Trotz alledem!

Leipzig im März 2022. Ein Rückblick auf die Tage an denen so getan wurde als sei Buchmesse.

Die Leipziger Buchmesse 2022 wurde abgesagt. So ging es Anfang Februar durch Presse, Funk und Foren. Müßig, einmal mehr die Gründe für diese Entscheidung aufzuzählen. Zu erzählen bleibt, was dennoch geschah.

Den Kern der Veranstaltung bildete in den zurückliegenden coronafreien Jahren bekanntlich die eigentliche Messe auf dem Leipziger Messegelände im Norden der Stadt, mit aufwändigen Ausstellungsständen, Präsentationen, Lesungen, Diskussionen und einer breiten Medienpräsenz. 

Angestoßen von den Verlegern Leif Greinus (Voland & Quist) und Gunnar Cynybulk (Kanon Verlag), ermöglicht von zahlreichen Unterstützern und Helfern, wurde in diesem Jahr ein sogenanntes buchmesse popup auf die Beine gestellt. In einer ehemaligen Fabrikhalle des werk 2, einem der soziokulturellen Dreh- und Angelpunkte der Stadt, im beliebt-berüchtigten Stadtteil Connewitz. Gedacht als Trostpflästerchen, um die entstandene Leere, die Lücke, mit einer spontanen, einmaligen Aktion zu füllen.

Irgendwie fand die Leipziger Buchmesse in diesem Jahr trotzdem statt. Die Medien finden überragend positive Worte für das alternative Messeprogramm der Popup-Buchmesse. Die Rede ist von Selbstbehauptung und Erfindungsgeist. Urteilte das Börsenblatt des Deutschen Buchhandels, das maßgebliche deutsche Fachblatt für die Buchbranche. Und in der WELT war zu lesen: …die von 60 unabhängigen Verlagen improvisierte Pop-up-Buchmesse in Leipzig war ein Ereignis.

Bei diesen und vielen ähnlichen Einschätzungen, die Print und Online zu finden waren, ist viel Wohlwollen im Spiel. Meiner Meinung nach zu viel. Dass diese Initiative im werk 2 ein Ereignis war, dem kann ich immerhin zustimmen. Nur mit einer etwas anderen Interpretation als in den medialen Urteilen.

Bei allem Respekt für den Wagemut und die Tatkraft der Veranstalter und ihrer Helfer. 10.000 Besucher sollen es an drei Tagen gewesen sein. Mag sein. Jedenfalls wurde der Auftrieb zum Durchtrieb im Zweistunden-Rhythmus. Aufgeteilt in praktikable, den Corona-Einschränkungen gerecht werdende Herden. Online eingecheckt, drei-G-abgecheckt und als buchaffiner Schwarm ein- und losgelassen. Und schon ging es rund im meist richtungsgleichen Kreisverkehr, um Stände und ausgelegte Bücher der etwa 60 überwiegend kleineren, unabhängigen Verlage.

Statt professionell gestalteter Messestände schlichte Tische, bedeckt mit Buch an Buch und allerhand ergänzenden Materialien. Flohmarktanmutung. Da fehlten nicht nur die gewohnten Gratishäppchen und -tröpfchen, die Kugelschreiber mit Verlagslogo, die Lesezeichen oder die Luftballons für die quengelnden Kleinen. Es fehlte schlicht zu Vieles, was anziehend, einladend, werbend wirken konnte. Von der löblichen Initiative und ihrer Umsetzung war ja nicht unbedingt Erleuchtung zu erwarten, etwas mehr Beleuchtung zur Erhellung des verbreiteten Dämmers wäre schön und praktisch gewesen. So waren in der umgerüsteten Werkshalle auf die Entfernung alle Bücher grau. Und erst beim Nähertreten, für das oft energisches Drängeln erforderlich war, wurden aus den Schatten hinter den Tischen beflissene Anbieter und nicht immer kompetente Auskunftgeber.

Nun ist das werk 2 nur einer von vielen spannenden Veranstaltungsorten in Leipzig. Nur eine der zahlreichen schönen, manchmal kuriosen Lokalitäten. An mehreren dieser bewährten Orte fanden ebenfalls Veranstaltungen statt, die zu normalen Buchmessezeiten unter dem Label Leipzig liest ihren Platz gefunden hätten. Wie z. B. in der Südbrause, einst der proletarischen Wochenreinigung dienend, nun Gastronomie und beliebter Treffpunkt. In direkter Nachbarschaft zum werk 2 stellten hier unter anderem Bov Bjerg, Fatma Aydemir, Vladimir Vertlib und der frisch gekürte Buchpreisträger Tomer Gardi ihre neuesten Bücher vor.

In der Alten Handelsbörse, ein Schmuckstück, zentral im Stadtzentrum gelegen, hatte der MDR seine Bühne aufgebaut. Hier stand in Gesprächsrunden und Diskussionen häufig Politisches im Vordergrund, kam man sehr schnell vom rein Literarischen auf das aktuelle Kriegsgeschehen und seine Folgen. 

Im Kreativviertel Plagwitz gibt es die Schaubühne Lindenfels. Hier weckte Österreich Vorfreude auf seinen Auftritt als Gastland der Buchmesse 2023. Unter dem Titel Wildes Österreich gab es eine Lange Nacht der österreichischen Literatur. Ebenfalls in der Schaubühne präsentierte sich Tschechien, mit einem Abend, der Echo Tschechien hieß. Dem in Deutschland sehr bekannten und beliebten Jaroslav Rudis war zudem eine eigene Veranstaltung gegönnt. Und am Abend der portugiesischen Literatur wurden die Gäste mit Ola Portugal begrüßt. Hier gab es zu Literarischem großartige Musik von dem Komponisten und Liedermacher Rodrigo Leao.

Vom zukünftigen Gastland Österreich, so war zu erfahren, wird es einen Literatur-Podcast geben. Er soll Interesse wecken an Büchern, Menschen und Geschichten aus dem Nachbarland: Literaturgespräche mit Katja Gasser. Die künstlerische Leiterin des Gastland-Auftritts spricht zweimal im Monat mit österreichischen Autorinnen und Autoren über Leben und Schreiben und darüber, wie beides wechselwirkt. Die nächste Ausgabe ist für den 4. April geplant. Dann ist Teresa Präauer die Gesprächspartnerin.

Besonders repräsentativ und prächtig ist die Kongresshalle am Zoo, die tatsächlich aus mehreren Sälen besteht. Auf der Bühne des größten wurde das Blaue Sofa aufgestellt. Das Möbel von ZDF, ORF, DLF Kultur und Bertelsmann gehört zu den beliebtesten Institutionen des Messegeschehen sowohl in Leipzig wie auch im Herbst in Frankfurt. Es erfordert einige Konzentration, um zum Eingang der Kongresshalle am Zoo zu gelangen. Lässt man die vermissen, kann es einem gehen wie mir. Erst als die vielen Eltern mit kleinen Kindern und Kinderwagen nicht mehr zu übersehen waren, ging mir auf, dass ich in der falschen Schlange stand, nämlich jener zum Leipziger Zoo.

Vor dem richtigen Eingang herrschte dann keineswegs großer Zuspruch. Man wurde zügig eingelassen und betrat den Saal, dessen Reihen eher spärlich besetzt waren. Welch ein Kontrast zum sonst üblichen begeisternden Anstürmen und Drängeln auf den Messen. Statt den dort üblichen Menschenaufläufen herrschte diesmal eine Art Seminarcharakter. Statt Begeisterungswellen gesitteter Beifall des aufmerksamen Publikums. 

Eine interessante, intime Atmosphäre der Aufmerksamkeit und Hinwendung, die vielleicht den auftretenden Schriftstellerinnen und Schriftstellern gar nicht so unrecht war. Zu erleben waren an den zwei Sofa-Tagen Karl-Markus Gauß, der Träger des Leipziger Preises zur Europäischen Verständigung, Florian Weber und Judith Kuckart, Lucy Fricke, deren neuer Roman Die Diplomatin beweist, dass es auch in deutscher Sprache Schreibende gibt, die einen guten Unterhaltungsroman zustande bringen. Michael Mittermeier, der das Publikum mit einem schlagfertigen Auftritt amüsierte. Und natürlich viele Weitere.

Zurück zum Leipziger popup im werk 2. Mitorganisator Greinus geht fest davon aus, dass es beim einmaligen Aufpoppen bleibt, dass 2023 wieder eine Messe im gewohnten Ambiente stattfinden wird. Mit Österreich als gut vorbereitetem Gastland. Im Interview mit dem Börsenblatt formulierte er seine Erwartungen: Die Leipziger Buchmesse wird 2023 wieder regulär stattfinden und die “buchmesse popup” staubsicher verpackt. Wir schmeißen allerdings nichts weg! Wenn wieder mal irgendwo eine Buchmesse abgesagt wird, haben wir eine schnell umzusetzende Alternative im Koffer.

Man kann dankbar sein für das, was in diesem Jahr realisiert wurde. Leipzig blieb präsent. Naturgemäß fehlte es an Breite, das war so nicht anders möglich. Es fehlte jedoch auch eine gewisse Tiefe. Darunter fallen für mich die vielfältigen fachlichen wie menschlichen Kontakte, die unerwarteten Begegnungen, die überraschenden Entdeckungen. Es fehlten die meisten Kollegen, Freunde und Freundinnen aus Ost- und Südosteuropa. Die Medienwirkung fiel bescheiden aus und gönnerhaft gleichlobend.

Leipzig im März 2022 verließ man mit der dringlichen Hoffnung, dass im nächsten Jahr wieder alles so sein möge wie bis 2019. Die Messe dort, wo sie hingehört. Das begleitende Lesefestival Leipzig liest. Das Gedränge in der Straßenbahnlinie 16, vor dem Blauen Sofa, in der Autorenarena und vor den vielen abendlichen Veranstaltungsorten in der Innenstadt. Pandemiefrei. In einem Europa ohne Krieg.

Stadt ohne Messe

Über die Gefahr weiterer Verluste

2018 erschien ein ebenso originelles wie großartiges Buch der Schriftstellerin und Buchgestalterin Judith Schalansky. Das Verzeichnis einiger Verluste. Im Herbst desselben Jahres konnte ich Werk und Autorin auf der BuchWien (eine Art österreichische Buchmesse) kennenlernen. Es war zu einer unbeschwerten Zeit, als Gedränge in Messegängen und in überfüllten Veranstaltungsräumen sorglos selbstverständlich waren. Niemand ahnte, dass ein gutes Jahr später Begriffe wie Corona, Covid-19, Epidemie und Pandemie in aller Munde sein würden.

Judith Schalansky schreibt, in dem von ihr selbst gestalteten, bibliophil anmutenden Band, von dem, was nicht mehr ist. Dem kaspischen Tiger, der ausgestorben ist, dem Hafen von Greifswald, dessen Verbindung zum Meer inzwischen verlandet ist, dem Palast der Republik in (Ost)-Berlin, einst vitales Repräsentations- und Veranstaltungszentrum des DDR-Staates, inzwischen abgerissen. 

Von den Sieben Büchern des Mani, eines Predigers und Missionars, Begründer des Manichäismus; Glaubensrichtung und verfasste Schriften des Persers, der im 3. Jahrhundert n. Chr. lebte, sind bis auf Rudimente aus der Welt verschwunden. Schalansky schreibt über die Sängerin und Dichterin Sapphos, von deren legendären Liebesliedern die aufgefundenen Schnipsel allenfalls eine Ahnung ermöglichen. Sollte sich Judith Schalanskys Verlag eines Tages zu einer erweiterten Neuauflage ihres Buches entschließen, wird sie möglicherweise einen Beitrag über die verschwundene Leipziger Buchmesse hinzufügen müssen.

Die Leipziger Buchmesse 2022 wurde abgesagt. So ging es dieser Tage durch Presse, Funk und Foren. Coronabedenken und Querrechner in großen Medienkonzernen, die ihre Teilnahme zunächst zugesagt hatten, später zurückzogen, gaben den Ausschlag für die Entscheidung von Stadt, Freistaat und Messeleitung. Um welche Art Firmen handelt es sich?

