts Postmodernes – sie wollen einfach eine Geschichte. Da kann man Iva Procházková nur zustimmen. Die Tschechin lebt in Wien und ist eine renommierte Kinderbuchautorin. (Die tschechische Kinderliteratur ist ja bekanntlich sehr vielfältig und hochwertig, nicht umsonst werden die Bücher häufig übersetzt.) Letztes Jahr erschien ein erster Kriminalroman von ihr: Der Mann am Grund: Der erste Fall von Kommissar Holina.

Verlage (3). Danube books aus Ulm kümmert sich schwerpunktmäßig um den Donauraum und Südosteuropa. Verleger Thomas Zehender ist ausgezeichnet vernetzt. Dank langjährig gepflegter Beziehungen zu kulturellen Institutionen und Persönlichkeiten aus den entsprechenden Ländern ist ein Programm entstanden, das aus Titeln zu aktuellen politischen Themen, anspruchsvoller Lyrik und erzählender Literatur besteht. Der Verlag möchte nationale Grenzen überwinden und die kulturelle Vielfalt der Donauregion fördern.

Mich hat der bescheidene Auftritt der 81-jährigen Kristiane Kondrat beeindruckt. Danube books hat ihren Roman Abstufung dreier Nuancen von Grau neu aufgelegt. Sie entstammt einer deutschen Familie in Rumänien und wurde als Aloisia Bohn in Reschitz (Banat) geboren. Sie studierte Germanistik und Rumänistik und schrieb zunächst für die Schublade, da eine Veröffentlichung ihrer Arbeiten unter den herrschenden Regimen nicht möglich war. Das Schreiben war für sie Flucht vor der Indoktrination, der Gehirnwäsche durch die offizielle Propaganda. Seit 1973 lebt die Autorin in Deutschland. Vor der Ausreise aus Rumänien wurde sie genötigt zu erklären, dass sie weder mündlich noch schriftlich etwas sagen oder veröffentlichen würde, das der Sozialistischen Republik Rumänien Schaden könnte. Deshalb veröffentlichte sie unter dem Pseudonym Kristiane Kondrat.

In ihrem Roman erzählt sie von einer jungen Frau auf der Flucht, die sich verfolgt und in die Enge getrieben fühlt. Überall stößt sie auf Menschen, die sie scheinbar bedrohen und ihr Angst machen. Doch allmählich kann sie dieser Angst Grenzen setzen und sich letztlich sogar davon befreien. Diese Geschichte einer Traumatisierung und ihrer Überwindung erzählt die Autorin vor dem Hintergrund eigener Lebenserfahrung. Kondrat gelingen kraftvolle Bilder, ihre genauen Beobachtungen gibt sie in poetischer Form wieder. Es ist die Sprache einer reifen Schriftstellerin, der man wünscht, dass sie noch etwas breiter wahrgenommen wird.

Exkurs. Vor undoder nach den Messebesuchen ins Kaffeehaus. Das Café Weimar ist in der Währinger Straße, vom Schottentor kommend, am Sigmund-Freud-Park vorbei, kurz vor der Volksoper in einem Eckhaus. Hier wurde die Urkunde der UNESCO überreicht, die die Wiener Kaffeehauskultur zum immateriellen Weltkulturerbe erklärte. Unverzichtbar – zumindest für mich – bei einem Wienbesuch die Einkehr im beliebten Sperl, und sei es nur wegen der gerösteten Knödel mit leckerem Salätchen. Und natürlich nicht zu vergessen das einmalige Phil. Zum zweiten Frühstück inmitten von Büchern. Hier ist immer wieder eine Entdeckung zu machen, die man anderswo nicht findet. Und dann ist da ja noch das unverwechselbare Publikum. Lehrende und Lernende, Lesende und Schreibende und allerhand anderes kreatives Volk.

Preiswürdig (2). Der Leo-Perutz-Preis für Kriminalliteratur wird von der Stadt Wien und dem Hauptverband des Österreichischen Buchhandels vergeben. Bereits zum zweiten Mal wurde Alex Beer damit ausgezeichnet. Die studierte Archäologin schreibt akribisch recherchierte historische Romane in Form von Krimis. Im Frühjahr erschien der dritte Band rund um den Ermittler August Emmerich. Wie die Vorgänger Der zweite Reiter und Die rote Frau hat Der dunkle Bote das notleidende Wien der Jahre nach dem Ersten Weltkrieg zur Kulisse. Breite Bevölkerungsschichten sind von Armut, Arbeitslosigkeit und fehlenden Perspektiven betroffen. Das ist oft düster, sehr authentisch und ausgesprochen spannend.

Alex Beer auf der Buch Wien 2019

Aufgeschnappt (3). Wir erinnern uns immer so, wie wir es gerade noch ertragen können. Sagte Nora Bossong, die mit ihrem aktuellen Roman Schutzzone auf der Buch Wien 2019 vertreten war. In Schutzzone stehen private Schicksale für eine kritische Auseinandersetzung mit der Rolle der Vereinten Nationen in Krisen- und Kriegsregionen.

Was nicht fehlte. Was wäre eine Buchmesse ohne all den unverzichtbaren Tand und Trödel den man handelstechnisch unter dem Begriff Nonbook zusammenfasst. Also all jene Produkte, für die man nicht notwendigerweise lesen können muss. Sternenstanzer und Stiftespitzer, Pesto und Kürbiskerne, Malbücher, Puzzles und Mottoshirts, Schmink- und Bastelsets, Paprikapulver und Malkreide. Und vieles mehr!

Was fehlte (3). Petra Hartlieb. Tausendsassa und Allgegenwärtigkeit der Branchenszene. Sie hatte sich eine Auszeit genommen und eine Kur gegönnt.

***

Lehner, Angela: Vater unser. Roman. – Hanser, 2019

Tokarczuk, Olga: Die Jakobsbücher oder eine große Reise über sieben Grenzen, durch fünf Sprachen und drei große Religionen, die kleinen nicht mitgerechnet. – Kampa, 2019

Tokarczuk, Olga: Ur und andere Zeiten. Roman. – Neuaufl. Kampa, 2019. s. con=libri

Procházková, Iva: Der Mann am Grund. Der erste Fall von Kommissar Holina. – Braumüller, 2018

Kondrat, Kristiane: Abstufung dreier Nuancen von Grau. Roman mit einem Vorwort von Christina Rossi. – Neuaufl. danube books, 2019

Beer, Alex: Der dunkle Bote. Ein Fall für August Emmerich. Kriminalroman. – Limes, 2019

Bossong, Nora: Schutzzone. Roman. – Suhrkamp, 2019

Links zu den Verlagen:

Text/Rahmen

Kampa

danube books

 

Leipzig wie es liest und lebt

Erster Teil des Rückblicks auf Buchmesse und Festival Leipzig liest 2019

Eine sehr spezielle Form von Prosa enthält die Sächsische Waffenverbotszonenverordnung. In ihr wird seit letztem November festgehalten, dass das Leipziger Gebiet östlich des Zentrums Waffenverbotszone ist. Personen dürfen keine Waffen nach der Definition des Waffengesetzes mit sich führen. Wer es dennoch tut, begeht eine Ordnungswidrigkeit und muss mit einer Geldbuße rechnen. Es gibt nicht wenige Gestalten vor Ort, die der Meinung sind, dass sächsische Verordnungen für sie keine Gültigkeit haben oder die von diesen schlicht nie gehört haben. Die Leipziger Eisenbahnstraße gilt als eine der gefährlichsten Straßen Deutschlands. Einschlägige Statistiken verzeichnen für Straße und Quartier knapp 73.000 Delikte pro 100.000 Einwohner. Das ist auf den ersten Blick kein Spitzenwert, erfasst allerdings nur die aktenkundigen Fälle und der Anteil an Gewaltdelikten ist deutlich höher als andernorts.

Zwischen all den Gemüseläden, Kebap-Buden, Asia-Imbissen, Spätverkäufen, Shisha-Höhlen, den Barbieren für die bärtigen Bewohner mit meist gut definierter Muskulatur, zwischen seit dreißig Jahren abrissreifen Häusern, dem gerade noch bewohnbaren Bestand und sanierten Altbauten, zwischen all dem Sprachengewirr und den Abgaswolken der Geländewagen, sind auch junge Paare mit kleinen Kindern, sind Studenten, Auszubildende und sehr alte Menschen unterwegs, weil sie sich das Wohnen hier leisten können und die Versorgung mit dem Lebensnotwendigen vor der Haustür möglich ist. 

