Nicht nur Walser

Bei Gmeiner ist ein umfangreicher Text- und Bildband zur Literatur in Oberschwaben seit 1945 erschienen.

Die vordere Umschlagseite zeigt auf einer Schwarzweiß-Fotografie Maria Menz im Gespräch mit Martin Walser. Die beiden verdeutlichen in beispielhafter Weise das weite Spektrum der oberschwäbischen Literaturszene im 20. Jahrhundert. Hier einer der bekanntesten deutschsprachigen Autoren, vielgelesen, vielgefragt, von dem ein umfangreiches Werk unterschiedlicher Gattungen vorliegt, das verfilmt wurde, übersetzt, das Kontroversen auslöste und seinen Verfasser zum omnipräsenten Zeitgenossen werden ließ. Im März dieses Jahres wurde er 90 Jahre alt, tourt und schreibt derweil unverdrossen.

Dort die katholische Frau, aus einem dörflichen Umfeld, die ihre Begabung vorwiegend in Form mystisch durchwebter religiöser Lyrik und Dialektdichtung umsetzte, der man die Ausübung ihrer Neigung und Begabung nicht durchgehen lassen wollte, die sich dennoch berufen fühlte und vielfältige Widerstände in Kauf nahm. In jungen Jahren entkam sie für kurze Zeit der heimatlichen Enge. Als Krankenschwester konnte sie sich im großstädtischen Leipzig nicht behaupten, verbrachte schließlich als Außenseiterin ein langes Leben in ländlicher Abgeschiedenheit. Durch Walsers Zuspruch und Unterstützung erfuhr sie bescheidene und späte Anerkennung und ruht seit 1996, bereits fast wieder vergessen, auf dem Friedhof von Oberessendorf bei Biberach.

Literatur in Oberschwaben seit 1945 ist ein über 300 Seiten starker Sammelband mit Aufsätzen ausgewiesener Kenner der Region und ihres literarischen Lebens. So sind unter anderem Peter Blickle, Oswald Burger, Ulrike Längle und Peter Renz mit Beiträgen vertreten. Jeder Aufsatz ist in sich abgeschlossen und kann separat gelesen werden. Kleinere Redundanzen ließen sich so nicht ganz vermeiden. Der Gmeiner Verlag hat das Werk in Zusammenarbeit mit der Gesellschaft Oberschwaben editiert, zur Finanzierung des ambitionierten Vorhabens leisteten die Oberschwäbischen Energiewerke einen erheblichen Beitrag.

Manfred Bosch leitet den Band mit seinem Überblick ein. Nicht zufällig trägt der Aufsatz den Titel Oberschwaben als literarische Landschaft nach 1945. Eng verbunden sind die Schriftstellerinnen und Schriftsteller zwischen Donau und Bodensee mit ihrer natürlichen und zivilisatorischen Umwelt, den Hügeln und Tälern, Seen und Flüssen, den kleinen und etwas größeren Städten. Nicht selten findet sich diese Verbundenheit im Werk wieder. Sei es das Leben am großen See bei Walser oder das bäuerlich Existenzielle bei Maria Beig, bis hin zur literarischen Umformung architektonischer und religiöser Besonderheiten bei Arnold Stadler.

Natürlich sind die bekanntesten Namen prominent vertreten. Ernst Jünger, Maria Beig oder Arnold Stadler. Und natürlich Martin Walser, der sich als Patron bis heute immer wieder für die Literatur seiner Gegend und die Persönlichkeiten, die sie schaffen, einsetzt. Denn die Schreibenden Oberschwabens stehen nicht in gleicher Weise im Blickpunkt wie jene der bundesdeutschen Metropolen. So darf man bei der Lektüre des Buches auch an jene denken, die hier nicht vorkommen. Die es trotz einschlägiger Begabung und vorhandenen dichterischen Fleißes nicht geschafft haben verlegt und damit öffentlich überhaupt erst wahrgenommen zu werden. Ganz sicher gehören dazu zahlreiche Frauen des 20. Jahrhunderts. Die Probleme und Hindernisse die Maria Menz, Maria Beig und Maria Müller-Gögler in ihren Laufbahnen und Lebenswegen zu bewältigen hatten, lassen dies zumindest erahnen. Ich weiß, da ist eine Geschichte, und ich weiß, ich werde sie nicht erfahren, beschreibt Cees Nooteboom in seinem Roman Paradies verloren dieses Dilemma.