Zum Beispiel das Holtzbrinck-Konglomerat. In Deutschland findet man unter dessen Dach traditionelle Marken wie S. Fischer, Rowohlt, Kiepenheuer & Witsch, Droemer Knaur. Das große Rad dreht der Konzern international. Über MacMillan Publishers gehört er zu den großen Mitspielern im Geschäft mit der Vermarktung digitaler wissenschaftlicher Information. Dass hier Milliardenumsätze generiert werden, ist weniger bekannt. Science journals, Datenbanken, Forschungsdaten und deren Management, sprich Verwertung und Vermarktung, übersteigen die Erlöse traditioneller Literaturverlage um ein X-faches. Dazu kommen Beteiligungen an Zeitungsverlagen, Fernsehsendern, Plattformen und Streamingdiensten. Bleibt ein Name wie Holtzbrinck, für Bertelsmann, Bonniers und Co. gilt Gleiches, einer Angebotsmesse fern, fehlen dieser mehr als nur ein paar Stände.

Allerdings wird in der aktuellen Berichterstattung kaum deutlich, dass man die Marke Leipziger Buchmesse nicht auf seine Standaufbauten reduzieren kann. Nicht auf adrettes Verkaufspersonal, reichlich fließenden Perlwein, stets gut gefüllte Schälchen mit Knabberzeug. Es geht keineswegs lediglich um die nicht auszurottende Prospekt- und Flyerflut, um verschenkte Kugelschreiber, um bunte Luftballons für den Konsumentennachwuchs.

Leipzig im März, ob es schon blüht oder, wie nicht selten, das Winterweiß zurückkehrt, ist neben der traditionellen Messe der Buch- und Medienbranche ein dicker Strauß weiterer Veranstaltungen und Ereignisse. Wie die Manga-Comic-Con, das junge farbenfrohe Event, zu der Fans aus ganz Deutschland anreisen, um sich, als Comic- oder Mangafiguren verkleidet, zu treffen, auszutauschen, miteinander zu feiern – für viele ein lang erwarteter Jahreshöhepunkt.

Von zentrale Bedeutung ist seit über 20 Jahren das Lesefestival Leipzig liest, mit hunderten Lesungen und Präsentationen über die ganze Stadt verteilt. In Buchhandlungen und Apotheken, Theatern und Kulturzentren, Bahnhöfen und Kneipen, alten Sälen und angesagten Cafés. Die Auftritte bieten Autoren, deren Werke nicht auf den Sellerlisten vertreten sind, vielleicht erst am Anfang ihrer Karriere stehen, nicht zu unterschätzende Einkommensmöglichkeiten.

Dazu kommen Fortbildungen, Branchentreffs, Angebote für den Berufsnachwuchs, Leseförderung und Medienpädagogik für Kinder und Jugendliche. Schulungen und Informationen, die sich an Pädagogen, Buch- und Medienschaffende, Blogger und andere Influencer, Netzwerker, Schreibende aller Art oder solche, die es werden wollen, richten. Nicht zu vergessen die Antiquariatsmesse, ein eher ruhiger Ort im Messetrubel, der wie ein Relikt aus anderer Zeit wirkt. Hier werden sehr traditionelle Formen der Buchverehrung gepflegt, treffen sich exzellente Experten, Sammler, Händler und Neugierige.

Die Leipziger Messe bildet einen bewussten, gewollten Gegenpol zum Herbstereignis in Frankfurt. Hier stehen kleinere Verlage, die Leserschaft, Bildungs- und Leseförderung, im Fokus. Und man erlaubt sich eine Blickrichtung, die in den Osten und Südosten Europas gerichtet ist, während andernorts der dominante angelsächsische Markt im Vordergrund steht. Dieser Frühjahrshöhepunkt ist zudem von einiger merkantiler Bedeutung für die Stadt, ihren Handel, Hotels und Gastronomie.

Die Geschichte der Buchmesse in Leipzig geht weit zurück. Leipzig war nach der Reformation und dem folgenden Erfolgszug des Buchdrucks einer der wichtigsten Druckorte Europas. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts begann der Aufstieg zur bedeutenden Messestadt. Der erste Ratsmessekatalog mit Neuerscheinungen erschien 1594, vier Jahre früher als in Frankfurt am Main, das sich zum Konkurrenten entwickelte.

Auch die Stadt am Main hat eine lange Buchmessetradition, wichtige Institutionen der Buch- und Verlagswelt haben hier ihren Sitz. Hier befindet sich die Paulskirche, in der alljährlich der Friedenspreis des deutschen Buchhandels vergeben wird. Frankfurt ist die Geburtsstadt der Klassikerikone Goethe, den es später für kurze Zeit nach Leipzig zog, wo er es recht wild trieb und dabei auf Ideen kam, die im Lebenswerk Faust ihren Niederschlag fanden.

Dieser Tage, noch vor dem Leipziger Messestorno, verbreitete sich von Frankfurt am Main aus ein Raunen in der Republik. Brauchen wir Leipzig eigentlich? Sind zwei Buchmessen im Jahr notwendig? Fällt nach dreimaligem Ausfall ein endgültiges Verschwinden überhaupt auf? Sind nicht die meisten Betriebe einer einst blühenden Druck- und Verlagslandschaft, die lange die Stadt prägte, längst in den Westen oder nach Berlin abgewandert? Und ein maßgeblicher Journalist stellte in Frage, inwieweit eine unwirtschaftliche, auf staatliche und städtische Unterstützung angewiesene Veranstaltung, überhaupt vertretbar sei.

Viel Salz in der Suppe. Wer löffelt sie aus?

Fiele Leipzig tatsächlich wie auch immer gearteten Zwängen oder Absichten zum Opfer, wären die Leidtragenden kleine unabhängige Verlage, die hier ihren Platz haben, weil sie in Frankfurt untergehen würden und sich den Auftritt ohnehin nicht leisten können. Es wäre dies der von Ladenketten unabhängige Buchhandel, eine Vielzahl Autoren und Autorinnen, denen Präsentations- und Einkommensmöglichkeiten entfielen. Betroffen wäre eine begeisterte Leserschaft samt Lesernachwuchs, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dieses kleinen und besonderen Kulturbereichs. Betroffen wären einmal mehr die Messebauer. Die Gastronomie und die Gastgeber der sächsischen Metropole.

Die Konsequenz wäre darüber hinaus eine tendenzielle Verschiebung von Marktsegmenten hin zu den großen globalen Playern, wäre eine Zunahme der Monopolisierung, eine Gemengelage, in der es für Originalität, Nischenprodukte, Neues, immer schwerer würde einen Platz, einen Weg zum Publikum zu finden. Der Vorrang für Absatzchancen und grenzenlose Gewinnorientierung bedeutet einen Verzicht auf Vielfalt und Ideenreichtum. In Leipzig wurden bisher Kompetenzen und Kreativität unterstützt und gefördert. Ein Nährboden, eine Talentschmiede, auf die mittel- und langfristig ausgerechnet die Marktgrößen im Interesse der Zukunft ihrer Geschäftsmodelle angewiesen sind. 

Inzwischen protestieren betroffene Interessengruppen gegen das aus ihrer Sicht kurzsichtige und unangebrachte Vorgehen und verurteilen die vorschnelle Absage. Sie fordern ein klares Bekenntnis zur Fortsetzung der Leipziger Buchmesse. Sehr schnell meldete sich die Kurt-Wolff-Stiftung zu Wort, ein Zusammenschluss eben jener kleineren unabhängigen Verlage, und bekräftigte die Teilnahmebereitschaft für dieses und kommende Jahre. Eine Solidaritätsaktion, die sich für den Erhalt der Leipziger Buchmesse einsetzt, verbunden mit einer Unterschriftensammlung, läuft im Netz und findet regen Zuspruch.

Sehr deutlich wird die Süddeutsche Zeitung in ihrer Ausgabe vom Samstag, den 13. Februar: 

Verstörung. Berlinale, Londoner Buchmesse, Lit.Cologne. Alle Großveranstaltungen finden statt, nur die Leipziger Buchmesse nicht. Chronologie eines kulturellen Desasters in Deutschland. 

Resümierend heißt es im Blatt: Die Leipziger Buchmesse hätte stattfinden können, wenn die drei großen westdeutschen Verlagskonzerne sich aufgerafft … hätten. Wenn es in den Konzernzentralen ein Bewusstsein gegeben hätte für die Rolle, die die Leipziger Buchmesse in der ostdeutschen Gesellschaft spielt …, und … was für ein wichtiger Brückenkopf sie ist für die liberalen, demokratischen Gesellschaftsteile in Polen, Ungarn, der Ukraine

Ein Bewusstsein für gesellschaftspolitische Verpflichtungen und eine Mitverantwortung für demokratische Gesellschaftsteile ist eben nicht profitabel, Ostdeutschland und ganz Osteuropa kein vielversprechendes Geschäftsfeld.

Unter dem Titel Drei Jahre ohne den Frühling der Literatur macht sich der Leipziger Schriftsteller Clemens Meyer, einst Gewinner des Preises der Leipziger Buchmesse, in der Leipziger Volkszeitung Gedanken über die geistige Leere, die im Frühjahr mit der dritten abgesagten Buchmesse in Leipzig einhergehen wird. Er glaubt, dass man in Leipzig vieles ertragen kann, was dem Osten zugemutet wird, wenn die Literatur fünf Tage Einzug hielt. Wir müssen sie ja nur ein wenig pflegen, unsere Dichter und ihre Werke. Die letzten Buchhandlungen unserer Stadt (und damit meine ich die kleinen, privat geführten) sind die Denkmäler einer immer währenden Revolution, friedlich, aber gar nicht niedlich …

Bleibt die Hoffnung, dass Judith Schalanskys Verzeichnis einiger Verluste noch viele Neuauflagen erleben wird, und dass diese ohne ein ergänzendes Kapitel auskommen.

Bis nächstes Jahr – in Leipzig!

Die letzte Lesung

Blau karierte Tischdecke, Rotwein und Pizza Frutti di Mare. Der Kellner im perfekt sitzenden Anzug mit nobler Fliege. Den italienischen Akzent wird er sich antrainiert haben, denn er wurde vor zwei Generationen in Deutschland geboren. Er sorgt sich dieser Tage um ältere Verwandtschaft, die noch in der Gegend von Bergamo lebt. Meine vorerst letzte Pizza außer Haus in diesem so geliebten Ambiente.

Der Erika-Mann-Platz im Zentrum. Alte Linden in der Mitte, drumherum fidele Mischung aus historischem Bestand und sachlicher Funktionalität. Ort quirliger Urbanität. Cafès, Kneipen, Restaurants. An der südöstlichen Ecke die kleine Kultbuchhandlung. Wird mein letzter Besuch im Laden auf unabsehbar der letzte bleiben? Wenige hundert Meter weiter, hinter dem Rathaus, die Stadtbibliothek. Seit zwei Wochen sichtbares Symbol einer hermetischen Gesellschaft. Dreivier Romane liegen zuhause, sie waren weniger fesselnd als erwartet. Die Leihfrist verlängert bis Sankt Nimmerlein.

Die letzte Bierbestellung bei Charlotte, genannt Charly, seit vielen Jahren Stammkraft in meiner Altstadt-Stammkneipe. Wenn ich gewusst hätte, dass diese Halbe an diesem Ort die letzte sein würde für lange Zeit, wäre es an diesem Abend bestimmt nicht die letzte geblieben.

Ich verbringe viel Zeit mit Kindern und Frau, was natürlich schön ist, und trauere manchmal den Veranstaltungen nach, die jetzt gerade wären. Der Schriftsteller Ingo Schulze im Hessischen Rundfunk.

Ingo Schulze (l.), Foto: Wiebke Haag

Ingo Schulze war der bislang letzte Schriftsteller, den ich auf einer echten Lesung, leibhaftig und vor Ort mit reichlich Zuhörerschaft erleben durfte. Damals, es war der 12. März, eine durchaus riskante Angelegenheit, obwohl mir die Eintrittskarte von einem Latexhandschuh überreicht wurde und reichlich Desinfektionsmittel strategisch günstig positioniert zur allgemeinen Verfügung standen. Doch dann der überfüllte Saal, die stickige Luft – der Besuch der Veranstaltung wurde zur Herausforderung des Schicksals. Das alles nicht einmal das reinste Vergnügen. Bei stümperhafter Moderation mit hohem Fremdschämfaktor und einem gleichmütig reagierenden Schriftsteller, der viel zu lange Passagen aus dem neuen Roman las und damit den potentiellen zukünftigen Lesern einiges an möglicher Spannung nahm.