In diesem bunten und quicklebendigen Gemisch gibt es für das abendliche Ausgehen so manchen Geheimtipp, Lokalitäten wie man sie sonst nur von der KarLi (Karl-Liebknecht-Straße) und aus Plagwitz kennt. Wie jene lauschige Kneipe mit integriertem kleinen Buchhandel und einer sehr improvisierten Kleinkunstbühne, auf der Reinhard Kaiser-Mühlecker seinen neuen Roman vorstellte. Die Kulturapotheke, kurz KuApo, findet man in der Eisenbahnstraße 99. Es gibt dort wenig Platz, eine kurze Speisenkarte und wohlfeile Getränke für jeden Geschmack.

Der 37-jährige österreichische Autor kam bereits 2008 auf Empfehlung von Arnold Stadler zu S. Fischer, wo er ein festes verlegerisches Zuhause gefunden hat. Enteignung ist schon sein achter Roman. Er spielt einmal mehr in abgelegener ländlicher Provinz. Für das kriselnde Lokalblatt schreibt ein Journalist, der nach langer Abwesenheit an den Ort seiner Kindheit zurückkehrte. Von der Wucht der eingetretenen Veränderungen während seiner Abwesenheit und dem sich andeutenden weiteren gravierenden Einschnitten in gepflegte Traditionen ist er überrascht. Die Geschichte handelt vordergründig von menschlichen Beziehungen und Affären, viel grundsätzlicher jedoch vom Wandel der althergebrachten Strukturen und Lebensformen. Die damit verbundenen existenziellen Konflikte stellt Kaiser-Mühlecker in seinem Buch exemplarisch dar. 

Er schreibt in einer Sprache, die etwas aus der Zeit gefallen scheint, in ruhigem Ton, detailgenau, mit langem Atem. Man kann an Stifter denken, an Hermann Lenz. Wer sich auf diesen Rhythmus einlässt, erlebt einen der ausdrucksstärksten Schriftsteller dieser so kurzatmigen Zeit. Bei Abschluss seines ersten Vertrags mit dem Verlag wollte er es zur Bedingung machen, dass er nie aus seinen gedruckten Büchern öffentlich lesen müsse. Die Vertragspartner ließen sich darauf zum Glück seiner Leser und Bewunderer nicht ein. Offensichtlich unterschrieb Reinhard Kaiser-Mühlecker dennoch.

In Sachen ländliche Schauplätze kommt uns natürlich Dörte Hansen in den Sinn. Auch sie beschäftigt sich in ihrem aktuellen Roman Mittagsstunde mit Themen rund um die strukturellen Veränderungen im ländlichen Raum. Bilden bei Kaiser-Mühlecker Hügel und Berge Oberösterreichs die Kulisse, ist es bei Hansen die weite platte Fläche Nordfrieslands. Gerade einmal 43 Meter über Meereshöhe erreicht die höchste Erhebung der Umgebung.

Der erste Sommer ohne Störche war ein Zeichen, und als im Herbst die Stichlinge mit weißen Bäuchen in der Mergelkuhle trieben, war auch das ein Zeichen … Die alten Ulmen starben einen Sommer später, am Westerende, wo sie seit hundert Jahren Ast in Ast gestanden hatten.

Auch Dörte Hansen macht einen Heimkehrer zu einem ihrer Hauptprotagonisten. Die Schilderungen der Veränderungen in Mittagsstunde sind langfristiger und weitreichender als bei Kaiser-Mühlecker, sie reichen von der Flurbereinigung in den 1970er-Jahren, über den Einfluss des Klimawandels, bis zur Landflucht von Bewohnern auf der Suche nach auskömmlicher Arbeit. Was das mit den Menschen macht schildert Hansen einfühlsam, gelegentlich deutlich bis drastisch. Bei aller Zuspitzung gibt es immer wieder kleine humorvolle und skurrile Passagen.

Die Autorin, der 2015 mit ihrem Debüt Altes Land ein Lieblingsbuch der Buchhändler und Leser gelang, wurde von Denis Scheck in seiner Sendung Druckfrisch und bei seinen effektvollen, die Massen anziehenden Leipziger Messeshows mehrfach geadelt: Ein Buch voller Wehmut, schmucklos schön, das überraschend und klug in die Zukunft weist. Ein literarisches Ereignis!

Leipzig 2019. Das waren Messefahnen im Frühlingswind. Sonnentage. Hitze unter dem Glasdach. Zartes Grün an Büschen und Bäumen, das die Bilder des Vorjahres, Bilder von Schnee und Eis, liegengebliebenen Zügen, gesperrten Straßen, verblassen ließ. Und so strömten sie aus allen Himmelsrichtungen in ihr Leipzig. Das Leipzig der Bücher, Autoren, Buchhändler, ihr Leipzig der Leser, zum Treffen unter Gleichgesinnten. Fast 286.000 Menschen sollen es am Sonntagabend, als die letzte Lederjacke an der Garderobe abgeholt war, gewesen sein. 

Nahezu 286.000 Besucher. Leser, buchaffine Menschen, die sich zuhause schleunigst ins stille Kämmerlein verziehen, um ihre Neuerwerbungen, die eingesammelten Geheimtipps, die Bestseller der Saison zu verschlingen? Man wird sich eingestehen müssen, dass diese Charakterisierung aus den verschiedensten Gründen nur auf einen kleinen Teil der Messebesucher zutrifft. Das ist nicht neu. Doch zunehmend wildern Smartphones, digitale Medienvielfalt, flexible omnipräsente Anbieter wie Netflix, Amazon mit ihrer ganzen bildgewaltigen Streamingwelt in den Hoffnungen der Buchbranche auf reichlich Leser- und Käufernachwuchs.

Zu allem Überfluss ist es dann auch noch mit der Zukunft der Lesefertigkeit und der Lesekompetenz so eine Sache. Lesenlernen und Leseförderung Leipzig bietet Jahr für Jahr reichlich Podien und Begegnungen die sich mit diesen komplexen und wichtigen Themen beschäftigen. Alle einschlägigen Organisationen und zahlreiche Experten sind vor Ort, stehen für Diskussionen und Gespräche bereit, geben Wissen und Erfahrungen weiter. 

Foto: Tom Schulze

In Halle zwei befinden sich das Forum Kind-Jugend-Bildung und das Fachzentrum Bildung. Dort sind Leseinseln und Lesebuden zu finden, der Leipziger Lesekompass präsentiert gute Bücher für die Jungen und die Jüngsten. Es gibt ein Familiencafé, eine Chillout-Aerea und einen Still- und Wickelraum für Messeteilnehmer die vom Lesen noch nicht einmal träumen können. Und das alles schon seit Jahren. So werden Ideen, Anregungen, Anstöße, Anleitungen ins ganze Land, in Kindergärten, Schulen, Lehrerstudiengänge getragen.

Die nüchterne Bilanz lautet: 20 Prozent der Schüler und Schülerinnen der vierten deutschen Grundschulklassen können nicht flüssig lesen, haben Probleme den Inhalt gelesener Texte wiederzugeben. Sie drohen den Anschluss zu verlieren, an den Schulstoff und schließlich an eigene Lebenschancen. Trotz aller Bemühungen und Förderungen ist keine Besserung in Sicht, letztlich fehlt es in den Schulen an Ressourcen und in den Elternhäusern an Einsicht und Verständnis. 

Bildungsferne Einstellung wird oft von Generation zu Generation weitergegeben. Viele Familien haben ganz andere materielle, existenzielle Sorgen. Lesenlernen, das mit Vorlesen durch Eltern oder Großeltern beginnen kann, wird nicht überall als Wert gesehen. Förderung muss also die Familien der betroffenen Kinder mitnehmen. Sonst gehen immer mehr junge Menschen auf ihrem Weg in die Mitte der Gesellschaft verloren. Die Kompromissfähigkeit, die Fähigkeit Konflikte verbal auszutragen, sich die für eine demokratische Partizipation notwendigen Informationen anzueignen, sinken.

Die Lese- und Literaturnation Tschechien präsentierte sich als Gastland der diesjährigen Leipziger Buchmesse 2019. Notizen dazu stehen im Mittelpunkt des zweiten Teils meines Rückblicks. Den gibt es nächste Woche auf con=libri.