Ulrike Längle erweitert die Region um das angrenzende Vorarlberg. Das ist geschickt, so sind interessante und bekannte Namen, wie Michael Köhlmeier und Monika Helfer in das Buch geraten. Mit Grenzziehungen ist es ja so eine Sache. Ein geographischer Raum Oberschwaben ist nicht eindeutig definiert und kulturell gibt es traditionell zahlreiche verwandschaftliche Beziehungen, Verflechtungen, Parallelen mit der angrenzenden Nachbarschaft in Österreich, der Schweiz, den bayerischen und badischen Ländereien.

Auf dem vorderen Umschlag sehen wir ein zweites Bild, das uns die malerische Pracht im Inneren des Rathauses der Stadt Wangen erahnen lässt. Und wir sehen die Teilnehmer am sogenannten Literarischen Forum Oberschwaben, die sich hier zu einer ihrer jährlichen Zusammenkünfte getroffen haben. Zu den Förderern, Inspiratoren oberschwäbischen Kunstschaffens im weitesten Sinne gehörte der feinsinnige Kommunikator Walter Münch, einst Landrat des Kreises Wangen, als es diesen noch gab. Er und weitere engagierte Mitstreiter waren es, die die Tradition des Forums ins Leben riefen. Es handelt sich dabei um offene Treffen von Autoren und Autorinnen, die aus dem Gebiet stammen oder sich ihm zugehörig fühlen, zu zwanglosem Kennenlernen und Erfahrungsaustausch. Das Buch berichtet darüber ebenso wie über das Wirken einer literarischen Gruppe, die als Ravensburger Kreis bis 2005 existierte.

Literatur in Oberschwaben seit 1945 gewinnt zusätzlichen Wert und Reiz durch die zahlreichen Abbildungen, darunter viele Personenporträts. Ein großer Teil der Fotografien stammt von dem in diesem Jahr verstorbenen Rupert Leser. Über viele Jahrzehnte ein in vielen Medien und Ausstellungen vertretener Bildchronist der oberschwäbischen Landschaft und ihrer Menschen.

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Weber, Edwin Ernst (Hrsg.): Literatur in Oberschwaben seit 1945. – Gmeiner-Verlag, 2017

(Der größte Teil der Beiträge in diesem Buch basiert auf Vorträgen während einer Tagung der Gesellschaft Oberschwaben, die 2011 im Volkshochschulheim Inzigkofen stattfand.)

Kurz-Vorstellung: „Hofkind“ von Silke Knäpper

Bernd Michael Köhler hat das Buch gelesen. Hier sind seine Eindrücke.

Nach ihrem Debut “Im November blüht kein Raps “ (2012) liegt nun – wiederum bei Klöpfer & Meyer – ein neuer Roman der in Neu-Ulm lebenden Autorin Silke Knäpper vor.

In Rückblicken erzählt das „Hofkind“ Carla Gehrke, eine junge Frau in Freiburg, die Geschichte ihrer Herkunft und ihrer Befreiung aus einem inneres Wachstum und Eigensinn verhindernden Familiensystem.

Die einzelnen Charaktere mit ihren psychischen Abgründen, die Beziehungen der Familienmitglieder zueinander, die gegenseitigen Abhängigkeiten, das destruktive Verhalten der Protagonisten, die dramatischen Höhepunkte, all das schildert die Autorin in ihrer Ich-Erzählerin Carla psychologisch plausibel, in einer klaren, rhythmisch stringenten Sprache, formal gebändigt in 32 meist kurzen Kapiteln.

Unterstützt wird sie in dem Roman von den positiven Figuren der Freundin Jule und eines jungen Mannes namens Frieder. Beide haben ihre jeweiligen Familienschädigungen weitgehend überwunden. Carla erlebt an ihnen und mit ihnen, dass Individuation tatsächlich möglich ist.

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Foto: B. M. Köhler

Die von der Motivik her schon vielfach variierte Geschichte der Emanzipation einer jungen Frau von lebensfeindlichen Familienverstrickungen hat bei Silke Knäpper einen sehr eigenen Ton. Mit ihren überraschenden Wendungen und vielschichtigen Persönlichkeiten ist sie ausgesprochen spannend zu lesen. Leserinnen und Leser (ja, auch die immer seltener werdende Erscheinung „Roman-Leser“!) können Carla und ihren Weg zu einem eigenen Leben mit viel Anteilnahme und Sympathie begleiten.