Mitte März 2020. Kommt mir vor als wäre es schon ewig her. Die Buchmessestadt Leipzig ohne Buchmesse. Leipzig in trister Stimmung, bei bedecktem Himmel, gelegentlichem Regen und auffrischendem Nordostwind. Die Lesung von Schulze war eines der wenigen Ereignisse die vom geplanten und längst sorgfältig vorbereiteten, die Buchmesse normalerweise begleitenden Mega-Event Leipzig liest übrig blieb. Nicht wenige Buchmenschen waren trotz Messeausfall und viraler Widrigkeiten nach Sachsen gekommen. (Es war kurz vor den Verboten und wohlmeinenden Verhaltensnormen – eine Zeitenwende vor heute.) Aus Solidarität mit den kleinen Verlagen, den unabhängigen Buchhändlern, den verblüfften Autoren und Autorinnen, die langsam erkannten, dass es ab sofort an die Fundamente ihrer materiellen Existenz gehen würde. Aus Sympathie zum Hotel in dem man seit Jahren entgegen der üblichen Messetrends stets wohlfeile und freundliche Aufnahme fand.

So viele Gutscheine können wir gar nicht verkaufen, sagen die Inhaber der kleinen Buchläden, so tolle Webshops nicht ins Netz stampfen, so viele Fahrradkuriere niemals aussenden, so viel auf Kosten der eigenen Gesundheit schuften, dass die jetzt eingetretenen Verluste kompensiert werden könnten. Camus Pest und Manns Tod in Venedig sind die Seuchenbestseller, die sie in günstigen Taschenbuchausgaben den Kunden vor die Quarantäne-Schleuse legen dürfen.

Seltsam im Freien zu Wandeln. Mit Misstrauen bedacht ein Jeglicher der entgegenkommt, schon vorab verdächtig der Bereitschaft die nunmehr geltenden Abstands- und Anstandsregeln zu verletzen. Die Folge ist verdrucktes, huschiges Aneinandervorbei. Wenige Schritte weiter springt ein Plakat ins Auge das Dank aus- und Solidarität verspricht, und im Ohr noch den Fernsehsprecher, der von Wellen der Hilfsbereitschaft weiß und dessen Sender versichert für EUCH, also für dich und mich, da zu sein.

Das letzte Buch gelesen. In der Krise plötzlich nicht mehr lesen können. … Ich spiele Scrabble mit einer App, ich schaue Netflix, ca. dreizehn Minuten. Dann falle ich in einen tiefen Schlaf. Es läuft ganz gut, dachte ich, aber heute ist so ein Tag, an dem der Rücken schmerzt, und alles reizt, jede Kleinigkeit, und ich nicht mehr mag, und ich das auch so gerne einfach so sagen möchte: Ich mag nicht mehr. (Die Schriftstellerin Lena Gorelik über den Alltag in der Isolation, mit Kinderbetreuung, Autorinnentätigkeit und vernachlässigten individuellen Bedürfnissen.)

Seltsam kommt es nun jenen vor die Enkel haben und denen nicht mehr nahe sein dürfen. Vorlesestunden mit kuscheligem Aneinander sind Vergangenheit. Datenfernkommunkation in Ton und Bild stellt keine wirklich genügende Ersatznähe her. Da muss in höchster Not und angesichts akutem Büchermangel der beliebte Logistikdienstleister DHL bemüht werden. Und so gehen Der Räuber Hotzenplotz, die einfallsreichen Geschichten und Bilder von Janosch, Der Maulwurf Grabowski zusammen mit vielen anderen spannenden Erzählungen und bunten Bilderwelten als Fünf-Kilo-Paket auf die Reise zu den Lieben, die geographisch nah, gleichzeitig unerreichbar sind. Seltsam auch das längst erwachsene Kind in einem anderen Land zu wissen, in dem die Menschen zwar die gleiche Sprache sprechen und das ungleich näher liegt als irgend ein sagenumwobenes Timbuktu, das jedoch, gleich dem eigenen Staat, Grenzen definiert, die Begegnungen mit Hüben oder Drüben ausschließen. 

Große Reiche vergehen, ein gutes Buch bleibt. Ich glaube an gut beschriebenes Papier mehr als an Maschinengewehre, lässt Lion Feuchtwanger sein alter ego Jacques Tüverlin im Roman Erfolg feststellen. Corona ist lautlos und hinterhältig, mikroskopisch klein und mit Literatur allein nicht zu besiegen, allenfalls besser zu ertragen. Es gilt die Zeit mit guten Büchern zu überbrücken, bis der Gegner mit den Waffen moderner medizinisch-biologischer Forschung in seine Schranken gewiesen werden kann. Dann wäre neu zu hoffen: Dass die emsige Buchhandlung im Städtchen wieder öffnet, der kleine unabhängige Lieblingsverlag noch existiert, eine nächste Buchmesse angekündigt wird. Und die Generationen wieder auf einem Lesesofa vereint sind.

Buch Wien 2019

Was war und was nicht.

Zuverlässig. Pünktlich. Preisgünstig und fast rund um die Uhr bringen Busse, U-Bahn und Straßenbahnen (Wiener Straßenbahn: 306 Millionen Fahrgäste / 2016, Gleislänge 432 km) der Wiener Linien Tag für Tag tausende Menschen von hier nach dort in dieser faszinierenden Stadt. Von Theater zu Theater. Von Kaffeehaus zu Kaffeehaus. Ins Belvedere, nach Schönbrunn, spät des Abends vom Beisl sicher nach Hause. Oder an die Messehalle D. Zur Buch Wien.

Buch Wien? So nennt sich seit nunmehr 11 Jahren eine Messe, die mit ihrem Namen regionale Begrenzung andeutet und sich gleichzeitig zunehmend zur österreichischen Buchmesse mit Alleinstellungsmerkmal entwickelt. Vielleicht gelingt es dem Format, den bundesdeutschen Vorbildern Leipzig und Frankfurt in den kommenden Jahren in Sachen Größe, Zuspruch und Debattentauglichkeit ein Stück näher zu rücken.

Was fehlte (1). Auf der abendlichen Eröffnungsveranstaltung wurden die angekündigten Michael Köhlmeier und Tobias Moretti vermisst. Sie fehlten krankheitsbedingt. G’rad schad’ war’s. Die entstandenen Lücken boten der sehr animierten und redseligen Vea Kaiser umso mehr Raum und Zeit sich den Gästen als unterhaltsame Plaudertasche und Vollbluterzählerin zu präsentieren. Gerüchte, die Kaiser gäbe nächstens in Salzburg die neue Buhlschaft an der Seite Morettis, erwiesen sich als aus der Luft gegriffen. Es wird die wunderbare Caroline Peters, längst eine der beliebtesten Darstellerinnen am Burgtheater.

Verlage (1). Große und kleine. Erfolgreiche und aufstrebende. Seltsame und weitgereiste aus dem Morgenland. Für so wenige ist Platz in einem kleinen Literaturblog. Es bleibt bei exemplarischen Erwähnungen. Als da wären die Macher von Text/Rahmen. Dominik Uhl und Michael Marlovics haben beide sehr sinnerfüllende Hauptberufe, dennoch sind sie alles andere als Amateure (Roman von Kinga Litkey, erschienen bei Text/Rahmen) im Verlagsmetier. 

Engagement, Herzblut und ein Stück Selbstausbeutung sorgen für das spannende, beachtlich umfangreiche Programm. Autoren und Autorinnen bekommen bei ihnen die meist erste Möglichkeit, mit einem Roman, einer Erzählung die literarische Bühne zu betreten. Ich mag, wie du denkst (Erzählung von Thorsten Pütz bei Text/Rahmen), Ja, und ich mag was sie machen und wie sie es machen. Es gibt natürlich auch Krimis. Und einen erstaunlichen, originellen Bildband von Alex Dietrich mit dem Titel Da letzte Schmäh. Eine visuelle Konfrontation mit den Nicht-Orten Wiens und gleichzeitig heimliche Liebeserklärung an diese Stadt.

Preiswürdig (1). Norbert Gstrein bekam für seinen neuesten Roman Als ich jung war, den österreichischen Buchpreis. (Auch er fehlte auf der Messe krankheitsbedingt.) Der Debütpreis ging – und zu dieser Wahl kann man nur herzhaft applaudieren – an Angela Lehner für Vater unser. Mit dem Titel stand sie bereits auf der Longlist für den deutschen Buchpreis. Die in Berlin lebende Autorin stellte das Buch mit sichtlichem Vergnügen und unverkennbar osttiroler Akzent vor und erzählte anekdotenreich vom mühsamen Werden desselben. Dazu gehörten unter anderem umfangreiche Recherchen im Otto-Wagner-Spital, einer psychiatrischen und sozialmedizinischen Klinik, die durch Thomas Bernhard als Baumgartner Höhe (s. Wittgensteins Neffe) literarisch verwertet wurde. Hier wird die Protagonistin von Lehners Roman eingeliefert, deren Geschichte wir alsdann erfahren. Humorvoll, manchmal tragisch, immer gekonnt erzählt.

Aufgeschnappt (1). Romane sind eine Zeitverschwendung der Leser. Davor verschont uns die bulgarische Dichterin und Bibliothekarin Yordanka Beleva. Sie selbst belässt es bei kurzen Formen, Lyrik und kleinen Erzählungen. Würden alle so schreiben und publizieren, kämen Buchmessen mit deutlich weniger Platz aus. Mir würde allerdings sehr viel fehlen.

Verlage (2). Kaum hatte man die Messehalle betreten, stand man schon vor einem gigantischen Stapel Handke-Bücher. Er hat viel geschrieben, von ihm wurde und wird viel verlegt, über ihn wird reichlich diskutiert, er ist der Literatur-Nobelpreisträger des Jahres 2019, vor Ort war er nicht. Olga Tokarczuk ist die Literatur-Nobelpreisträgerin des Jahres 2018. (Die Ehrung widerfuhr ihr erst in diesem Jahr, gleichzeitig mit Handke, da die Nobelkommission vorübergehend außer Diensten gewesen war.) Ihre Bücher führten am Schweizer Gemeinschaftsstand ein Nischendasein. Die deutschen Übersetzungen werden inzwischen komplett von Kampa verlegt. Bis Ende November soll ihr Werk nahezu vollständig in Neuauflagen vorliegen. Angeboten wurde bereits Die Jakobsbücher, jenes umfangreiche, vielschichtige Werk, für das sie von den Stockholmern ausgezeichnet wurde. (Kampa hat übrigens den derzeit wieder sehr angesagten Simenon im Portfolio.)

Was fehlte (2). Fehlen wird, und das wohl für immer, eine deutsche Übersetzung von Olga Tokarczuk allererstem Roman Podróż ludzi księgi (auf deutsch etwa: Reise der Buchmenschen). Wie bei Kampa zu erfahren war, hat sich die Autorin inzwischen von dem Werk distanziert und lässt eine Übersetzung und das Erscheinen in deutscher Sprache nicht zu. Schade, natürlich wäre nicht nur ich jetzt erst recht gespannt auf diesen Erstling. Es gab ein wenig Hinundher, ob denn bereits einmal eine deutsche Ausgabe dieser Buchmenschen erschienen sei. Alle Recherchen ergaben, dass dem wohl nicht so ist. Auf con=libri gibt es einen Beitrag über Tokarczuks Ur und andere Zeiten

Aufgeschnappt (2). Kinder wollen nichts Postmodernes – sie wollen einfach eine Geschichte. Da kann man Iva Procházková nur zustimmen. Die Tschechin lebt in Wien und ist eine renommierte Kinderbuchautorin. (Die tschechische Kinderliteratur ist ja bekanntlich sehr vielfältig und hochwertig, nicht umsonst werden die Bücher häufig übersetzt.) Letztes Jahr erschien ein erster Kriminalroman von ihr: Der Mann am Grund: Der erste Fall von Kommissar Holina.

Verlage (3). Danube books aus Ulm kümmert sich schwerpunktmäßig um den Donauraum und Südosteuropa. Verleger Thomas Zehender ist ausgezeichnet vernetzt. Dank langjährig gepflegter Beziehungen zu kulturellen Institutionen und Persönlichkeiten aus den entsprechenden Ländern ist ein Programm entstanden, das aus Titeln zu aktuellen politischen Themen, anspruchsvoller Lyrik und erzählender Literatur besteht. Der Verlag möchte nationale Grenzen überwinden und die kulturelle Vielfalt der Donauregion fördern.