AusLese 2018. Der erste Teil

Höchste Zeit wieder einmal hinzuschreiben was das zurückliegende Jahr an neuen Büchern und guten Geschichten auf die Auslagetische der Buchhandlungen gelegt hatte. Dafür heißt es Anlauf zu nehmen, warten bis Worte und Sätze zu sprudeln beginnen.

Wo hatte ich denn eigentlich den neuen Haas hingelegt? Und das Buch von dieser Melandri? An Maxi verliehen? Das kann nicht sein. Hier liegt es doch. Auf den CDs.

Ja. Erst einmal etwas Musik auflegen zur Einstimmung bevor es an die Tastatur geht. Vielleicht was Weihnachtliches? Last Christmas? (Siehe dazu später unten: Thomas Bauer zum Thema Verlust der Vielfalt!) Felix Meyer könnte passen. Mal eben kurz reinhören …

Wie soll’n wir kleinen Menschen nur / mit kleinen Schritten, kleinen Schuh’n / sehen dass das nicht das Paradies / sondern nur Weihnachten ist.

Weihnachtszeit auf den Straßen / wo es schneit oder zieht, / oder regnet, so dass man die Tränen nicht sieht. / Wir kleinen Menschen haben Spaß, / sehen uns die Schönheit gut an, / doch nur von Weitem hinter Glas, / weil man nicht alles haben kann.

Weihnachtszeit in den Straßen / ist der Winter so kalt. / In weit aufgeriss’nen Augen / spiegeln sich Dreck und Gewalt …

Foto: Wiebke Haag

Die AusLese 2018. Wie immer bedenkenlos subjektiv und unvollständig.

Was dann nachher so schön fliegt. Junger Dichter. Mitte der 1980er Jahre. Die Zeit als Zivi im Altersheim ist für Volker keine leichte. Er ist dort Außenseiter, möchte Dichter werden, Lyriker. Erträumt Begegnungen mit Persönlichkeiten der Literaturszene. Als ihm auf einem Kurztrip nach Paris sein bis dahin bestes Gedicht gelingt, bewirbt er sich um Teilnahme an einem Treffen für Nachwuchsschriftsteller in Berlin. Dichterwettstreit, Alltag im Altersheim, die Atmosphäre im Berlin der Vorwendezeit, reale Begegnung mit Heiner Müller und Co., erste große Liebe. Kein leichtes Alter, wenn man so um die 20 ist.

Hilmar Klute hat eine Ringelnatz-Biografie und zahlreiche Streiflichter für die Süddeutsche Zeitung verfasst. Nun ist sein erster Roman erschienen. Temporeich und dicht geschrieben. Gelungener Einblick in die Gedankenwelt eines jungen Mannes mit all seinen Ambivalenzen und ein Stück Kulturgeschichte der alten BRD. Wirkung des Buches auf mich: Fesselnd, in einem Rutsch durchgelesen.

Klute, Hilmar: Was dann nachher so schön fliegt. Roman. – Galiani, 2018. Euro 22.

Ans Meer. Die heitere Lektüre für zwischendurch und ideales kleines Geschenk für nahezu jeden Lesertyp. Die krebskranke Carla möchte noch einmal ans Meer. Sie steigt in den Linienbus von Anton. Der ist gerade nicht so gut drauf, aber zu einer mutigen Wende in Leben und Fahrtrichtung bereit. Seine Durchsage an die Fahrgäste deshalb: Wir fahren jetzt ans Meer. Warmherzige, federleichte Geschichte über das Schwere im Leben. Von dem österreichischen Autor René Freund hatte ich bereits seinen Roman Liebe unter Fischen als Sommerlektüre vorgestellt. Er schreibt unterhaltsam ohne in Kitsch und Klischees abzugleiten. Aus meiner Sicht: In jeder Lebenslage zu empfehlen. Mir persönlich sind seine Bücher zu kurz. Die Geschichte mit Carla hat lediglich 140 Seiten. (Naja, vielleicht ist sie gerade deshalb so gut.)

Freund, René: Ans Meer. Roman. – Deuticke, 2018. Euro 16.

Freund, René: Liebe unter Fischen. Roman. – Goldmann TB, 2015. Euro 8,99

Junger Mann. Bücher zu lesen ist zwar vorteilhaft für Hirn und Gemüt, verbraucht allerdings nur rund 100 Kalorien pro Lesestunde. Nicht klären konnte ich, ob das für Arno Schmidt und James Joyces gleichermaßen gilt wie für Dora Heldt oder Dan Brown. Der 13-jährige Held in Wolf Haas neuem Roman jedenfalls muss körperlich deutlich mehr tun um seinen adipösen Neigungen entgegenzuwirken. Er ist schwer verliebt und möchte entsprechend fesch daher kommen. Leider ist die Angebetete fast zehn Jahre älter und verheiratet. Mit dem Tscho. Und der hat ganz besondere Pläne mit dem jungen Mann. Coming-of-Age-Geschichte, Roadmovie, ein sehr spezielles Dreiecksverhältnis, Kalorienzählerei, überraschende Wendungen. Ein wunderbarer Roman, voller (auf den zweiten Blick!) ausgesprochen liebevoller Protagonisten. Kein Brenner-Haas, aber einmal mehr ein Buch in ganz eigener Haas-Sprache, die zu den Figuren passt wie dafür ausgedacht. Mein Eindruck: Hin und weg.

Haas, Wolf: Junger Mann. Roman. – Hoffmann und Campe, 2018. Euro 22.

Alle, außer mir. Ein Titel mit Komma, der etwas mehr Leseerfahrung und Durchhaltebereitschaft erfordert, als die bisher vorgestellten. Für mich eines der Bücher des Jahres. Als die Lehrerin Ilaria mit dem jungen Afrikaner Attilio Profeti konfrontiert wird, der behauptet ihr Bruder zu sein, entfaltet sich eine über drei Generationen erzählte Familiengeschichte und ein tiefgreifender Ausflug in die italienische Geschichte des 20. Jahrhunderts. Im Mittelpunkt stehen neben den familiären Verwicklungen und Geheimnissen des Profeti-Clans die verdrängten Kapitel der unseligen Kolonialgeschichte des bis heute innerlich zerrissenen Italien. Fast 600 Seiten, die es Leser und Leserin nicht immer leicht machen, die dafür jeden der sich darauf einlässt in ihren Bann schlagen.

Große Literatur der in Rom geborenen Autorin Francesca Melandri und wie Kritiker fast übereinstimmend konstatieren bereits ihr drittes Meisterwerk. Ihren zweiten Roman Über Meershöhe hatte ich ebenfalls in meinen Sommerlektüren kurz vorgestellt. Er eignet sich, ebenso wie das jetzt wieder neu aufgelegte erste Buch Eva schläft, bestens für ein erstes Kennenlernen der Schriftstellerin Francesca Melandri. Wer danach zu Alle, außer mir greift, wird mit einem außergewöhnlichen Leseerlebnis belohnt. Mein Eindruck: Nachhaltig. Überrascht, was die italienische Literatur der Gegenwart zu bieten hat.

Melandri, Francesca: Alle, außer mir. Roman. Aus dem Italienischen von Esther Hansen. – Wagenbach (wo sonst?), 2018. Euro 26.

Melandri, Francesca: Über Meereshöhe. Roman. Derzeit vergriffen, erscheint 2019 bei Wagenbach neu.

Melandri, Francesca:  Eva schläft. Roman. Neuauflage 2018 bei Wagenbach. Euro 15,90.

Keyserlings Geheimnis. Nach Konzert ohne Dichter ein weiterer Künstlerroman des fleißigen Klaus Modick. Bücher von Klaus Modick kann man eigentlich immer bedenkenlos kaufen, und natürlich lesen. Ich kenne keinen richtigen Missgriff von ihm. Der gute Eduard Keyserling (1855 – 1918) ist schon längst aus der ersten Reihe der Literaturgeschichte verschwunden. Einige seiner kurzen Romane und Erzählungen sind noch greifbar (Wellen, Fürstinnen). Dass er eine schillernde Figur war, ein bewegtes Leben führte und in einer Zeit lebte, in der nicht jeder Fehltritt und jedes Missgeschick der Boulevardpresse anheim fiel, bietet Modick soliden Stoff für seinen Roman. Und die Fantasie anregende Gelegenheit um auf der Basis gesicherter Fakten sein Netz aus hinzu erdachten Möglichkeiten zu knüpfen. Für mich: Literaturgeschichte in unterhaltsamer Form aufbereitet – immer willkommen.