Der in con=libri bei der Vorstellung ihres Debuts geäußerte Wunsch, dass die Autorin den Mut habe, beim nächsten Versuch noch etwas eigensinniger zu werden, ist bei diesem Roman in attraktiver und origineller Weise in Erfüllung gegangen. Mit einem starken, in eine gute Zukunft weisenden Schlusssatz lässt die Schriftstellerin ihre hoffentlich große Leserschaft satt und zufrieden zurück.

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Silke Knäpper: Hofkind. Roman. – Tübingen: Klöpfer & Meyer, 2016. Euro 19,00

Vor ziemlich genau vier Jahren erschien Silke Knäppers erster Roman und wurde auf con=libri vorgestellt.

Bernd Michael Köhler lebt in Neu-Ulm und arbeitete viele Jahre als Bibliothekar an der Universitätsbibliothek Ulm. Natürlich ist er ein passionierter Leser. Darüber hinaus fotografiert er und schreibt gelegentlich.

„Wege mit Martin Walser“

Susanne Klingenstein gelingt in ihrem Buch die glückliche Verbindung von wissenschaftlichen Anspruch mit leserfreundlicher Ausführung.

Von der ersten Seite an muss ich markieren, Sätze, Passagen merkbar und wiederauffindbar machen. Gleich zu Beginn die Aussage über eine Entwicklung, von der jeder leidenschaftliche Literatur- und Buchmensch weiß, sie jedoch nur ungern wahrhaben will: “ … die Welt des intensiven Lesens ist in diesen Tagen am Untergehen.”

Sholem Yankev Abramovitsh (es gibt viele Schreibweisen des Namens) wurde 1836 in Kopyl, nahe Minsk geboren. Unter dem Namen Mendele der Buchhändler brachte er in jiddischer Sprache verfasste Romane vor Ort zu den Lesern. Mendele/Abramovitsh wurde zum Begründer erzählender jiddischer Literatur. Was würde er wohl sagen, wüsste er, dass sich fast 100 Jahre nach seinem Tod, er starb 1917 in Odessa, ein deutscher Groß-Schriftsteller und eine deutsch-amerikanische Literaturwissenschaftlerin intensiv mit seinem Werk befassen und zwei eigenwillige Bücher über diese Studien verfassen?

Susanne Klingenstein, die eigentlich vorhatte eine jiddische Literaturgeschichte zu schreiben, blieb an dieser Personlichkeit hängen und es entstand zunächst das umfangreiche Portrait “Mendele der Buchhändler”. Als sich die Arbeit noch im Manuskript-Stadium befand, wurde Martin Walser darauf aufmerksam und begeisterte sich für die Werke Abramovitshs. Unter Titeln wie “Fischke der Krumer”, “Die Mähre” und “Schloimale” wurden diese, sowie einige andere seiner Romane ins Hochdeutsche übersetzt. Martin Walser, der wohl die meisten gelesen hat, schrieb dem Dichter das literarisches Denkmal “Shmekendike Blumen” und half Susanne Klingenstein einen Verlag für ihr Buch zu finden.

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Susanne Klingenstein. – Copyright © Rachel Klingenstein

Die Autorin ist in Baden-Baden aufgewachsen, studierte Germanistik, Philosophie, Geschichte und Amerikanistik in Heidelberg, Harvard und Brandeis (Mass.), promovierte 1991, bereits in die USA übersiedelt, in Heidelberg, lebt und lehrt seit inzwischen fast dreißig Jahren in Boston. Zum Bodenseeraum hatte und hat sie familiäre Verbindungen, ist immer wieder in Walsers Geburtsort Wasserburg zu Besuch. Seine Romane, Erzählungen, Essays haben sie von jungen Jahren an begleitet.

Um ihre “Wege mit Martin Walser” mit Gewinn und Genuss lesen zu können, sollte man seine Bereitschaft zum intensiven Lesen behalten haben oder wiederentdecken. Es lohnt sich.