Mich hat der bescheidene Auftritt der 81-jährigen Kristiane Kondrat beeindruckt. Danube books hat ihren Roman Abstufung dreier Nuancen von Grau neu aufgelegt. Sie entstammt einer deutschen Familie in Rumänien und wurde als Aloisia Bohn in Reschitz (Banat) geboren. Sie studierte Germanistik und Rumänistik und schrieb zunächst für die Schublade, da eine Veröffentlichung ihrer Arbeiten unter den herrschenden Regimen nicht möglich war. Das Schreiben war für sie Flucht vor der Indoktrination, der Gehirnwäsche durch die offizielle Propaganda. Seit 1973 lebt die Autorin in Deutschland. Vor der Ausreise aus Rumänien wurde sie genötigt zu erklären, dass sie weder mündlich noch schriftlich etwas sagen oder veröffentlichen würde, das der Sozialistischen Republik Rumänien Schaden könnte. Deshalb veröffentlichte sie unter dem Pseudonym Kristiane Kondrat.

In ihrem Roman erzählt sie von einer jungen Frau auf der Flucht, die sich verfolgt und in die Enge getrieben fühlt. Überall stößt sie auf Menschen, die sie scheinbar bedrohen und ihr Angst machen. Doch allmählich kann sie dieser Angst Grenzen setzen und sich letztlich sogar davon befreien. Diese Geschichte einer Traumatisierung und ihrer Überwindung erzählt die Autorin vor dem Hintergrund eigener Lebenserfahrung. Kondrat gelingen kraftvolle Bilder, ihre genauen Beobachtungen gibt sie in poetischer Form wieder. Es ist die Sprache einer reifen Schriftstellerin, der man wünscht, dass sie noch etwas breiter wahrgenommen wird.

Exkurs. Vor undoder nach den Messebesuchen ins Kaffeehaus. Das Café Weimar ist in der Währinger Straße, vom Schottentor kommend, am Sigmund-Freud-Park vorbei, kurz vor der Volksoper in einem Eckhaus. Hier wurde die Urkunde der UNESCO überreicht, die die Wiener Kaffeehauskultur zum immateriellen Weltkulturerbe erklärte. Unverzichtbar – zumindest für mich – bei einem Wienbesuch die Einkehr im beliebten Sperl, und sei es nur wegen der gerösteten Knödel mit leckerem Salätchen. Und natürlich nicht zu vergessen das einmalige Phil. Zum zweiten Frühstück inmitten von Büchern. Hier ist immer wieder eine Entdeckung zu machen, die man anderswo nicht findet. Und dann ist da ja noch das unverwechselbare Publikum. Lehrende und Lernende, Lesende und Schreibende und allerhand anderes kreatives Volk.

Preiswürdig (2). Der Leo-Perutz-Preis für Kriminalliteratur wird von der Stadt Wien und dem Hauptverband des Österreichischen Buchhandels vergeben. Bereits zum zweiten Mal wurde Alex Beer damit ausgezeichnet. Die studierte Archäologin schreibt akribisch recherchierte historische Romane in Form von Krimis. Im Frühjahr erschien der dritte Band rund um den Ermittler August Emmerich. Wie die Vorgänger Der zweite Reiter und Die rote Frau hat Der dunkle Bote das notleidende Wien der Jahre nach dem Ersten Weltkrieg zur Kulisse. Breite Bevölkerungsschichten sind von Armut, Arbeitslosigkeit und fehlenden Perspektiven betroffen. Das ist oft düster, sehr authentisch und ausgesprochen spannend.

Alex Beer auf der Buch Wien 2019

Aufgeschnappt (3). Wir erinnern uns immer so, wie wir es gerade noch ertragen können. Sagte Nora Bossong, die mit ihrem aktuellen Roman Schutzzone auf der Buch Wien 2019 vertreten war. In Schutzzone stehen private Schicksale für eine kritische Auseinandersetzung mit der Rolle der Vereinten Nationen in Krisen- und Kriegsregionen.

Was nicht fehlte. Was wäre eine Buchmesse ohne all den unverzichtbaren Tand und Trödel den man handelstechnisch unter dem Begriff Nonbook zusammenfasst. Also all jene Produkte, für die man nicht notwendigerweise lesen können muss. Sternenstanzer und Stiftespitzer, Pesto und Kürbiskerne, Malbücher, Puzzles und Mottoshirts, Schmink- und Bastelsets, Paprikapulver und Malkreide. Und vieles mehr!

Was fehlte (3). Petra Hartlieb. Tausendsassa und Allgegenwärtigkeit der Branchenszene. Sie hatte sich eine Auszeit genommen und eine Kur gegönnt.

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Lehner, Angela: Vater unser. Roman. – Hanser, 2019

Tokarczuk, Olga: Die Jakobsbücher oder eine große Reise über sieben Grenzen, durch fünf Sprachen und drei große Religionen, die kleinen nicht mitgerechnet. – Kampa, 2019

Tokarczuk, Olga: Ur und andere Zeiten. Roman. – Neuaufl. Kampa, 2019. s. con=libri

Procházková, Iva: Der Mann am Grund. Der erste Fall von Kommissar Holina. – Braumüller, 2018

Kondrat, Kristiane: Abstufung dreier Nuancen von Grau. Roman mit einem Vorwort von Christina Rossi. – Neuaufl. danube books, 2019

Beer, Alex: Der dunkle Bote. Ein Fall für August Emmerich. Kriminalroman. – Limes, 2019

Bossong, Nora: Schutzzone. Roman. – Suhrkamp, 2019

Links zu den Verlagen:

Text/Rahmen

Kampa

danube books

 

Leipzig und die Tschechen

Zweiter Teil des Rückblicks auf Buchmesse und Festival Leipzig liest 2019

Martin Beckers Warten auf Kafka kann man auch lesen wenn Tschechien nicht gerade Gastland der Leipziger Buchmesse ist. Andererseits hat es der Autor natürlich genau zu diesem Anlass geschrieben, mit kühlem Kalkül angesichts des angekurbelten Interesses an Literatur und Kultur der östlichen Nachbarn. Das Buch las ich zu großen Teilen während der Zugfahrt nach Leipzig ich hatte die etwas längere Strecke über Mannheim, Frankfurt und Fulda gewählt die lästiges Umsteigen erspart, stattdessen Zeit und Muse für einstimmende Lektüre lässt.

Martin Becker ist ein 37-jähriger Journalist, Literaturkritiker, Romancier, Hundefreund und Starkraucher, der seit einem Studienaufenthalt vor etlichen Jahren regelrecht vernarrt in Tschechien ist, seine Metropole Prag, deren Ka-und-Ka-Vergangenheit, die literarischen und filmischen Traditionen, den böhmisch-mährischen Humor und nicht zuletzt die seltsame Ernährung der Einwohner, die, so wird immer wieder kolportiert, bevorzugt aus Fleisch und Bier besteht.

Martin Becker und die Moderatorin des Nachwuchsradios Mephisto 97.6 stoßen vor ihrem Gespräch auf dem orangenen Sofa mit tschechischer Braukunst an.

Warten auf Kafka ist eine lockere Reise durch die tschechische Literatur des vorigen Jahrhunderts und der Gegenwart ohne jeglichen Anspruch auf Vollständigkeit. Dafür verpackt mit einer leicht kafkaesken, sehr unterhaltsamen Rahmenhandlung, mehreren detailliert geschilderten Kneipenbesuchen und befeuchtet mit dem einen oder anderen großen Glas Gerstensaft. In den Kneipen trifft sich Becker, teils real, teils in Gedanken und Gedenken mit schriftstellerischen Größen des Heute und des Gestern. Kafka selbst taucht als verkitschter Kult auf, zu dem er vor Ort aus pekuniär-touristischen Gründen gemacht wird.

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… ich bin ein erschrockener menschlicher Aufschrei, den eine Schneeflocke zusammenbrechen läßt …

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Warten auf Kafka. Im Wirtshaus. Und auf die seligen Geister Jaroslav Hasek und Bohumil Hrabal, den zu besten Zeiten sogar präsidialen Vaclav Havel, die derzeit angesagten Jaroslav Rudiš und Jaromir99, die Märchentante Božena Němcová und den Spezialfall Milan Kundera (zu ihm später). Die greise Lenka Reinerová, letzte deutschsprachige Schriftstellerin Prags, lernte Becker 2008 kurz vor ihrem Tod am Krankenbett kennen. Sein Buch enthält ausführliche Passagen der Verehrung für diese außergewöhnliche Persönlichkeit. Reinerová ist in ihren Werken nicht nur eine aufrichtige Chronistin dieses schrecklichen 20. Jahrhunderts, sondern versammelt zudem in ihren farbigen Ahnengalerien alle maßgeblichen künstlerischen Figuren ihrer Heimat aus dieser Epoche.

Martin Becker hat seinem Buch den Untertitel Eine literarische Seelenkunde Tschechiens gegeben. Ihm ist eine unterhaltsame, leicht lesbare und dennoch bis hin zum Literaturverzeichnis äußerst informative Einführung gelungen, wie man sie in dieser Form nicht noch einmal findet und manch anderer Sprache und Dichterlandschaft wünschen würde. 

Das Buchmesse-Gastland des Jahres 2018 war Rumänien. Bevor das bereits wieder völlig in Vergessenheit gerät, wurde 2019 in Leipzig noch einmal daran erinnert und versucht das Interesse an diesem Land und seiner Literatur wach zu halten. Eine Expertenrunde lotete aus, welche Chancen aus dem Rumänischen übersetzte Bücher auf dem Markt wohl haben mögen. Die Zahl der Gesprächsteilnehmer auf dem Podium übertraf dabei die Zahl der besetzten Stühle vor ihnen. Mäßiges Interesse und bescheidene Aussichten für die Vermittlung rumänischer Autoren und Autorinnen in den deutschen Sprachraum. Was nicht ganz überraschend ist, da bekanntlich im Ursprungsland selbst das Interesse an Gedrucktem und die Zahl der Leser sehr gering sind. 

In Tschechien ist das anders. Es ist eines der ganz großen Leseländer mit einem wachen Interesse an Traditionellem ebenso wie an der Vielzahl der Neuerscheinungen. In Deutschland bekommt man davon wenig mit. Es gab eine Zeit, da war das anders. Ein beliebiges Beispiel: Neben dem Franzosen Ionesco gehörte Sławomir Mrożek einst zu den Stars des absurden Theaters. Seine Stücke wurden Land auf, Land ab gespielt. Dann nicht mehr. Immerhin hat vor vor einigen Wochen das Zittauer Gerhard-Hauptmann-Theater seine Farce Auf hoher See wieder einmal aufgeführt. 

Mrożek war eine meiner wenigen intensiveren Begegnungen mit der tschechischen Literatur. Ich habe ihn gelesen, Hörspielfassungen gehört, Bühnenaufführungen habe ich bis heute leider nicht sehen können. In viel zu jungen Jahren hatte man mir Jaroslav Hašeks Abenteuer des braven Soldaten Schweijk zum Lesen gegeben. Dieser sehr spezielle Humor kam für mich viel zu früh ich habe ihn nicht verstanden. Und das ganze militärische Ambiente war mir damals ebenso suspekt, wie es heute bei vergleichbaren Schilderungen ist.

Brandneu ist Jáchym Topols Roman Ein empfindsamer Mensch. Eine wilde Auseinandersetzung mit europäischer Aktualität. Seine tschechische Künstlerfamilie gastiert beim Shakespeare Festival in Großbritannien und wird von Brexit-Anhängern aus dem Land gejagt: Leave means leave!. Im Campingwagen reisen sie quer durch Europa, gegen den Strom der Flüchtlinge, Richtung Osten. Sie geraten ins russisch-ukrainische Kriegsgebiet, treffen Gerard Depardieu, klauen ihm seinen BMW und machen sich auf den Heimweg nach Böhmen. Radikal ungebändigt ist Topols Erzählweise.

Stilistisch strenger und von ganz anderem Charakter ist Radka Denemarkovás Ein Beitrag zur Geschichte der Freude. Drei ältere Frauen betreiben in Prag ein Archiv, in dem Gewalt an Frauen dokumentiert wird. Sie dokumentieren nicht nur, sie handeln auch. Ein Ermittler untersucht den scheinbaren Selbstmord eines reichen, einflussreichen Mannes und stößt dabei auf die drei Frauen und ihr Tun. Radka Denemarková, die wie ich mir sagen ließ vielleicht wichtigste tschechische Autorin der Gegenwart, verwebt in ihrem sprachmächtigen Roman Elemente des Kriminalromans, Fakten und Fiktion zu einem erschütternden Panorama der Gewalt gegen Frauen.