Modick, Klaus: Keyserlings Geheimnis. Roman. – Kiepenheuer & Witsch, 2018. Euro 20.

Über Verluste. Im September durfte ich ein neues Fremdwort lernen. Ambiguität bezeichnet alle Phänomene der Mehrdeutigkeit, der Unentscheidbarkeit und Vagheit, mit denen Menschen fortwährend konfrontiert werden. So definiert Thomas Bauer, Professor für Islamwissenschaft und Arabistik, Sprachwissenschaftler und Germanist, einen Schlüsselbegriff seines Büchleins Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt. Klingt vielleicht im ersten Moment etwas akademisch und hochtrabend, ist aber in der Tat gut lesbar und verständlich. Und eine überfällige und notwendige Lektüre.

Bauer führt uns die schleichende Reduzierung von Vielfalt und das Verschwinden des Unangepassten, Unzeitgemäßen vor Augen. An die Stelle von Artenvielfalt, konkurrierender Denkschulen, origineller Sichtweisen und Lebensentwürfen sind Schubladendenken und simpler Fundamentalismus getreten. Häufig verschleiert durch den inflationär verwendeten Begriff Authentizität. Konformismus und Gleichschaltung erzeugen, so die Überzeugung Bauers, letztlich Rassismus und Fanatismus. Bedrohliche Gleichmacherei macht er aus bis in die Kreativbezirke von Kunst, Musik, Mode.

Ganz konkrete Verluste hat Judith Schalansky in einem hinreißenden Erzählband verzeichnet. In meinem Beitrag über die Buch Wien 18 habe ich das Werk bereits vorgestellt. Es kann vielleicht als erzählerische Konkretisierung zu Thomas Bauers allgemeiner Abhandlung herangezogen werden. Lesefreude und haptischen Buchgenuss bietet es allemal.

Bauer, Thomas: Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt. – Reclam, 2018. Euro 6.

Schalansky, Judith: Verzeichnis einiger Verluste. – Suhrkamp, 2018. Euro 24.

Das Ende des Jahres ist nah. Und ich bin spät dran mit meinem literarischen Rückblick. Deshalb gibt es einen zweiten Teil schon in einigen Tagen. Dann mit Krimis.

Das Lied Weihnachtszeit in den Straßen von Felix Meyer (auf dem gleichnamigen Album von 2016) ist übrigens die deutsche Version eines französisches Chansons, das im Original einst keine geringere als Edith Piaf sang: Le noel de la Rue.

Mich Thomas Bauers Bedenken anschließend, wünsche ich mir und uns Vielfalt. Dass zum Beispiel wieder mehr populäre Musik in nichtenglischer Sprache gesungen, abgespielt und gesendet würde. Mehr Französisch, Spanisch, Italienisch, Schwedisch, Polnisch, Serbisch, Deutsch und und und. Ein frommer Wunsch – ich weiß.

Das Buch verschwindet!

Es unken die Unken, es pfeifen die Spatzen vom Flachdach und selbst die Verbandsfunktionäre glauben zu wissen: Das Buch verschwindet. Zumindest das gedruckte. Zuerst werden Gebrauchsanweisungen und Lehrbücher obsolet, bis schließlich auch die erzählende, sogenannte Schöne Literatur, der digitalen Übermacht erliegt.

Jene, die glauben es wissen zu müssen, versichern, dass nur die Digitalisierung helfen kann wenigstens die Inhalte zu sichern. Auf Speichermedien, in Clouds. Für alle Ewigkeit. Sicher und fest wie die strahlende Hinterlassenschaft des Atomstroms im Salzbergwerk. Verfügbar über alle Hard- und Softwaregenerationen hinweg. In sicherer Obhut von Microsoft, Google und Companie.

Die Märkte wissen wie immer Bescheid, die Wahrsagerin hat es längst gewusst, im Kaffeesatz steht es, selbst in Familien deren Mitglieder seit Jahrhunderten Buchhandel betreiben macht sich die Gewissheit breit: Das Buch verschwindet! Schließlich sagen uns aktuelle Statistiken, dass immer mehr Menschen immer weniger lesen. Dass der Absatz von Druckwerken von Jahr zu Jahr rückläufig ist.

Noch ist es nicht so weit. Derzeit zeugen sogar einige Trends scheinbar vom Gegenteil. Noch nie gab es so viele Lesefestivals, große und kleine Buchmessen, Tauschbörsen, offene Bibliotheken, Bibliotheksneubauten, junge Verlage, Autoren und Autorinnen. Doch dies sei ein letztes Aufflammen, Strohfeuer und ohnehin nur von Minderheiten wahrgenommen und frequentiert.

Es sei, so wieder die Statistiker, in dieser Hinsicht wie mit der Vermögensverteilung, immer weniger Menschen besitzen immer mehr. In unserem Fall vom Wirtschaftsgut Buch. Gut, wer kann sich bei der seit Jahren zu beobachtenden Preisentwicklung auf dem Wohnungsmarkt noch ein Heim leisten in dem Raum für meterlange Bücherregale ist? (Eine fundierte Untersuchung über die Wechselwirkungen von Wohnungs- und Buchmarkt ist überfällig.) So wird der Buchbesitz in Zukunft vielleicht zur Sache von Snobs und Begüterten. Zum Sammelgut, zur Wertanlage. Was weniger wird, wird wertvoll. Was wertvoll ist weckt Begierde.

Pädagogen, Bibliothekare, Traditionalisten der Branche und viele engagierte Leser stemmen sich dem Trend entgegen. Setzen auf Lesekompetenz, auf gut ausgestattete Bibliotheken und Archive. Betonen die Bedeutung des Vorlesens im frühen Kindesalter. Eltern, Großeltern, Paten und Freunde sind als Lesevorbilder gefragt. Von Kulturpolitikern, Schulen und Vorschulen wird Unterstützung finanzieller und struktureller Art gefordert.

Das sind Übergangsstadien, wird prognostiziert, die das endgültige Verschwinden allenfalls hinauszögern. Die Endzeit hat längst begonnen.

Foto: Wiebke Haag

Es wird anders kommen.

… als die Literatur beginnt, sich vom Atem des Menschen zu lösen und auf ein Trägermedium auszuwandern, beginnt sie sich gewissermaßen reisefertig zu machen. (Jürgen Wertheimer in Weltsprache Literatur)

Nach ersten Versuchen auf Steintafeln und Papyrusrollen erwies sich spätestens seit Gutenberg das gedruckte Buch als idealer Träger für alles was sich Menschen nicht nur mitteilen, sondern darüber hinaus für folgende Generationen bewahren wollten. Das Erzählen wird nicht aufhören solange es Bewohner auf diesem Planeten gibt. Wenn eines fernen oder auch näheren Tages dieses menschliche Erzählen längst an seinem Ende angekommen sein wird, wird es die niedergeschriebenen und in Satz und Druck wiedergegebenen Erzählungen immer noch geben.

Der große Widerspenstige unter den deutschen Schriftstellern des zwanzigsten Jahrhunderts, Arno Schmidt, hat dies zutiefst bedauert. Er setzte auf ein rasches Vergessenwerden nach seinem Tod, das schien ihm Erlösung. In seiner Erzählung TINA oder über die Unsterblichkeit schildert er in einer fiktiven Konstellation wie schrecklich es sein kann, wenn dies nicht eintritt.

Dichter und Dichterinnen landen nach ihrem Ableben in einem quälenden Hades. Sie möchten die unwirtliche Stätte so rasch wie möglich verlassen. Allerdings dürfen sie nicht, solange sie nicht komplett vergessen sind. Endgültig tot ist nur der, an den sich niemand mehr erinnert. Die Aussichten sind nicht allzu rosig. Solange noch 1 Exemplar eines ihrer Bücher vorhanden ist, besteht schon gar keine Aussicht. Während also heute immer mehr Zeitgenossen gegen das Vergessenwerden anschreiben (Wer schreibt der bleibt!), sind unseren Unterweltbewohnern ihre gedruckten Werke zum Verhängnis geworden.

Mit den Hinterbliebenen und den Büchern, die sich als unausrottbar erweisen, bleibt die Erinnerung. Es wird jedoch unumkehrbar eine Zeit kommen, da selbst diese entschwindet. Mit den Letzten der Menschheit. Auf dem entmenschlichten Planeten zurück bleiben Echsen und Ameisen, strahlenmutierte Riesenspinnen und zweiköpfige Ratten. Und unzählige verstreute Bücher. Seit Myriaden von Jahren ungelesen, unbeachtet, sich selbst und der Macht der Natur überlassen.