Erzählt wird von Wasserburger Spurensuchen und den ersten persönlichen Begegnungen Klingensteins mit Walser. Berichtet von der Faszination beider an der Welt der jiddischen Literatur, dem gemeinsamen Interesse an Abramovitsh, dem Entstehen ihrer Bücher. Wir erleben das spannende Duell zweier völlig unterschiedlicher Charaktere. Hier der emotional narzistische Schriftsteller, dort die analytisch fundierte Geisteswissenschaftlerin. Wir sind neutral und behaupten es endet unentschieden.

“Die Beschäftigung mit der jiddischen Literatur gehört in Deutschland, Israel und Amerika zum kulturellen Luxus, den man in Hochschulen konserviert und den sich einzelne Intellektuelle leisten.” Immerhin Walser und Klingenstein haben sich diesen Luxus geleistet und Susanne Klingenstein lässt uns mit ihrem Buch teilhaben an den intensiven Prozessen des Austauschs, des Widerspruchs, der Annäherungen.

In poetischem Ton schildert sie ihre Reisen durch Oberschwaben, die Bahnfahrten am See entlang zum Schriftsteller. Mit der Regionalbahn von Wasserburg über Friedrichshafen, vorbei an der barocken Birnau, bis Nussdorf. In kurzer Zeit viele Assoziationen und Gedanken zu diesem Kirchenjuwel auf seiner Anhöhe. “Nur fünf Sekunden dauert das Schauspiel, dann ist der Zug an der Birnau vorbei und taucht wieder in Grünes ein. Zwischen See und Schienenstrang schieben sich baumbestandene Grundstücke und eine Straße. Hier wohnt Martin Walser.”

Einmal ist es eine Reise nach Isny zu frühen Quellen jiddischer Literatur. Ein andermal die Fahrt nach Schussenried, wo im Bibliothekssaal des ehemaligen Klosters die Urlesung zu Walsers “Muttersohn” stattfindet und Klingenstein auf Mitglieder der Walserschen Großfamilie nebst einiger Wahlverwandter trifft. Die Töchter, die Schwiegersöhne Selge und Ott, Arnold Stadler.

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In den Sinn kommen mir meine eigenen Ausflüge, Fahrten, Wanderungen im Gebiet zwischen Donau und Säntis. Meine oberschwäbische Seelenlandschaft. Wasserburg, Meersburg, Überlingen. Wangen, Isny, Ravensburg. Steinhausen, Biberach und natürlich Ulm. Es gibt Flecken, da kenne ich jeden Trumlin und Weiher, jeden Weg und Steg. Dieses Hügelland der drei Marien, von Sepp Mahler und André Ficus, von Sebastian Seiler und der Droste. Otl Aicher und Inge Aicher-Scholl, die für mich wichtig waren. Das Land der namenlosen dichtenden und singenden Klosterbrüder und -schwestern, der jubelnden Orgeln, stillen Moore und herbstgoldenen Sonnenuntergänge.

Klingenstein kommt nach Nussdorf, Walser nach Boston. Am 9. November 2011 spricht er an der Harvard University “Über Rechtfertigung”. Rechtfertigung des Einzelnen, des Individuums, u. a. am Beispiel von Kafkas Josef K. im Roman “Der Prozess”. Eine erweiterte Fassung der Rede erscheint im Frühjahr 2012 als Buch. In “Wege mit Martin Walser” erfahren wir von den komplizierten Vorbereitungen dieser Reise, dem nicht ganz geglückten Auftritt, den Verständigungsprobleme im sprachlichen, wie im übertragenen Sinn.

Im Herbst 2014 sind sie gemeinsam mit ihren Abramovitsh-Büchern unterwegs. Die Premiere ist im September in Überlingen. Ungewöhnlich und überraschend, da Walser eigentlich nicht an seinem Wohnort liest. Jetzt also Überlingen. Er soll einleiten und moderieren. Mit etwa 600 erwartungsvollen Menschen ist der Saal proppenvoll. Es gibt Differenzen in Sachen Dramaturgie und Reihenfolge des Auftritts. Ein Überraschungsgast wird kurzfristig dabei sein. Klingenstein setzt sich durch. Walser ist verschnupft.