Eine echte Überraschung ist Gerta. Das deutsche Mädchen von Kateřina Tučková, nicht nur wegen 548 Seiten ein wahres Schwergewicht unter den frisch übersetzten Neuerscheinungen. Gerta wächst in der zweisprachigen Familie Schnirch im mährischen Brünn auf. Die Mutter ist Tschechin, der Vater Deutscher und Anhänger Hitlers. Mit der Errichtung des deutschen Protektorats 1938 zerfällt die Familie wie die Gesellschaft in einen tschechischen und einen deutschen Teil. Die Mutter stirbt und Gerta wird vom eigenen Vater schwanger. Wie tausende Deutsche wird die junge Frau nach dem Krieg zum Staatsfeind erklärt, ausgebürgert und vertrieben. Gerta und ihre Tochter überleben mit anderen deutschen Frauen bei der Zwangsarbeit auf dem Land. Als sie Jahre später in die Heimatstadt zurückkehren werden sie als Deutsche stigmatisiert. Die Sichtweise des Romans auf den ehemals deutsch sprechenden Bevölkerungsteil ist neu und war lange Zeit so nicht vorstellbar. 

Topol und Denemarková, Mitglieder einer mittleren Generation tschechischer Autoren und Autorinnen, gehörten zu den tschechischen Gästen bei deren Veranstaltungen es in Leipzig richtig eng wurde. So etwas wie Starrummel entstand ebenfalls um Jaroslav Rudiš, einer von zahlreichen Künstlern die durch ihre Mehrfachbegabung auffallen und die gerne Genre übergreifend arbeiten. Da wird musiziert, wird gezeichnet und natürlich immer wieder auf unverwechselbare tschechische Art erzählt. Diese teils schrägen Geschichten, entstanden aus den Hefekulturen reicher Phantasie, diese Ansammlungen liebenswerter Außenseiter, lächelnder Verlierer, großer Liebender. Humor und Satire, Melancholie und schwarze Galle. Erzählungen die in der Kneipe bei Knödel und Pilsner ihren Anfang nehmen und immer reicher und farbenfroher werden, je mehr ihr Wahrheitsgehalt abnimmt.

Zu den am meisten besprochenen Büchern dieses Frühjahrs zählt Jaroslav Rudiš Roman Winterbergs letzte Reise. Der greise, mit einem Bein im Grab stehende Winterberg bricht mit seinem genervten Pfleger Jan Kraus auf zu einer Schienenreise durch die eigene Vergangenheit. Zu geschichtsträchtigen Orten der ehemaligen Donaumonarchie über die der alte Mann ebenso seitenlang zu räsonieren versteht, wie über das zurückliegende lange Leben. Ein Roadmovie der besonderen Art, mit stilistischen Eigenheiten, etwa zahlreichen rhetorischen Wiederholungen, das mit einer Streckenlänge von 540 Seiten ein wenig zu viel des Guten will.

Zusammen mit dem Künstler Jaromir99 bildet Rudiš den Kern der Kafka Band. Bei ihren aktuellen Auftritten improvisiert das Ensemble musikalisch-szenisch über Kafkas Roman Amerika.

Die Kafka Band mit Front-Mann Jaroslav Rudiš

Leider sind die projizierten Animationen nicht so gelungen wie in vorangegangenen Programmen. Mit ihrer Farbigkeit und schlichten Geometrie stören sie eher den Gesamteindruck als zur gelungenen Abrundung beizutragen. Enttäuschung macht sich deshalb breit, weil wir ja Jaromir99 als zeichnerischen Schöpfer des wunderbaren Alois Nebel kennen.

Milan Kundera wollte ich erwähnen. Quasi der moderne tschechische Klassiker. Mit seinem viel gelesenen, viel diskutierten und interpretierten Werk Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins habe ich mich etwas geplagt. Mir ist das zu viel Obsession und Abhängigkeit, auch wenn es Kundera meisterlich versteht vom Kern der Geschichte immer wieder in existenzielle Exkurse aufzubrechen. Er ist zweifellos einer der herausragenden tschechischen Autoren, obwohl ihn die Landsleute bereits 1975, da war er 46, (dieser Tage wurde sein 90. Geburtstag gefeiert) ins Exil vertrieben. Seitdem lebt er in Frankreich. Und sein wichtigster Roman weist deutlich mehr französische Einflüsse denn böhmisch-mährische auf. 

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… daß diese ganze Pracht mit einem Samentropfen begann und im Knacken eines Feuers enden wird …

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(Die beiden Zitate sind aus Bohumil Hrabal: Leben ohne Smoking. – Frankfurt am Main, 1995)

Leipzig wie es liest und lebt

Erster Teil des Rückblicks auf Buchmesse und Festival Leipzig liest 2019

Eine sehr spezielle Form von Prosa enthält die Sächsische Waffenverbotszonenverordnung. In ihr wird seit letztem November festgehalten, dass das Leipziger Gebiet östlich des Zentrums Waffenverbotszone ist. Personen dürfen keine Waffen nach der Definition des Waffengesetzes mit sich führen. Wer es dennoch tut, begeht eine Ordnungswidrigkeit und muss mit einer Geldbuße rechnen. Es gibt nicht wenige Gestalten vor Ort, die der Meinung sind, dass sächsische Verordnungen für sie keine Gültigkeit haben oder die von diesen schlicht nie gehört haben. Die Leipziger Eisenbahnstraße gilt als eine der gefährlichsten Straßen Deutschlands. Einschlägige Statistiken verzeichnen für Straße und Quartier knapp 73.000 Delikte pro 100.000 Einwohner. Das ist auf den ersten Blick kein Spitzenwert, erfasst allerdings nur die aktenkundigen Fälle und der Anteil an Gewaltdelikten ist deutlich höher als andernorts.

Zwischen all den Gemüseläden, Kebap-Buden, Asia-Imbissen, Spätverkäufen, Shisha-Höhlen, den Barbieren für die bärtigen Bewohner mit meist gut definierter Muskulatur, zwischen seit dreißig Jahren abrissreifen Häusern, dem gerade noch bewohnbaren Bestand und sanierten Altbauten, zwischen all dem Sprachengewirr und den Abgaswolken der Geländewagen, sind auch junge Paare mit kleinen Kindern, sind Studenten, Auszubildende und sehr alte Menschen unterwegs, weil sie sich das Wohnen hier leisten können und die Versorgung mit dem Lebensnotwendigen vor der Haustür möglich ist. 

In diesem bunten und quicklebendigen Gemisch gibt es für das abendliche Ausgehen so manchen Geheimtipp, Lokalitäten wie man sie sonst nur von der KarLi (Karl-Liebknecht-Straße) und aus Plagwitz kennt. Wie jene lauschige Kneipe mit integriertem kleinen Buchhandel und einer sehr improvisierten Kleinkunstbühne, auf der Reinhard Kaiser-Mühlecker seinen neuen Roman vorstellte. Die Kulturapotheke, kurz KuApo, findet man in der Eisenbahnstraße 99. Es gibt dort wenig Platz, eine kurze Speisenkarte und wohlfeile Getränke für jeden Geschmack.

Der 37-jährige österreichische Autor kam bereits 2008 auf Empfehlung von Arnold Stadler zu S. Fischer, wo er ein festes verlegerisches Zuhause gefunden hat. Enteignung ist schon sein achter Roman. Er spielt einmal mehr in abgelegener ländlicher Provinz. Für das kriselnde Lokalblatt schreibt ein Journalist, der nach langer Abwesenheit an den Ort seiner Kindheit zurückkehrte. Von der Wucht der eingetretenen Veränderungen während seiner Abwesenheit und dem sich andeutenden weiteren gravierenden Einschnitten in gepflegte Traditionen ist er überrascht. Die Geschichte handelt vordergründig von menschlichen Beziehungen und Affären, viel grundsätzlicher jedoch vom Wandel der althergebrachten Strukturen und Lebensformen. Die damit verbundenen existenziellen Konflikte stellt Kaiser-Mühlecker in seinem Buch exemplarisch dar. 

Er schreibt in einer Sprache, die etwas aus der Zeit gefallen scheint, in ruhigem Ton, detailgenau, mit langem Atem. Man kann an Stifter denken, an Hermann Lenz. Wer sich auf diesen Rhythmus einlässt, erlebt einen der ausdrucksstärksten Schriftsteller dieser so kurzatmigen Zeit. Bei Abschluss seines ersten Vertrags mit dem Verlag wollte er es zur Bedingung machen, dass er nie aus seinen gedruckten Büchern öffentlich lesen müsse. Die Vertragspartner ließen sich darauf zum Glück seiner Leser und Bewunderer nicht ein. Offensichtlich unterschrieb Reinhard Kaiser-Mühlecker dennoch.

In Sachen ländliche Schauplätze kommt uns natürlich Dörte Hansen in den Sinn. Auch sie beschäftigt sich in ihrem aktuellen Roman Mittagsstunde mit Themen rund um die strukturellen Veränderungen im ländlichen Raum. Bilden bei Kaiser-Mühlecker Hügel und Berge Oberösterreichs die Kulisse, ist es bei Hansen die weite platte Fläche Nordfrieslands. Gerade einmal 43 Meter über Meereshöhe erreicht die höchste Erhebung der Umgebung.

Der erste Sommer ohne Störche war ein Zeichen, und als im Herbst die Stichlinge mit weißen Bäuchen in der Mergelkuhle trieben, war auch das ein Zeichen … Die alten Ulmen starben einen Sommer später, am Westerende, wo sie seit hundert Jahren Ast in Ast gestanden hatten.

Auch Dörte Hansen macht einen Heimkehrer zu einem ihrer Hauptprotagonisten. Die Schilderungen der Veränderungen in Mittagsstunde sind langfristiger und weitreichender als bei Kaiser-Mühlecker, sie reichen von der Flurbereinigung in den 1970er-Jahren, über den Einfluss des Klimawandels, bis zur Landflucht von Bewohnern auf der Suche nach auskömmlicher Arbeit. Was das mit den Menschen macht schildert Hansen einfühlsam, gelegentlich deutlich bis drastisch. Bei aller Zuspitzung gibt es immer wieder kleine humorvolle und skurrile Passagen.

Die Autorin, der 2015 mit ihrem Debüt Altes Land ein Lieblingsbuch der Buchhändler und Leser gelang, wurde von Denis Scheck in seiner Sendung Druckfrisch und bei seinen effektvollen, die Massen anziehenden Leipziger Messeshows mehrfach geadelt: Ein Buch voller Wehmut, schmucklos schön, das überraschend und klug in die Zukunft weist. Ein literarisches Ereignis!

Leipzig 2019. Das waren Messefahnen im Frühlingswind. Sonnentage. Hitze unter dem Glasdach. Zartes Grün an Büschen und Bäumen, das die Bilder des Vorjahres, Bilder von Schnee und Eis, liegengebliebenen Zügen, gesperrten Straßen, verblassen ließ. Und so strömten sie aus allen Himmelsrichtungen in ihr Leipzig. Das Leipzig der Bücher, Autoren, Buchhändler, ihr Leipzig der Leser, zum Treffen unter Gleichgesinnten. Fast 286.000 Menschen sollen es am Sonntagabend, als die letzte Lederjacke an der Garderobe abgeholt war, gewesen sein. 

Nahezu 286.000 Besucher. Leser, buchaffine Menschen, die sich zuhause schleunigst ins stille Kämmerlein verziehen, um ihre Neuerwerbungen, die eingesammelten Geheimtipps, die Bestseller der Saison zu verschlingen? Man wird sich eingestehen müssen, dass diese Charakterisierung aus den verschiedensten Gründen nur auf einen kleinen Teil der Messebesucher zutrifft. Das ist nicht neu. Doch zunehmend wildern Smartphones, digitale Medienvielfalt, flexible omnipräsente Anbieter wie Netflix, Amazon mit ihrer ganzen bildgewaltigen Streamingwelt in den Hoffnungen der Buchbranche auf reichlich Leser- und Käufernachwuchs.