Martin Luther war sich bekanntlich sicher, stünde nächstentags der Weltuntergang bevor, würde er heute noch ein neues Apfelbäumchen pflanzen. Eine Mischung aus Verzweiflung, Hoffnung und Lebenskraft. In den letzten Jahrzehnten entdecken politisch junge Staaten ihr kulturelles Erbe und setzen auf Pflege und Bewahrung. Das Bild in diesem Artikel zeigt den 2015 fertig gestellten Neubau der lettischen Nationalbibliothek in Riga. Das von Gunnar Birkerts entworfene Gebäude beherbergt etwa fünf Millionen Medieneinheiten (ca. 2,5 pro Einwohner), überwiegend in gedruckter Form. Ein kühnes, mutiges Vorhaben, das Tradition bewahrt und Zukunft signalisiert.

Literaturwoche Donau 2018

Der kleine Rückblick. Knapp und persönlich.

Es kann gut tun, wenn man intellektuell gefordert, ja überfordert wird. Es wird viel zu oft viel zu wenig verlangt. Der deutsch-schweizer Philosoph und Schriftsteller Jonas Lüscher wies darauf hin. Und sein Roman Kraft, den er in der Ulmer Stadtbibliothek vorstellte, ist genau so ein Werk, dessen voller Genuss sich entfaltet wenn man ihn mit einem kleinen Rucksack an Voraussetzungen angeht. Die Geschichte vom Tübinger Rhetorikprofessor (sic!), der nach Kalifornien reist um dort in mehrfacher Hinsicht zunächst heftig ins Schlingern zu geraten um schließlich zu kentern.

Was für ein wunderbarer Ort diese Stadtbibliothek. Als Büchersammlung, als Treffpunkt, als Veranstaltungsort, als markanter Mittelpunkt inmitten historischer Umgebung, eine Glaspyramide, transparent und einladend. Drinnen Bücher, Bücher, Bücher, Leseplätze und W-LAN, draußen Passanten, Cafés, Restaurants, reges Stadtleben.

Die Literaturwoche Donau 2018 ist punktgenau im Hochfrühling gelandet. Es wärmt, grünt und blütenstaubt. Im Bus sitzt schräg gegenüber einer der keinen Bart hat. Dafür hält er in der einen Hand eine Doppel-LP aus Vinyl und in der anderen einen Viererpack Drumsticks.

Angesichts der explodierenden Natur kommen mir die Pflaumen- und Kirschbäume in den Büchern von Iris Wolff in den Sinn. Nicht nur sie lobte das besondere Ambiente und die einmalige Atmosphäre des Ulmer Veranstaltungsreigens. Sie habe sich sehr wohl gefühlt, ließ sie wissen, im nostalgisch trendigen Casino, das bis auf den letzten Vintage-Sessel besetzt war. Ihr gefiel, dass sie ihren Verleger Arno Kleibel vom Salzburger Otto Müller Verlag an ihrer Seite hatte.

Nicht zuletzt weil er ihr erlaubt hatte ihren aktuellen Roman in vier Erzählungen nach einer rumänischen Redensart So tun, als ob es regnet betiteln zu dürfen. Man muss wissen, dass Verleger und Lektoren (angeblich verkaufshemmende) Kommata in Buchtiteln überhaupt nicht schätzen. Ein Abend, der wie so manch anderer, vom gut vorbereiteten Florian L. Arnold moderiert wurde, der als Mitorganisator genügend Ausdauer für diese lange Woche hatte und für jede unvorhersehbare Gesprächswendung ein rhetorisches Werkzeug.

Als der ohne Bart aussteigt kann ich das Plattencover erkennen: Bryan Adams. Dabei hatte ich auf Jazz getippt. Es sind diese ganz eigenen, charaktervollen Lokalitäten die ein Gutteil des Reizes der Literaturwoche ausmachen: Die Räume der Ulmer Museumsgesellschaft, das ehemalige Sparkassen-Casino, das Museum Villa Rot in Burgrieden (Abstecher nach abseits der Donau), das Edwin-Scharff-Museum in Neu-Ulm, die Putte ebendort.

Die Putte ist eine ehemalige Schreibwarenhandlung. Hier habe ich als bayerischer Volksschüler Hefte, Stifte und Bucheinbände erstanden. Jetzt haben sich Künstler in die freigeräumten und weiß gestrichenen Räume eingemietet, zeigen ihre Werke und laden zu kleinen, intimen Runden. Wie jene mit den schreibenden Vonhiers Sybille Schleicher, Florian L. Arnold und Silke Knäpper. Sie stellten jeweils eines ihrer Lieblingsbücher den anderen beiden, sowie den versammelten Neugierigen vor. Sie ließen wissen, wie schwer die Auswahl gefallen war. Arnold hatte Sebalds Austerlitz dabei, Schleicher Transit von Anna Seghers, aktuell weil gerade eine Petzold-Verfilmung des Stoffes angelaufen ist. Beide Bücher kannte ich bereits.

Neu war für mich Meine Freunde des Franzosen Emmanuel Bove. Silke Knäpper hatte es mitgebracht. In den 1920er-Jahren mäandert Bâton durch Paris. Er ist Kriegsinvalide. Die Rente reicht zum Nötigsten. Anders als Knut Hamsuns alter ego einige Jahrzehnte früher leidet er keinen Hunger. Ihn quält die Einsamkeit. Von einer Suche nach Anschluss, Freundschaft, Liebe handelt dieses Buch. In klarer präziser Sprache, ein Stil frisch wie von neulich, ebenso gut wie unverkennbar übersetzt von Peter Handke. Wahrhaftig, ich habe kein Glück. Kein Mensch interessiert sich für mich… Ich war traurig und wütend. Die Vorstellung, mein ganzes Leben würde in Einsamkeit und Armut ablaufen, verstärkte meine Hoffnungslosigkeit.

An zehn Tagen Literaturwoche gab es eigentlich nur Höhepunkte. Doch wenn es nur Höhepunkte gibt, entstehen keine Gipfel, sondern lediglich eine ausgedehnte Hochfläche. Braucht eine Veranstaltung wie die Literaturwoche deshalb mehr Auf und Ab, Gut und Besser, Mehr und Weniger? Am Ende ist es so, dass das dichte Angebot es jeder und jedem ermöglicht persönliche Favoriten zu finden. Was kann es Schöneres geben als Vielfalt mit Qualität und Niveau? Dass nicht alle Ulmer, Neu-Ulmer das bemerkt haben … Geschenkt.

Wie man seine Stadt mit anderen Augen sieht, wenn man eine Veranstaltung der Literaturwoche Donau verlässt! Warum waren denn alle die jetzt dort draußen sind nicht ebenfalls dabei, sondern haben sich mit Zimteis, Cappuccino, Weizenbier und Donauufer zufrieden gegeben?

Begeistert vom Flair des Donauufers und der Altstadt waren, soweit sie Zeit dafür fanden, die Aussteller der erstmals veranstalteten kleinen Buchmesse, die unter dem Label Konturen stattfand und zu der fast 20 Verlage gekommen waren. Viele davon arbeiten nach einem Motto das dem großen Verleger der Weimarer Republik, Kurt Wolff, zugeschrieben wird, nachdem man zwar von der Verlegerei nicht leben, gleichwohl gut damit leben könne. Das angebotene Spektrum dieser unabhängigen Buchmacher reichte von der Beatlyrik über wiederentdeckte Romane, literarische Texte auf CDs gepresst, die wie Singlescheiben längst vergangener Populärmusik-Zeiten aussehen, bis zu Buchrollen und Kinderbüchern.

Am Samstag war die Verkaufsausstellung etwas außerhalb zu Gast, in der Villa Rot im idyllisch gelegenen Burgrieden. Am Sonntag dann in den Räumen der Museumsgesellschaft in Ulms stark frequentierter Mitte. Weit Gereiste waren dabei, wie Jürgen Schütz und sein Wiener Septime Verlag, spannende Spezialisten wie Moloko Print oder Ralf Zühlkes Stadtlichter Presse, Verlage aus der Region wie Thomas Zehenders danube books, Etablierte wie der Peter Hammer Verlag. Einfache Tische, reichlich Büchervorräte, gedruckte Verlagsprogramme und -vorschauen, interessiertes Publikum und auskunftsfreudige Verleger garantierten den Erfolg dieses Formats, das auf jeden Fall wiederholt werden soll.