Die Schilderung dieser ersten gemeinsamen Lesung gehört zu den dramatischen Höhepunkten des Buches. Sie zeigt deutlich, welch enorme Belastungsprobe dieses Kräftemessen für die Arbeitsbeziehung ist. Über mehrere Jahre war Susanne Klingenstein immer wieder bei Walser in Nussdorf auf der Terasse gesessen, es war entstanden, was verband und zugleich an einigen Stellen trennte. Diese Ambivalenz wird bei der Lektüre der “Wege” deutlich. Zudem erschweren eingeschliffene Gewohnheiten und kleine Sturheiten das Miteinander. “Wer mit Martin Walser auf Lesereise geht, braucht eine Uhr, Selbstbeherrschung und starke Schnäpse.”

“Ein springender Brunnen”, “Mein Jenseits”, “Muttersohn”, “Ein liebender Mann” sind Erzählwerke Walsers, die Klingenstein immer wieder aufruft, zitiert, ihren biographischen und kulturhistorischen Quellen nachhorcht. Die ganze Tiefe abendländischer Geistesgeschichte, ein breiter literarischer, religiöser und philosophischer Kanon stehen ihr dabei zur Verfügung. Faszinierend zu erlesen aus welchen Brunnen sie zu schöpfen vermag. Auf Walsers Wasserburger Kindheitsroman hat sie mir eine völlig neue Sichtweise eröffnet. Sie kommt zu dem Schluss, dass dieses Buch “einer der bedeutendsten deutschen Erinnerungsromane” ist. “Er erzählt, wie ein Junge in einer Welt, in der Angst und Tod dominieren, zur Liebe und zum Schreiben findet.”

Wenn die Autorin Bezüge zu Rezeption und Kritik herstellt, spielt Walsers Dankesrede zur Verleihung des “Friedenspreises des Deutschen Buchhandels” am 11. Oktover 1998 in der Frankfurter Paulskirche eine zentrale Rolle. Die Schilderung von Diskussionen und Kontroversen, des Unverständnisses das dem Ausgezeichneten mit Verzögerung entgegenschlug, Missverständnisse die anwuchsen, nicht selten gewollt waren, das Aneinandervorbeireden. Die ganze Differenzierungsverweigerung der berufenen und sich berufen fühlenden Kritiker und Meinungsinhaber. Bei der Lesung in Überlingen kommt es zu einer Aussage Walsers, über die Klingenstein schreibt, dass man sie “schon lange so eindeutig hatte hören wollen. Sie war das geheime Zentrum des Abends gewesen.”

Der Satz: “In mir dominiert die Mitteilung, dass wir dieses Volk umbringen wollten und zu Millionen umgebracht haben.”

Klingenstein: “Die Radikalität des Wortes wollten, mussten die Hörer erst einmal erkennen. Das Wichtigste ist bei Walser immer knapp unter der Oberfläche.”

In Überlingen wurde notwendig und überfällig ergänzt.

“Was ich beschreibe, habe ich so erlebt. Meine Erzählung handelt von der Differenz zwischen Werk und Leben, zwischen Zauber und Wirklichkeit. Die Brücke vom Leben zum Werk ist die Zauberleistung eines Schriftstellers.”

Buch

Gelungen ist ein einfühlsames, gleichzeitig differenziertes, nie unkritisches Portrait eines der wichtigsten deutschsprachigen Schriftsteller unserer Zeit, eines Handlungsreisenden in Sachen eigene literarische Produktion und nicht zuletzt das eines manchmal glauben wollenden, meist zweifelnden, stets liebenden Mannes. Der immer alles schöner schreiben will als es ist. Wir erfahren von Enttäuschungen auf dem gemeinsamen Weg, kleinen Demütigungen, Verletzungen. Nach jahrelanger Zusammenarbeit, den vielen Treffen und dem gemeinsamen Reisen, gelingt der vorläufige Abschied leidlich.

Der findet am 16. Oktober 2015 nach einer Lesung im Rahmen der Frankfurter Buchmesse statt. Er liest aus einem Roman der noch nicht erschienen ist: “Ein sterbender Mann.” Nach der Lesung geht Susanne Klingenstein zu ihm hin. “Ich reichte ihm die Hand. Er nahm sie in seine beiden Hände und hielt sie fest. Morgen würde er in Naumburg … den Nietzsche-Preis entgegennehmen und ich würde im Flugzeug nach Boston sitzen. Wir waren im Klaren miteinander.” Im April 2016 wird “Wege mit Martin Walser” bei weissbooks erscheinen.