Zu allem Überfluss ist es dann auch noch mit der Zukunft der Lesefertigkeit und der Lesekompetenz so eine Sache. Lesenlernen und Leseförderung Leipzig bietet Jahr für Jahr reichlich Podien und Begegnungen die sich mit diesen komplexen und wichtigen Themen beschäftigen. Alle einschlägigen Organisationen und zahlreiche Experten sind vor Ort, stehen für Diskussionen und Gespräche bereit, geben Wissen und Erfahrungen weiter. 

Foto: Tom Schulze

In Halle zwei befinden sich das Forum Kind-Jugend-Bildung und das Fachzentrum Bildung. Dort sind Leseinseln und Lesebuden zu finden, der Leipziger Lesekompass präsentiert gute Bücher für die Jungen und die Jüngsten. Es gibt ein Familiencafé, eine Chillout-Aerea und einen Still- und Wickelraum für Messeteilnehmer die vom Lesen noch nicht einmal träumen können. Und das alles schon seit Jahren. So werden Ideen, Anregungen, Anstöße, Anleitungen ins ganze Land, in Kindergärten, Schulen, Lehrerstudiengänge getragen.

Die nüchterne Bilanz lautet: 20 Prozent der Schüler und Schülerinnen der vierten deutschen Grundschulklassen können nicht flüssig lesen, haben Probleme den Inhalt gelesener Texte wiederzugeben. Sie drohen den Anschluss zu verlieren, an den Schulstoff und schließlich an eigene Lebenschancen. Trotz aller Bemühungen und Förderungen ist keine Besserung in Sicht, letztlich fehlt es in den Schulen an Ressourcen und in den Elternhäusern an Einsicht und Verständnis. 

Bildungsferne Einstellung wird oft von Generation zu Generation weitergegeben. Viele Familien haben ganz andere materielle, existenzielle Sorgen. Lesenlernen, das mit Vorlesen durch Eltern oder Großeltern beginnen kann, wird nicht überall als Wert gesehen. Förderung muss also die Familien der betroffenen Kinder mitnehmen. Sonst gehen immer mehr junge Menschen auf ihrem Weg in die Mitte der Gesellschaft verloren. Die Kompromissfähigkeit, die Fähigkeit Konflikte verbal auszutragen, sich die für eine demokratische Partizipation notwendigen Informationen anzueignen, sinken.

Die Lese- und Literaturnation Tschechien präsentierte sich als Gastland der diesjährigen Leipziger Buchmesse 2019. Notizen dazu stehen im Mittelpunkt des zweiten Teils meines Rückblicks. Den gibt es nächste Woche auf con=libri.

Literaturwoche Donau 2018

Der kleine Rückblick. Knapp und persönlich.

Es kann gut tun, wenn man intellektuell gefordert, ja überfordert wird. Es wird viel zu oft viel zu wenig verlangt. Der deutsch-schweizer Philosoph und Schriftsteller Jonas Lüscher wies darauf hin. Und sein Roman Kraft, den er in der Ulmer Stadtbibliothek vorstellte, ist genau so ein Werk, dessen voller Genuss sich entfaltet wenn man ihn mit einem kleinen Rucksack an Voraussetzungen angeht. Die Geschichte vom Tübinger Rhetorikprofessor (sic!), der nach Kalifornien reist um dort in mehrfacher Hinsicht zunächst heftig ins Schlingern zu geraten um schließlich zu kentern.

Was für ein wunderbarer Ort diese Stadtbibliothek. Als Büchersammlung, als Treffpunkt, als Veranstaltungsort, als markanter Mittelpunkt inmitten historischer Umgebung, eine Glaspyramide, transparent und einladend. Drinnen Bücher, Bücher, Bücher, Leseplätze und W-LAN, draußen Passanten, Cafés, Restaurants, reges Stadtleben.

Die Literaturwoche Donau 2018 ist punktgenau im Hochfrühling gelandet. Es wärmt, grünt und blütenstaubt. Im Bus sitzt schräg gegenüber einer der keinen Bart hat. Dafür hält er in der einen Hand eine Doppel-LP aus Vinyl und in der anderen einen Viererpack Drumsticks.

Angesichts der explodierenden Natur kommen mir die Pflaumen- und Kirschbäume in den Büchern von Iris Wolff in den Sinn. Nicht nur sie lobte das besondere Ambiente und die einmalige Atmosphäre des Ulmer Veranstaltungsreigens. Sie habe sich sehr wohl gefühlt, ließ sie wissen, im nostalgisch trendigen Casino, das bis auf den letzten Vintage-Sessel besetzt war. Ihr gefiel, dass sie ihren Verleger Arno Kleibel vom Salzburger Otto Müller Verlag an ihrer Seite hatte.

Nicht zuletzt weil er ihr erlaubt hatte ihren aktuellen Roman in vier Erzählungen nach einer rumänischen Redensart So tun, als ob es regnet betiteln zu dürfen. Man muss wissen, dass Verleger und Lektoren (angeblich verkaufshemmende) Kommata in Buchtiteln überhaupt nicht schätzen. Ein Abend, der wie so manch anderer, vom gut vorbereiteten Florian L. Arnold moderiert wurde, der als Mitorganisator genügend Ausdauer für diese lange Woche hatte und für jede unvorhersehbare Gesprächswendung ein rhetorisches Werkzeug.

Als der ohne Bart aussteigt kann ich das Plattencover erkennen: Bryan Adams. Dabei hatte ich auf Jazz getippt. Es sind diese ganz eigenen, charaktervollen Lokalitäten die ein Gutteil des Reizes der Literaturwoche ausmachen: Die Räume der Ulmer Museumsgesellschaft, das ehemalige Sparkassen-Casino, das Museum Villa Rot in Burgrieden (Abstecher nach abseits der Donau), das Edwin-Scharff-Museum in Neu-Ulm, die Putte ebendort.

Die Putte ist eine ehemalige Schreibwarenhandlung. Hier habe ich als bayerischer Volksschüler Hefte, Stifte und Bucheinbände erstanden. Jetzt haben sich Künstler in die freigeräumten und weiß gestrichenen Räume eingemietet, zeigen ihre Werke und laden zu kleinen, intimen Runden. Wie jene mit den schreibenden Vonhiers Sybille Schleicher, Florian L. Arnold und Silke Knäpper. Sie stellten jeweils eines ihrer Lieblingsbücher den anderen beiden, sowie den versammelten Neugierigen vor. Sie ließen wissen, wie schwer die Auswahl gefallen war. Arnold hatte Sebalds Austerlitz dabei, Schleicher Transit von Anna Seghers, aktuell weil gerade eine Petzold-Verfilmung des Stoffes angelaufen ist. Beide Bücher kannte ich bereits.

Neu war für mich Meine Freunde des Franzosen Emmanuel Bove. Silke Knäpper hatte es mitgebracht. In den 1920er-Jahren mäandert Bâton durch Paris. Er ist Kriegsinvalide. Die Rente reicht zum Nötigsten. Anders als Knut Hamsuns alter ego einige Jahrzehnte früher leidet er keinen Hunger. Ihn quält die Einsamkeit. Von einer Suche nach Anschluss, Freundschaft, Liebe handelt dieses Buch. In klarer präziser Sprache, ein Stil frisch wie von neulich, ebenso gut wie unverkennbar übersetzt von Peter Handke. Wahrhaftig, ich habe kein Glück. Kein Mensch interessiert sich für mich… Ich war traurig und wütend. Die Vorstellung, mein ganzes Leben würde in Einsamkeit und Armut ablaufen, verstärkte meine Hoffnungslosigkeit.

An zehn Tagen Literaturwoche gab es eigentlich nur Höhepunkte. Doch wenn es nur Höhepunkte gibt, entstehen keine Gipfel, sondern lediglich eine ausgedehnte Hochfläche. Braucht eine Veranstaltung wie die Literaturwoche deshalb mehr Auf und Ab, Gut und Besser, Mehr und Weniger? Am Ende ist es so, dass das dichte Angebot es jeder und jedem ermöglicht persönliche Favoriten zu finden. Was kann es Schöneres geben als Vielfalt mit Qualität und Niveau? Dass nicht alle Ulmer, Neu-Ulmer das bemerkt haben … Geschenkt.

Wie man seine Stadt mit anderen Augen sieht, wenn man eine Veranstaltung der Literaturwoche Donau verlässt! Warum waren denn alle die jetzt dort draußen sind nicht ebenfalls dabei, sondern haben sich mit Zimteis, Cappuccino, Weizenbier und Donauufer zufrieden gegeben?

Begeistert vom Flair des Donauufers und der Altstadt waren, soweit sie Zeit dafür fanden, die Aussteller der erstmals veranstalteten kleinen Buchmesse, die unter dem Label Konturen stattfand und zu der fast 20 Verlage gekommen waren. Viele davon arbeiten nach einem Motto das dem großen Verleger der Weimarer Republik, Kurt Wolff, zugeschrieben wird, nachdem man zwar von der Verlegerei nicht leben, gleichwohl gut damit leben könne. Das angebotene Spektrum dieser unabhängigen Buchmacher reichte von der Beatlyrik über wiederentdeckte Romane, literarische Texte auf CDs gepresst, die wie Singlescheiben längst vergangener Populärmusik-Zeiten aussehen, bis zu Buchrollen und Kinderbüchern.

Am Samstag war die Verkaufsausstellung etwas außerhalb zu Gast, in der Villa Rot im idyllisch gelegenen Burgrieden. Am Sonntag dann in den Räumen der Museumsgesellschaft in Ulms stark frequentierter Mitte. Weit Gereiste waren dabei, wie Jürgen Schütz und sein Wiener Septime Verlag, spannende Spezialisten wie Moloko Print oder Ralf Zühlkes Stadtlichter Presse, Verlage aus der Region wie Thomas Zehenders danube books, Etablierte wie der Peter Hammer Verlag. Einfache Tische, reichlich Büchervorräte, gedruckte Verlagsprogramme und -vorschauen, interessiertes Publikum und auskunftsfreudige Verleger garantierten den Erfolg dieses Formats, das auf jeden Fall wiederholt werden soll.

Lesen ist Entspannung, Bereicherung, Vergnügen und gelegentlich Mühsal. Wer Erholung von mitunter vielleicht etwas zu voraussetzungssatter Lektüre sucht, der greife zu den Büchern von Martin Ebbertz. Humor mit Geist, Witz mit Geschmack bieten Werke wie Feuer in der Eiswürfelfabrik, 66 Kürzestgeschichten über kleine Katastrophen und alltägliche Beobachtungen von Dingen wie sie überall und jederzeit passieren können oder eben auch nicht, weil sie der Phantasie des Schriftstellers entspringen. Erschienen im Axel Dielmann-Verlag.

In einer Eiswürfelfabrik brach ein furchtbares Feuer aus. Die Feuerwehr kam mit vielen Wagen. Die Feuerwehrmänner schoben die Leitern vor und rollten die Schläuche aus. Mit starken Wasserstrahlen spritzten sie in die Fabrik… Die Arbeiter trugen Eiswürfel aus der brennenden Fabrik, soviel sie konnten. Sie schwitzten viel und bekamen schwarze Gesichter. Am Abend war der Brand gelöscht… Zur Belohnung durften die Arbeiter sich jede Menge Eiswürfel mit nach Hause nehmen. Daraus kochten sie sich dann Tee oder Kaffee.

Ebbertz hat neben zahlreichen Büchern für sogenannte Erwachsene auch für Kinder geschrieben. Als Beispiel sei hier nur noch Der kleine Herr Jaromir genannt, der, so schrieb DIE ZEIT, aus einem anderen Land stammt, einem wo Kinder und Dichter gemeinsame Sachen machen.

Die Literaturwoche Donau bot zehn Tage Gelegenheit sich gemein zu machen. Mit Schriftstellerinnen und Schriftstellern, mit Verlegern und Verlegerinnen, mit Literatur in seiner schillernden Vielfalt. Vor allem aber mit all den tollen Menschen, die teilen, was man selbst liebt.

An der Donau ist Literaturwoche!

Zehn Tage Leidenschaft für Literatur, besondere Bücher aus unabhängigen Verlagen, ergänzt um feine musikalische Anreicherungen. Vom 20. bis zum 29. April dauert die diesjährige Literaturwoche Donau. Der Verein Literatursalon Donau e. V. und zahlreiche Partner und Unterstützer laden ein.

Freunde schöner Poesie und Poetik, großer Erzählungen und überraschender Texte sollten vorschlafen und sich die Abende und Wochenenden freihalten für das ambitionierte und breit gefächerte Programm. 