Lesen ist Entspannung, Bereicherung, Vergnügen und gelegentlich Mühsal. Wer Erholung von mitunter vielleicht etwas zu voraussetzungssatter Lektüre sucht, der greife zu den Büchern von Martin Ebbertz. Humor mit Geist, Witz mit Geschmack bieten Werke wie Feuer in der Eiswürfelfabrik, 66 Kürzestgeschichten über kleine Katastrophen und alltägliche Beobachtungen von Dingen wie sie überall und jederzeit passieren können oder eben auch nicht, weil sie der Phantasie des Schriftstellers entspringen. Erschienen im Axel Dielmann-Verlag.

In einer Eiswürfelfabrik brach ein furchtbares Feuer aus. Die Feuerwehr kam mit vielen Wagen. Die Feuerwehrmänner schoben die Leitern vor und rollten die Schläuche aus. Mit starken Wasserstrahlen spritzten sie in die Fabrik… Die Arbeiter trugen Eiswürfel aus der brennenden Fabrik, soviel sie konnten. Sie schwitzten viel und bekamen schwarze Gesichter. Am Abend war der Brand gelöscht… Zur Belohnung durften die Arbeiter sich jede Menge Eiswürfel mit nach Hause nehmen. Daraus kochten sie sich dann Tee oder Kaffee.

Ebbertz hat neben zahlreichen Büchern für sogenannte Erwachsene auch für Kinder geschrieben. Als Beispiel sei hier nur noch Der kleine Herr Jaromir genannt, der, so schrieb DIE ZEIT, aus einem anderen Land stammt, einem wo Kinder und Dichter gemeinsame Sachen machen.

Die Literaturwoche Donau bot zehn Tage Gelegenheit sich gemein zu machen. Mit Schriftstellerinnen und Schriftstellern, mit Verlegern und Verlegerinnen, mit Literatur in seiner schillernden Vielfalt. Vor allem aber mit all den tollen Menschen, die teilen, was man selbst liebt.

An der Donau ist Literaturwoche!

Zehn Tage Leidenschaft für Literatur, besondere Bücher aus unabhängigen Verlagen, ergänzt um feine musikalische Anreicherungen. Vom 20. bis zum 29. April dauert die diesjährige Literaturwoche Donau. Der Verein Literatursalon Donau e. V. und zahlreiche Partner und Unterstützer laden ein.

Freunde schöner Poesie und Poetik, großer Erzählungen und überraschender Texte sollten vorschlafen und sich die Abende und Wochenenden freihalten für das ambitionierte und breit gefächerte Programm. 

Am Freitag 20. April findet bei freiem Eintritt die Eröffnungsveranstaltung im Haus der Museumsgesellschaft Ulm in der Neuen Straße statt. Mit Hernan Ronsino ist gleich eine der wichtigsten Stimmen der argentinischen Literatur zu Gast. Er hat den Übersetzer Luis Ruby und seinen deutschen Verleger Ricco Bilger mitgebracht. Für die musikalischen Akzente des Abends sorgt das Silber Quartett.

Zwei markante Veranstaltungsorte im Rahmen der Literaturwoche Donau 2018: Ulmer Münster und das Haus der Museumsgesellschaft

Was bieten die folgenden Tage?

Um nur einige Höhepunkte zu nennen: Jonas Lüscher stellt seinen Roman über das Streben und Scheitern des Rhetorikprofessors Kraft vor. Iris Wolff liest aus dem vielbesprochenen und hochgelobten, aus vier zusammenhängenden Erzählungen bestehenden Roman So tun als ob es regnet (bei dem Titel handelt es sich um eine rumänische Redensart). Bei Anna Baars Als ob sie träumend gingen begegnen wir einer kroatisch-österreichischen Autorin, die ebenso sprachmächtig wie anrührend von Liebe in Zeiten des Krieges erzählt. Der Schweizer Thomas Meyer besticht mit feinem Humor und Hintersinn. Sein aktuelles Buch Trennt euch! ist konsequenterweise eine überraschende Liebeserklärung an die Beziehung zwischen zwei Menschen.

Ein Tag ohne Bier ist wie ein Tag ohne Wein behauptet Thomas Kapielski. Um das zu überprüfen wird am Schlusssontag zu einer Frühschoppenlesung ins Ulmer Künstlerhaus geladen. Es empfiehlt sich jedoch Zurückhaltung beim Genuss geistiger Getränke, denn am Abend kann man zusammen mit Sudabeh Mohafez den Münsterturm besteigen. In schwindelnder Höhe wird sie ihren Stadtschreibertext vorstellen, der für diese Literaturwoche entstanden ist.

Künstlerhaus und Münsterturm sind nur zwei der wunderbaren Lokalitäten die Florian Arnold und Rasmus Schöll, die beiden Hauptmacher der Veranstaltungsreihe, dem Publikum erschließen konnten. Gespannt sein darf man nicht zuletzt auf die Botschaft internationale Stadt im Herzen Ulms auf dem Hans-und-Sophie-Scholl-Platz. Im bayerischen Nachbarn Neu-Ulm geht es zum Wiley-Kiosk, ins frisch renovierte Edwin-Scharff-Museum und das beliebte Café d’Art.

Im Rahmen der diesjährigen Literaturwoche Donau findet schließlich und zum guten Schluss noch die Erste Ulmer Buchmesse der unabhängigen Verlage statt. Am Sonntag, 29. April im renommierten Museum Villa Rot in Burgrieden (der Ort liegt etwa 20 Kilometer südlich der Donau-Doppelstadt) und bereits einen Tag zuvor, dem Samstag, in den Räumen der Museumsgesellschaft Ulm. 19 Verlage aus ganz Deutschland – aus Ulm sind danubebooks und Topalian & Milani vertreten – präsentieren ein breites Spektrum schöner Bücher, exquisiter Gestaltung und hochwertiger Literatur. Der Eintritt ist frei.

In den Städten Ulm und Neu-Ulm hängen bereits flächendeckend die von Joachim Brandenburg großartig gestalteten Einladungs-Plakate aus. Hinsehen lohnt sich. Das vollständige Programm (das natürlich viel mehr bietet als die hier aufgeführten Appetithappen) mit genauen Angaben zu Orten, Zeiten und Preisen findet man überall dort wo Kultur stattfindet, ganz sicher aber in den beiden Stadtbibliotheken und der Buchhandlung Aegis.

Infos im Netz gibt es hier:

http://literatursalon.net/literaturwoche-donau-2018/

 

Leipziger Buchmesse 2018

Momente, Meinungen, Bücher

* * *

Mit dem Wetter anfangen? Geht gar nicht?

Diesmal doch. Leipzig liegt geoklimatisch bereits weit im Osten. Selten wurde das metereologisch so spürbar wie in diesem Jahr zur Buchmesse-Zeit. Strenger Winter in der zweiten Märzhälfte. Schnee und Glätte. Beißend kalter Wind. Womit haben wir Büchermenschen das verdient und wer ist schuld? Die Russen? Trump? Naht, wie vor zehntausend Jahren, eine kleine Eiszeit?

Samstag und Sonntag gestörter Zugverkehr. Weichen sind eingefroren. In den imposanten Leipziger Hauptbahnhof konnten zeitweise keine Fernzüge einfahren. Der S-Bahn Verkehr in Mittelsachsen kam zum Erliegen. Konsequenz: Die Messe-Verantwortlichen verfehlten die selbstgesetzten Wachstumsziele. Am Sonntagabend bilanzierte man viele tausend Besucher weniger als erwartet.

Es sollte eine politische Messe werden, hatte deren Chef Oliver Zille zum Beginn verkündet. Es wurde eine politische Messe. Alle waren gegen rechts, wobei nie ganz klar schien in welcher Schublade gerade gekramt wurde. Der fundamental-konservativen, einer stramm rechten, einer rechtsradikalen. Die Grenzen fließen. Wer redet mit wem und wer mit wem nicht? Es wurde eifrig und heftig diskutiert und gestritten, immer einigermaßen friedlich, meist gesittet. Doch blieb unscharf was als freie Meinungsäußerung durchgehen darf und was nicht. Dabei haben wir doch ein Strafrecht und ein Grundgesetz.