Am Freitag 20. April findet bei freiem Eintritt die Eröffnungsveranstaltung im Haus der Museumsgesellschaft Ulm in der Neuen Straße statt. Mit Hernan Ronsino ist gleich eine der wichtigsten Stimmen der argentinischen Literatur zu Gast. Er hat den Übersetzer Luis Ruby und seinen deutschen Verleger Ricco Bilger mitgebracht. Für die musikalischen Akzente des Abends sorgt das Silber Quartett.

Zwei markante Veranstaltungsorte im Rahmen der Literaturwoche Donau 2018: Ulmer Münster und das Haus der Museumsgesellschaft

Was bieten die folgenden Tage?

Um nur einige Höhepunkte zu nennen: Jonas Lüscher stellt seinen Roman über das Streben und Scheitern des Rhetorikprofessors Kraft vor. Iris Wolff liest aus dem vielbesprochenen und hochgelobten, aus vier zusammenhängenden Erzählungen bestehenden Roman So tun als ob es regnet (bei dem Titel handelt es sich um eine rumänische Redensart). Bei Anna Baars Als ob sie träumend gingen begegnen wir einer kroatisch-österreichischen Autorin, die ebenso sprachmächtig wie anrührend von Liebe in Zeiten des Krieges erzählt. Der Schweizer Thomas Meyer besticht mit feinem Humor und Hintersinn. Sein aktuelles Buch Trennt euch! ist konsequenterweise eine überraschende Liebeserklärung an die Beziehung zwischen zwei Menschen.

Ein Tag ohne Bier ist wie ein Tag ohne Wein behauptet Thomas Kapielski. Um das zu überprüfen wird am Schlusssontag zu einer Frühschoppenlesung ins Ulmer Künstlerhaus geladen. Es empfiehlt sich jedoch Zurückhaltung beim Genuss geistiger Getränke, denn am Abend kann man zusammen mit Sudabeh Mohafez den Münsterturm besteigen. In schwindelnder Höhe wird sie ihren Stadtschreibertext vorstellen, der für diese Literaturwoche entstanden ist.

Künstlerhaus und Münsterturm sind nur zwei der wunderbaren Lokalitäten die Florian Arnold und Rasmus Schöll, die beiden Hauptmacher der Veranstaltungsreihe, dem Publikum erschließen konnten. Gespannt sein darf man nicht zuletzt auf die Botschaft internationale Stadt im Herzen Ulms auf dem Hans-und-Sophie-Scholl-Platz. Im bayerischen Nachbarn Neu-Ulm geht es zum Wiley-Kiosk, ins frisch renovierte Edwin-Scharff-Museum und das beliebte Café d’Art.

Im Rahmen der diesjährigen Literaturwoche Donau findet schließlich und zum guten Schluss noch die Erste Ulmer Buchmesse der unabhängigen Verlage statt. Am Sonntag, 29. April im renommierten Museum Villa Rot in Burgrieden (der Ort liegt etwa 20 Kilometer südlich der Donau-Doppelstadt) und bereits einen Tag zuvor, dem Samstag, in den Räumen der Museumsgesellschaft Ulm. 19 Verlage aus ganz Deutschland – aus Ulm sind danubebooks und Topalian & Milani vertreten – präsentieren ein breites Spektrum schöner Bücher, exquisiter Gestaltung und hochwertiger Literatur. Der Eintritt ist frei.

In den Städten Ulm und Neu-Ulm hängen bereits flächendeckend die von Joachim Brandenburg großartig gestalteten Einladungs-Plakate aus. Hinsehen lohnt sich. Das vollständige Programm (das natürlich viel mehr bietet als die hier aufgeführten Appetithappen) mit genauen Angaben zu Orten, Zeiten und Preisen findet man überall dort wo Kultur stattfindet, ganz sicher aber in den beiden Stadtbibliotheken und der Buchhandlung Aegis.

Infos im Netz gibt es hier:

http://literatursalon.net/literaturwoche-donau-2018/

 

Leipziger Buchmesse 2018

Momente, Meinungen, Bücher

* * *

Mit dem Wetter anfangen? Geht gar nicht?

Diesmal doch. Leipzig liegt geoklimatisch bereits weit im Osten. Selten wurde das metereologisch so spürbar wie in diesem Jahr zur Buchmesse-Zeit. Strenger Winter in der zweiten Märzhälfte. Schnee und Glätte. Beißend kalter Wind. Womit haben wir Büchermenschen das verdient und wer ist schuld? Die Russen? Trump? Naht, wie vor zehntausend Jahren, eine kleine Eiszeit?

Samstag und Sonntag gestörter Zugverkehr. Weichen sind eingefroren. In den imposanten Leipziger Hauptbahnhof konnten zeitweise keine Fernzüge einfahren. Der S-Bahn Verkehr in Mittelsachsen kam zum Erliegen. Konsequenz: Die Messe-Verantwortlichen verfehlten die selbstgesetzten Wachstumsziele. Am Sonntagabend bilanzierte man viele tausend Besucher weniger als erwartet.

Es sollte eine politische Messe werden, hatte deren Chef Oliver Zille zum Beginn verkündet. Es wurde eine politische Messe. Alle waren gegen rechts, wobei nie ganz klar schien in welcher Schublade gerade gekramt wurde. Der fundamental-konservativen, einer stramm rechten, einer rechtsradikalen. Die Grenzen fließen. Wer redet mit wem und wer mit wem nicht? Es wurde eifrig und heftig diskutiert und gestritten, immer einigermaßen friedlich, meist gesittet. Doch blieb unscharf was als freie Meinungsäußerung durchgehen darf und was nicht. Dabei haben wir doch ein Strafrecht und ein Grundgesetz.

Unsere Grundrechte heißt das aktuelle Buch von Georg M. Oswald. Welche wir haben, was sie bedeuten, und wie wir sie schützen. Eigentlich kommt das Buch des Juristen und Schriftstellers zur richtigen Zeit. Bei all den kruden Forderungen nach gesetzlichen Verschärfungen die inzwischen von Politikern aller Lager in die Debatte eingebracht werden, gerät in Vergessenheit welch verlässlichen Rahmen wir bereits haben. Wer den bewährten und tradierten Spielraum verlässt wird ein Fall für Polizei, Staatsanwaltschaft und gegebenenfalls das reich kommentierte Strafrecht. Alles da. Es wird Zeit sich dessen zu vergewissern und es anzuwenden.

Gomringer macht Grass. Grimms Wörter, die Huldigung des 2015 verstorbenen Dichters an die deutsche Sprache, wurde von dem Trommler und Grass-Freund Günter “Baby” Sommer vertont. Nora Gomringer verfügt über die Fähigkeit Töne und Sprache zu einem kongenialen Ereignis zu vereinen. Wie immer wenn diese Frau etwas macht wurde es originell, eigen und sehr gut. Siebzig ganz besondere Minuten als Scheibe oder MP3-File, bei Günter Grass Hausverlag Steidl erschienen. Ansonsten erscheinen die gedruckten Schöpfungen Nora Gomringers treu und regelmäßig bei Volland und Quist. Einer dieser jungen unabhängigen Verlage die sich seit etlichen Jahren rund um die Leseinsel Junge Verlage gruppieren.

Dort waren auch die Ulmer Florian Arnold und Rasmus Schöll mit ihrem bereits recht erfolgreichen verlegerischen Startup Topalian und Milani zu finden, in produktiver Symbiose mit der Edition Azur. Die strategisch äußerst günstige Standlage an zwei Laufwegen sorgte für rege Publikumsfrequenz und für die erwünschte Wahrnehmung des ambitionierten Programms, das großen Wert auf hochwertige Gestaltung und Herstellung der Bücher legt. Rechtzeitig zur Messe wurde eine kleine Edition mit Kunstkarten nach Motiven von Anatol Knotek fertig. Im Zentrum der Arbeiten des Künstlers stehen das Wort und seine visuellen Ausdrucksmöglichkeiten.

Julius Fischer hier, Julius Fischer dort. Das Urgestein der ostdeutschen Lesebühnen, der Slam- und Kabarett-Szene war quasi überall. Mal beißender Realsatiriker, mal urkomische Erscheinung war ihm stets großer Publikumszuspruch sicher. Im Herzen ist er ein echter Menschenfreund. Deshalb heißt sein aktueller Buchtitel, mit dem er über die Messe zog und die Säle nicht nur in Leipzig füllt, Ich hasse Menschen. Durch seinen Kakao wird alles gezogen was zwei Beine und Schuhe hat.

Guter Rat muss ja bekanntlich nicht unbedingt teuer sein. Das trifft dann besonders zu, wenn die Lebenshilfe zwischen zwei Buchdeckel gepresst wohlfeil angeboten wird. Das Angebot dieser Gattung ist auf beiden großen deutschen Buchmessen reichlich vertreten. Nachfolgend ein besonders prägnantes Beispiel, das den Besuchern in Leipzig entgegenleuchtete. Es spricht für sich.

Die Löwen-Apotheke ist die älteste der Stadt. Als Apotheke Zum güldenen Löwen wurde sie 1409 gegründet. Nach mehrmaligem Umzug ist sie heute Ecke Brühl/Nikolaistraße zu finden. Hier stellte Ellen Sandberg vor kleinem Publikum und inmitten hochpreisiger Schönheitsversprechen (in die Kosmetikabteilung im Obergeschoß passten nur 35 Personen) ihren Roman über Die Vergessenen vor, in dem es, verpackt in eine sehr spannende, vielschichtige Handlung, um das Thema Euthanasie im Dritten Reich geht. Ellen Sandberg erläuterte ausführlich ihre Recherchen und den folgenden Schreibprozess. Ein interessiertes Publikum trug nach der Lesung mit dem Thema angemessenen Wortmeldungen dazu bei, dass diese Veranstaltung inhaltlich tiefer ging und mehr wurde als nur eine von vielen Lesungen im Rahmen von Leipzig liest.

Es gibt einfach nichts in meinem Leben, was sich zu erzählen lohnt. Gar nichts. Behauptet der Protagonist in Christoph Heins großem Deutschlandroman Glückskind mit Vater, der 2016 erschien. Auf einer Buchmesse gibt es viel zu erzählen, schließlich treffen sich dort Leute, die etwas zu sagen haben. Und man erfährt von den vielen neuen Erzählungen aus den Federn und Tastaturen auflagenstarker Autoren, talentierter Nischenbesetzer, von Dichtern ferner Länder, von lustigen und traurigen Geschichten, Neuigkeiten und alten Legenden.

Drei ganz persönliche Favoriten die mir in der Masse des Überangebots aufgefallen sind, die es gewiss zu lesen lohnt, seien hier ultrakurz vorgestellt:

Angelika Klüssendorf hat mit Jahre später einen dritten Roman über ihre den Lesern längst vertraute Hauptfigur April geschrieben. Aus dem Mädchen ist eine Ehefrau geworden. Es sei die Anatomie einer toxischen Partnerschaft versprechen Verlag und Autorin. Wie die Vorgänger besticht auch dieser Roman durch eine klare, knappe Sprache und nüchtern realistische Darstellungskraft.

Dana Grigorcea stammt aus Rumänien, lebt in Zürich und schreibt auf Deutsch. Ihr neuestes Werk ist die Novelle Die Dame mit dem maghrebinischen Hündchen. In dieser Anspielung an den ähnlichen Titel einer Tschechow-Erzählung geht es um die verheiratete Tänzerin Anna deren Leben vor dem Hintergrund des gesitteten Wohlstands der Schweiz durch eine Begegnung eine überraschende Wendung erfährt. Elegante, schöne Sprache.

Klaus Modick: Nach Brecht, Feuchtwanger und Rilke ist nun der inzwischen literarisch wiederentdeckte Eduard Keyserling an der Reihe. Modick versteht es in unnachahmlicher Weise aus Lebensabschnitten interessanter Figuren der Literaturgeschichte spannende Romane zu machen. Keyserlings Geheimnis ist selbst dann lesenswert wenn man den aus dem damals deutschen Lettland stammenden adeligen Autor bisher nicht kannte.