Unsere Grundrechte heißt das aktuelle Buch von Georg M. Oswald. Welche wir haben, was sie bedeuten, und wie wir sie schützen. Eigentlich kommt das Buch des Juristen und Schriftstellers zur richtigen Zeit. Bei all den kruden Forderungen nach gesetzlichen Verschärfungen die inzwischen von Politikern aller Lager in die Debatte eingebracht werden, gerät in Vergessenheit welch verlässlichen Rahmen wir bereits haben. Wer den bewährten und tradierten Spielraum verlässt wird ein Fall für Polizei, Staatsanwaltschaft und gegebenenfalls das reich kommentierte Strafrecht. Alles da. Es wird Zeit sich dessen zu vergewissern und es anzuwenden.

Gomringer macht Grass. Grimms Wörter, die Huldigung des 2015 verstorbenen Dichters an die deutsche Sprache, wurde von dem Trommler und Grass-Freund Günter “Baby” Sommer vertont. Nora Gomringer verfügt über die Fähigkeit Töne und Sprache zu einem kongenialen Ereignis zu vereinen. Wie immer wenn diese Frau etwas macht wurde es originell, eigen und sehr gut. Siebzig ganz besondere Minuten als Scheibe oder MP3-File, bei Günter Grass Hausverlag Steidl erschienen. Ansonsten erscheinen die gedruckten Schöpfungen Nora Gomringers treu und regelmäßig bei Volland und Quist. Einer dieser jungen unabhängigen Verlage die sich seit etlichen Jahren rund um die Leseinsel Junge Verlage gruppieren.

Dort waren auch die Ulmer Florian Arnold und Rasmus Schöll mit ihrem bereits recht erfolgreichen verlegerischen Startup Topalian und Milani zu finden, in produktiver Symbiose mit der Edition Azur. Die strategisch äußerst günstige Standlage an zwei Laufwegen sorgte für rege Publikumsfrequenz und für die erwünschte Wahrnehmung des ambitionierten Programms, das großen Wert auf hochwertige Gestaltung und Herstellung der Bücher legt. Rechtzeitig zur Messe wurde eine kleine Edition mit Kunstkarten nach Motiven von Anatol Knotek fertig. Im Zentrum der Arbeiten des Künstlers stehen das Wort und seine visuellen Ausdrucksmöglichkeiten.

Julius Fischer hier, Julius Fischer dort. Das Urgestein der ostdeutschen Lesebühnen, der Slam- und Kabarett-Szene war quasi überall. Mal beißender Realsatiriker, mal urkomische Erscheinung war ihm stets großer Publikumszuspruch sicher. Im Herzen ist er ein echter Menschenfreund. Deshalb heißt sein aktueller Buchtitel, mit dem er über die Messe zog und die Säle nicht nur in Leipzig füllt, Ich hasse Menschen. Durch seinen Kakao wird alles gezogen was zwei Beine und Schuhe hat.

Guter Rat muss ja bekanntlich nicht unbedingt teuer sein. Das trifft dann besonders zu, wenn die Lebenshilfe zwischen zwei Buchdeckel gepresst wohlfeil angeboten wird. Das Angebot dieser Gattung ist auf beiden großen deutschen Buchmessen reichlich vertreten. Nachfolgend ein besonders prägnantes Beispiel, das den Besuchern in Leipzig entgegenleuchtete. Es spricht für sich.

Die Löwen-Apotheke ist die älteste der Stadt. Als Apotheke Zum güldenen Löwen wurde sie 1409 gegründet. Nach mehrmaligem Umzug ist sie heute Ecke Brühl/Nikolaistraße zu finden. Hier stellte Ellen Sandberg vor kleinem Publikum und inmitten hochpreisiger Schönheitsversprechen (in die Kosmetikabteilung im Obergeschoß passten nur 35 Personen) ihren Roman über Die Vergessenen vor, in dem es, verpackt in eine sehr spannende, vielschichtige Handlung, um das Thema Euthanasie im Dritten Reich geht. Ellen Sandberg erläuterte ausführlich ihre Recherchen und den folgenden Schreibprozess. Ein interessiertes Publikum trug nach der Lesung mit dem Thema angemessenen Wortmeldungen dazu bei, dass diese Veranstaltung inhaltlich tiefer ging und mehr wurde als nur eine von vielen Lesungen im Rahmen von Leipzig liest.

Es gibt einfach nichts in meinem Leben, was sich zu erzählen lohnt. Gar nichts. Behauptet der Protagonist in Christoph Heins großem Deutschlandroman Glückskind mit Vater, der 2016 erschien. Auf einer Buchmesse gibt es viel zu erzählen, schließlich treffen sich dort Leute, die etwas zu sagen haben. Und man erfährt von den vielen neuen Erzählungen aus den Federn und Tastaturen auflagenstarker Autoren, talentierter Nischenbesetzer, von Dichtern ferner Länder, von lustigen und traurigen Geschichten, Neuigkeiten und alten Legenden.

Drei ganz persönliche Favoriten die mir in der Masse des Überangebots aufgefallen sind, die es gewiss zu lesen lohnt, seien hier ultrakurz vorgestellt:

Angelika Klüssendorf hat mit Jahre später einen dritten Roman über ihre den Lesern längst vertraute Hauptfigur April geschrieben. Aus dem Mädchen ist eine Ehefrau geworden. Es sei die Anatomie einer toxischen Partnerschaft versprechen Verlag und Autorin. Wie die Vorgänger besticht auch dieser Roman durch eine klare, knappe Sprache und nüchtern realistische Darstellungskraft.

Dana Grigorcea stammt aus Rumänien, lebt in Zürich und schreibt auf Deutsch. Ihr neuestes Werk ist die Novelle Die Dame mit dem maghrebinischen Hündchen. In dieser Anspielung an den ähnlichen Titel einer Tschechow-Erzählung geht es um die verheiratete Tänzerin Anna deren Leben vor dem Hintergrund des gesitteten Wohlstands der Schweiz durch eine Begegnung eine überraschende Wendung erfährt. Elegante, schöne Sprache.

Klaus Modick: Nach Brecht, Feuchtwanger und Rilke ist nun der inzwischen literarisch wiederentdeckte Eduard Keyserling an der Reihe. Modick versteht es in unnachahmlicher Weise aus Lebensabschnitten interessanter Figuren der Literaturgeschichte spannende Romane zu machen. Keyserlings Geheimnis ist selbst dann lesenswert wenn man den aus dem damals deutschen Lettland stammenden adeligen Autor bisher nicht kannte.

Literatur und Musik sind Geschwister. Gerne machen Sie einmal etwas zusammen. Und so gibt es jedes Jahr auf der Leipziger Buchmesse eine Abteilung mit Musikalien aller Art und Ständen namhafter Musikverlage. Im Mittelpunkt das Musik-Café, ein Ort des Innehaltens, wie auch der musikalischen Präsentationen, der Vor- und Aufführungen schöner und manchmal schräger Töne. Ein Ort für Zuhörer. Für Messemenschen, die dem literarischen Dauertrubel für einige Augenblicke entkommen möchten und gerne zu- und hinhören. Der Abstecher zur Musik lohnt sich in Leipzig Jahr für Jahr.

Heiteres und stimmungsvolles Erlebnis war in diesem März eine musikalische Kurzbiographie Wolfgang Amadeus Mozarts. In erster Linie an Kinder adressiert hatten auch alle Nichtmehrkinder, Erziehungsberechtigte und zufällig Anwesende ihren großen Spaß an den Darbietungen die eine handvoll Mitglieder des MDR-Symphonieorchesters und des MDR-Chores arrangiert hatten. Mit sichtlichem eigenen Vergnügen erfreuten sie eine begeisterte Zuschauerschar aus Jung und ein wenig Älter.

Buch voraus lautete das diesjährige Motto in Leipzig. Ein Slogan der eher ratlos macht, weil man sich sofort fragt, was kommt dahinter? Wenn das Buch voraus geht und – wie Schwarzseher unken – demnächst hinweg, was folgt?

Das Buch bleibt, behauptete mit Nachdruck und Überzeugungskraft der rumänische Politiker und Schriftsteller Varujan Vosganian. Er nannte zahlreiche Beispiele aus der Literaturgeschichte von einst verbotenen, geächteten, verbrannten Büchern, die höchst lebendig in den Regalen der Gegenwart stehen. Er sprach über Diktaturen und ihre erbärmlichen Versuche Bücher und Literatur zu verhindern oder zu verbieten. Er erwähnte den Medienwandel. Sein Fazit war immer: Das Buch widersteht und übersteht. Es ist da und es bleibt. Wenn etwas eine Zukunft hat, dann das gedruckte Buch. Beim alljährlichen Besuch der Leipziger Buchmesse ist man geneigt ihm Recht zu geben.