Literatur und Musik sind Geschwister. Gerne machen Sie einmal etwas zusammen. Und so gibt es jedes Jahr auf der Leipziger Buchmesse eine Abteilung mit Musikalien aller Art und Ständen namhafter Musikverlage. Im Mittelpunkt das Musik-Café, ein Ort des Innehaltens, wie auch der musikalischen Präsentationen, der Vor- und Aufführungen schöner und manchmal schräger Töne. Ein Ort für Zuhörer. Für Messemenschen, die dem literarischen Dauertrubel für einige Augenblicke entkommen möchten und gerne zu- und hinhören. Der Abstecher zur Musik lohnt sich in Leipzig Jahr für Jahr.

Heiteres und stimmungsvolles Erlebnis war in diesem März eine musikalische Kurzbiographie Wolfgang Amadeus Mozarts. In erster Linie an Kinder adressiert hatten auch alle Nichtmehrkinder, Erziehungsberechtigte und zufällig Anwesende ihren großen Spaß an den Darbietungen die eine handvoll Mitglieder des MDR-Symphonieorchesters und des MDR-Chores arrangiert hatten. Mit sichtlichem eigenen Vergnügen erfreuten sie eine begeisterte Zuschauerschar aus Jung und ein wenig Älter.

Buch voraus lautete das diesjährige Motto in Leipzig. Ein Slogan der eher ratlos macht, weil man sich sofort fragt, was kommt dahinter? Wenn das Buch voraus geht und – wie Schwarzseher unken – demnächst hinweg, was folgt?

Das Buch bleibt, behauptete mit Nachdruck und Überzeugungskraft der rumänische Politiker und Schriftsteller Varujan Vosganian. Er nannte zahlreiche Beispiele aus der Literaturgeschichte von einst verbotenen, geächteten, verbrannten Büchern, die höchst lebendig in den Regalen der Gegenwart stehen. Er sprach über Diktaturen und ihre erbärmlichen Versuche Bücher und Literatur zu verhindern oder zu verbieten. Er erwähnte den Medienwandel. Sein Fazit war immer: Das Buch widersteht und übersteht. Es ist da und es bleibt. Wenn etwas eine Zukunft hat, dann das gedruckte Buch. Beim alljährlichen Besuch der Leipziger Buchmesse ist man geneigt ihm Recht zu geben.

Vosganian gehört zu einer armenischen Minderheit in Rumänien, davon handelt sein Buch des Flüsterns. Rumänien ist ein Land mit starken Minderheiten und deshalb ein komplexes Gebilde, politisch und literarisch. Mehr dazu demnächst auf con=libri.

“Zum Lesen gibt es keine Alternative” – Notizen zur Leipziger Buchmesse 2017 (II)

Buchmesse 2016. Buchmesse 2017. In den letzten 12 Monaten hat sich die Welt verändert. Deshalb werden in diesem Jahr die Besucherströme kanalisiert und auf allen Zugangswegen Sicherheitskontrollen durchgeführt. Kräftige Männer in Plastewesten mit fluoriszierenden Streifen erkundigen sich freundlich ob Hieb-, Stich- oder Schusswaffen in Handtaschen und Rucksäcken mitgeführt werden, werfen dabei einen meist kurzen Blick in zu öffnende Gepäckstücke. Es geht höflich und verständnisvoll zu. Jedoch, an den “Dolch im Gewande” denkt niemand.

Am taz-Stand sorgte einer der überzeugtesten und überzeugendsten Europäer für enormen Andrang. Mit Schlagfertigkeit und knitzem Humor erreicht der 92-jährige Alfred Grosser mühelos ein junges Publikum. Überall in Europa sind es vor allem junge Menschen, die am Gemeinschaftsgedanken, an freien Grenzen und freiem Denken festhalten wollen. Grosser bestätigt diese Haltung, verkörpert sie selbst ausgesprochen glaubwürdig und bekommt dafür viel Zustimmung und Beifall.

Alfred Grosser (rechts)

“Le Mensch” ist der Titel seines neuesten Buches, das er auf der Messe vorstellte, “Die Ethik der Identitäten” der Untertitel. “Facettenreich und mit vielen persönlichen Rückblicken schreibt Grosser über die Entstehung und Moral sozialer Identität. Dabei wehrt er sich gegen ein altes Grundübel, das aktueller ist denn je – den Finger, der auf andere zeigt, das ‘schlimme DIE’: DIE Muslime, DIE Frauen, DIE Juden, DIE Deutschen, DIE Flüchtlinge. Ein großes Buch, das uns auffordert, auch in schwierigen Zeiten niemals unsere Menschlichkeit zu verlieren.” Heißt es in der Ankündigung des Verlags.

Litauen war das diesjährige Gastland in Leipzig. Ein kleiner Staat am Rande Mitteleuropas, mit einer Ostseeküste, die einst die Familie Mann zu schätzen wusste und in den großartigen Dünen einige Sommerurlaube verbrachte. Ein gewichtiges Pfund für die Tourismuswerbung des baltischen Landes. Darüber hinaus gab man sich alle Mühe den Messebesuchern das literarische Litauen näher zu bringen. Etwa mit einem gedruckten “Crashkurs”, der auf 130 Seiten in “100 Jahre litauischer Literatur” einführt. Die Anzahl der Bücher in deutscher Übersetzung ist nach wie vor überschaubar. Die Titel erscheinen meist in kleineren ambitionierten Verlagen. Wie zum Beispiel dem von Sebastian Guggolz.

Seit wenigen Jahren erst gibt es den Verlag, der sich auf Wiederauflagen und Neuübersetzungen – u. a. von Nobelpreisträgern – aus Nord- und Nordosteuropa spezialisiert hat. Aus Litauen ist der dort allgemein bekannte und sehr verehrte Antanas Skema (1910 – 1961) vertreten. Wie Albert Camus kam der Dichter, der Exiljahre in Deutschland und den USA verbrachte, viel zu jung bei einem Autounfall ums Leben. Der Roman “Das weiße Leintuch” ist sein zentrales, bis heute im Original viel gelesenes Werk. Entlang eigener biographischer Erlebnisse erzählt es vom Schicksal eines Schriftsteller im Exil. Das alter ego des Verfassers schöpft seine Zuversicht sehr stark aus den Erinnerungen an die Heimat. Die baltische Landschaft, literarische Traditionen, Folklore. Die frische Übersetzung ist kommentiert und – wie alle Bücher bei Guggolz – hochwertig ausgestattet.

Sebastian Guggolz (ohne), Klaus Schöffling (mit Bart)

Sebastian Guggolz war mit seinem Verlag einer der Gewinner des diesjährigen “Kurt-Wolff-Preises” für unabhängige Verlage. Während er den Förderpreis entgegennehmen durfte, ging der Hauptpreis an den schon seit vielen Jahren etablierten Verlag Schöffling & Co. und seinen Verleger Klaus Schöffling. “Liebe zum Buch, Mut und Leidenschaft”, seien erforderlich um im heutigen Wettbewerb mit schönen Büchern und außergewöhnlicher Literatur bestehen zu können. So der Laudator Burkhard Spinnen. Gerade die jährlichen Ereignisse auf und rund um die Leipziger Buchmesse zeigen, dass dafür nach wie vor ein gar nicht so kleines Publikum ansprechbar ist.

Besonderes, Schönes, Spannendes und gelegentlich Überraschendes kommt Jahr für Jahr aus der Schweiz. Unsere Nachbarn sprechen, schreiben und lesen ja in nicht weniger als vier Sprachen. Schon bei der Konzentration auf den stärksten Sprachraum, den deutschsprachigen, ist das Angebot so üppig, dass die Auswahl schwer fällt. Martin Suters neuen Roman “Elefant” habe ich allerdings noch nicht gelesen. Ihm wurde einmal mehr große Aufmerksam zuteil, versteht er es doch immer wieder, solide Unterhaltungsliteratur auf gutem Niveau in die Buchläden zu bringen.

Franz Hohler, dessen Erzählungen in der Schweiz schon zum klassischen Schulstoff gehören, war in diesem Jahr mit seinem Gedichtband “Alt?” vor Ort. (“Wird die Sparlampe / die du im WC einschraubst / Brenndauer 10.000 Stunden / länger halten als du?”) Ich habe mir einige von ihm vorgetragene Auszüge angehört, ziehe allerdings seine Prosatexte weiterhin vor. Zuletzt habe ich von ihm den Roman “Gleis 4” gelesen. Noch vergleichsweise jung ist Jonas Lüscher. Ihn konnte ich als Vorleser aus seinem Roman “Kraft” am Schweizer Gemeinschaftsstand erleben. Auf con=libri wurde das Buch bereits besprochen.

Lukas Bärfuss

“Leipzig ist ein Fest für Leser und Schreibende,” findet Lukas Bärfuss, dessen Auftritt mich besonders beeindruckt hat. Er gehört zu denen, die trotz aller professionellen Verbindlichkeiten gerne nach Leipzig kommen. Er spricht über seinen “Hagard”. Anspielungsreich und vieldeutig ist schon der Name des Protagonisten der obsessiven Geschichte. Bärfuss hat eine Schwäche für “Lexiköner” und den Begriff in einem Jagdlexikon gefunden; auch in Shakespears “Kaufmann von Venedig” taucht er auf. Es sind die roten Pumps einer Frau, die er nie richtig zu Gesicht bekommen wird, die Hagards Obsession und seinen daraus resultierenden Niedergang einleiten. Bärfuss: “Kleider machen Leute stimmt gar nicht, Schuhe machen Leute.” Der schmale Roman des Schweizers gehört zu den fesselndsten und originellsten Neuerscheinungen dieses Frühjahrs.

“In dieser kenntnisreichen Biografie dürfen wir alle Astrid Lindgren noch einmal erleben”, schrieb “Dagens Nyheter” als die Originalausgabe von Jens Andersens umfangreicher Lebens- und Werkbeschreibung erschien. Jetzt liegt sie als Taschenbuchausgabe vor. Sie ist deshalb aktuell, weil darin ausführlich die Haltung Lindgrens als Zeitgenossin und politischer Mensch gewürdigt wird. Im Mittelpunkt ihre Vorstellung von einer gewaltfreien Erziehung unter Achtung der Kinderrechte und ihr Wunsch nach einem friedlichen Miteinander in der Welt. Sehr eindrucksvoll sind in diesem Zusammenhang ihre Tagebücher, die sie während des zweiten Weltkriegs verfasst hat. Diese liegen seit Ende letzten Jahres ebenfalls in einer preiswerten broschierten Ausgabe vor

“Und dann muss man ja auch noch Zeit haben einfach dazusitzen und vor sich hin zu schauen.” Diese Lebenshaltung schien ihr keinesweg nur für Kinder empfehlenswert. Ihrem Rat zu folgen bietet schließlich die Zugfahrt Richtung Heimat Gelegenheit. Zeit um dazusitzen, aus dem Zugfenster auf das vorbeiziehende Deutschland zu schauen, Begegnungen mit all den Wahlverwandten in Leipzig, auf der Buchmesse und dem Lesefestival “Leipzig liest” Revue passieren zu lassen, natürlich um zu lesen, und ein wenig auch zu träumen. Von einem Europa das nicht an Oder und Memel, Nordsee und Alpen, Rhein und Karpaten enden darf. Es war der an diesen Tagen in Leipzig der am häufigsten geäußerte Wunsch an die Zukunft: Ein friedliches, tolerantes, demokratisches Europa ohne Grenzen, das in jeder Hinsicht offen bleibt.

Foto: Wiebke Haag

Grosser, Alfred: Le Mensch. Die Ethik der Identitäten. – Dietz, 2017. Euro 24,90

Katkus, Laurynas: 100 Jahre litauischer Literatur. Ein Crashkurs. – Lithuanian Culture Institute, 2017

Hier erfährt man mehr dazu und kann die Broschüre anfordern:

www.lithuanianculture.lt

Skema, Antanas: Das weiße Leintuch. Aus dem Litauischen von Claudia Sinnig. – Guggolz, 2017. Euro 21

Hohler, Franz: Alt?. Gedichte. – Luchterhand, 2017. – Euro 16

Lüscher, Jonas: Kraft. Roman – s. dazu:

Kraft auf con=libri

Bärfuss, Lukas: Hagard. Roman. – Wallstein, 2017. Euro 19,90

Andersen, Jens: Astrid Lindgren. Ihr Leben. – Pantheon, 2017. Euro 16,99 (Dt. Originalausgabe bei DVA, 2015)

Lindgren, Astrid: Die Menschheit hat den Verstand verloren. Tagebücher 1939 – 1945. – Ullstein Taschenbuch, 2016. Euro 14 (Dt. Originalausgabe Ullstein, 2015)