Vosganian gehört zu einer armenischen Minderheit in Rumänien, davon handelt sein Buch des Flüsterns. Rumänien ist ein Land mit starken Minderheiten und deshalb ein komplexes Gebilde, politisch und literarisch. Mehr dazu demnächst auf con=libri.

Bier und Buch

Die Wirtschaft blüht, die Konjunktur glüht.

In allen Branchen?

Keineswegs. Einige weniger bedeutende Geschäftszweige können nicht Schritt halten. So sind die Buchverkäufe und die Zahl der Leser in unserer Republik der Drucker und Dichter in den letzten zwölf Monaten zum wiederholten Mal deutlich gesunken. Immer mehr Buchhandlungen schließen.

Gleichzeitig geht der Bierkonsum im Land der Trinker und Denker Jahr für Jahr zurück. Die Zahl der selbständigen Brauereien zwischen Schlei und Isar, Rhein und Oder sinkt bereits seit Jahrzehnten. Bestehen da etwa Wechselwirkungen in Sachen steigender Unlust an Buch und Bier? Lauern negative Synergien? Mögliche Zusammenhänge wurden bisher unzureichend bis gar nicht untersucht.

Die Fakten sprechen für sich: Seit 2011 fällt das Volumen des Bierabsatzes in Deutschland pro Kopf und Jahr kontinuierlich. Für 2021 wird ein Allzeittief von 91,7 Litern erwartet. Bei derzeit 82,67 Millionen Einwohnern (31.12.2017) sind das voraussichtlich bescheidene 7 Milliarden, 500 Millionen, 580 Tausend Liter und einige Kölschgläschen. Ein ähnliches Bild des Jammers bietet der Buchabsatz. Nur noch gut 40 Millionen Menschen kauften 2017 überhaupt ein Buch – also nicht einmal jeder zweite Mitbürger. Lediglich drei Millionen waren bereit mehr als 20 Bücher nach Hause zu tragen. Für die nächsten Jahre ist mit weiteren signifikanten Rückgängen zu rechnen.

Die Frage nach Korrelationen drängt sich auf. Sind es die Biertrinker die weniger Bücher kaufen oder ist es eine buchaffine Bevölkerungsgruppe deren Bierdurst nachlässt? Würde ein erhöhter Bierverbrauch gleichzeitig den Buchabsatz steigern? Oder muss mehr gelesen werden damit der Zapfhahn öfter läuft? Wieviele Menschen kaufen eigentlich Bücher und Bier? Und wie hoch ist die Zahl der Zeitgenossen die auf beides glauben verzichten zu können? Schnittmengenanalysen liegen bis dato nicht vor.

Die Mönche des Mittelalters kamen kaum zum Lesen. Wenn sie nicht gerade beteten oder Choräle sangen, schrieben sie mit eigener Hand fromme Texte in dicke Bücher, die kunstvoll ausgestattet und gebunden in den Klöstern zu ansehnlichen Bibliotheken heranwuchsen. Heute gern besuchte und bestaunte kulturhistorische Kleinodien. Zur Stärkung tranken die Brüder Bier, nicht zu knapp und nicht zu schwach. Bevorzugt zur Fastenzeit, in der allerhand Sättigendes und Wohlschmeckendes rituell untersagt war, griff man gern zum Krug in dem erhöhte Stammwürze schäumte. Der eine oder andere Klosterbräu hat die Unbilden sich wandelnder Zeiten überstanden.

Zu jeder Zeit gab es Poeten die maßlos Bier tranken und trotzdem gut schrieben. Jean Paul und Oskar Maria Graf sind hinlänglich populäre Bespiele.

Der aus dem putzigen Wunsiedel stammende Jean Paul hieß eigentlich Johann Paul Friedrich Richter und schwor auf den Gerstensaft seiner fränkischen Heimat. Englisches Bier, das zu seiner Zeit in Deutschland ganz gerne ausgeschenkt wurde, war ihm ein Greuel: Trink ich’s noch ein Jahr, so bin ich todt. Weilte er freiwillig oder gezwungen fern der Heimat ließ er sich von dort mit Nachschub versorgen. Dabei war er in ständiger Sorge wegen möglicher Versorgungsengpässe. Sollte das Bier schon unterwegs sein – was Gott gebe – so bitt ich Sie herzlich, sogleich neues nachzusenden; weil der Transport vom Faß in mich viel schneller geht als von Bayreuth nach mir!

Oskar Maria Graf versuchte sein Heimweh im New Yorker Exil mit reichlich Biergenuss zu lindern. Er behauptete, dass er die amerikanischen Dünnbier-Marken lieber durch die Gurgel rinnen ließe als das einst gewohnte bayerische Vollbier. Als er zum 800-jährigen Jubiläum Münchens 1958 eingeladen war und zum ersten Mal nach dem Krieg wieder deutschen Boden betrat, wurde er gefragt, wie es so ein Urbayer in den USA aushalten könne. Er antwortete, dass New Yorker Bier sei … ausgezeichnet und nicht so blähend und dickflüssig wie das bayrische Exportbier. Die Behauptung war eine Spitze gegen die bayerische Bier-Hauptstadt in der die braune Bewegung ihren Ausgang nahm und den Dichter ins Exil zwang. Er wurde nie heimisch in New York, sprach kaum Englisch, organisierte einen Stammtisch für geflohene deutsche Schriftsteller und brauchte reichlich Bier zum Trost. Man wird allmählich so skeptisch, daß man überhaupt alles anzweifelt und sich ganz und gar zurückzieht — oder sich sinnlos besäuft.

Foto: Bernd Michael Köhler

Für beharrliche Viel- und Dauerleser ist Biertrinken während der Lektüre ab gewisser – individuell sicher unterschiedlicher – Grenzwerte kontraindiziert. Es vernebelt die Sinne, umnachtet den einen oder anderen Hirnlappen, senkt die Konzentrationsfähigkeit, macht müde. Die situative Lesekompetenz verringert sich rapide, kontrastierend steigt die Akzeptanz von Zeitungen mit vielen Bildern und großen Überschriften. Oder das Zappen durch mittlerweile 400 bis 500 Banalkanäle in den TV-Netzen bildet die bedenkliche Übergangsphase zum hopfengeförderten Tiefschlaf.

Trösten wir uns. Die Auswirkungen sinkender Umsätze der Buch- und Bierbranchen auf unsere Volkswirtschaft und ihr Bruttosozialprodukt sind marginal. Sie werden spielend und mehrfach kompensiert durch den immer höhere Sphären erklimmenden Automobilabsatz deutscher Premium-Hersteller und den damit einhergehenden Gewinnen der sie produzierenden Konzerne. (Finanzminister, Bänker, Vorstände und Kleinanleger haben chronisch glänzende Augen.) Nicht nur die Dividenden und Prämien wachsen, auch die vierrädrigen Vehikel werden immer voluminöser.

Kommen wir so etwa einer Ursache für den steten Bier- und Buchabschwung auf die Spur? Schließlich lässt sich aktives Autolenken nur schwer mit Lektüre und Maßkrugstemmen verbinden und wird gerne verkehrsrechtlich sanktioniert. Zwar führt ein moderner SUV den Fahrer jederzeit locker durch unwegsames Gelände, im Kofferraum sind jedoch nur noch selten prall gefüllte Büchertaschen undoder Biergebinde zu finden.

Was erwartet uns demnächst jenseits von Bibliotheksstaub, Bierdunst, ZeeOzweiwolken und Stickoxydnebel?

Wann macht der Buchhändler unseres Vertrauens die Tür seines Ladens zum letzten Mal hinter sich zu? Wie lange werden die Abfüllanlagen in den verbliebenen Brauereien noch laufen? Sind die Abwärtstrends bei Bier und Buch zu stoppen?

Wir müssen es wohl mit Einstein halten und erkennen dass Prognosen schwierig sind, vor allem wenn sie die Zukunft betreffen.

Das war hilfreich:

bier.bayern-online.de

statista.de

Bayerischer Hinkelstein. In: DER SPIEGEL vom 27. Juni 1977

Hampson, Tim: Das Bierbuch. Brauereien Marken Biertouren. Über 1700 Biere aus aller Welt.– Dorling Kindersley, 2015