Walsers Romane waren für sie schon früh ein Stück Heimat und “Kulturgepräch meiner bürgerlichen Klasse … “ In ihrem Buch lässt sie immer wieder Details des eigenen Werdegangs einfließen, der Kindheit, den Stationen des Studiums, die wichtigsten Persönlichkeiten, die sie prägten. Dann der Entschluss in den USA zu bleiben, Heirat, Kinder, doch nie ganz weg aus Deutschland, vom Bodensee. “Meine Wurzeln stecken im Wolmatinger Ried.”

Vom westlichen Rand der Wasserburger Halbinsel kann man direkt ins Paradies schauen. Es ist ein Teil des Nachbarorts Nonnenhorn, der so heißt. Susanne Klingenstein war als Kind oft bei ihren Großeltern im Konstanzer Stadtteil Paradies. In Walsers Büchern begegnen wir Figuren, die an ein überirdisches Paradies glauben oder gerne glauben können würden. Auch dem Dichter geht es manchmal so. Glauben können, das kann ein Privileg sein. Allerdings ist ein Paradies wie es die Religionen verheißen untauglich als Sehnsuchtsort. Nirgends wären wir unfreier, unterworfener, hoffnungsloser als in diesem Jenseits des Lust- und Ewigkeitszwangs.

“Was ist mein Paradies?” fragt Susanne Klingenstein. “Frei und sorglos durch einen literarischen Raum streifen, schönen Ideen nachlaufen, Gedankenverbindungen entdecken, die blitzartig das Leben erhellen, Sätze lesen, die ins Herz treffen, selber welche machen.”

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Schloss Giessen, bei Kressbronn. – Foto: Giacomo

Ein Junitag im verregneten Frühjahr 2016. Früher trüber Abend in Kressbronn. Der Himmel hat alle Schleusen geöffnet. Rund um das oberhalb des Ortes gelegene Schloss Giessen sumpfige Wiesen, tiefe Pfützen, morastige Wege, feuchtglänzende Apfelbäume in Reih und Glied, ungeduldig himmelstrebender Hopfen. Das Schloss ist eigentlich eine Turmhügelburg, sie entstand an der Stelle römischer Wehranlagen, die einst den Argenübergang bewachten. Der gegenwärtige Burgherr und Besitzer der Anlage heißt Werner Heine. Er hat nicht zuletzt in über vierjähriger Arbeit den vom Einsturz bedrohten Turm gerettet und wieder begehbar gemacht. Hin und wieder öffnet er das Schloss für kulturelle Veranstaltungen wie Lesungen, Konzerte oder Tagungen.

Hier begegne ich Susanne Klingenstein. Und Sabine Zürn, eine profunde Kennerin der Werke Walsers, die den Abend mitgestaltet. Sie lebt in Wasserburg und trägt einen Namen, den der Dichter von dort zu Literatur gemacht hat. Klingenstein und Zürn haben das Publikum für sich. Walser ist jetzt ganz literarische Figur eines Textes aus dem die Verfasserin einige der wirkungsvollsten Passagen vorträgt. Protagonist ist er, in einem Buch, über das sich die beiden Frauen, die Lesungsteile ergänzend und für die Zuhörer mit Gewinn, ausführlich unterhalten.

Auf der Heimfahrt, die Gewissheit, dass hinter dem dichten Regen der See liegt. Und der Säntis. Und die thurgauer Gemeinde Hauptwil, von wo im Frühjahr 1801 der verwirrte, verstoßene, abgerissene Hölderlin in die Heimat zurückkehrte. Ein Dichter von dem viele Zeitgenossen, die mit mir irgendwann einmal durch Kressbronner, Wasserburger, Ulmer oder Konstanzer Straßen wandeln, noch nie gehört haben. Auch daran erinnert Susanne Klingenstein in ihrem Wege-Buch und zitiert das Ende seines Griechenlandgedichts. “Laßt, o Parzen, laßt die Schere tönen, / Denn mein Herz gehört den Toten an!” Das sei das Los der Literaturhistoriker, schreibt sie.

Wir Leser dürfen uns indessen weiterhin, ganz naiv und ganz nach eigener Neigung, an den Dichterinnen und Dichtern der Gegenwart freuen. Und an dem Buch Susanne Klingensteins, das uns mitnimmt auf ihre “Wege mit Martin Walser.”

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Alle Zitate (mit Ausnahme der Hölderlin-Verse) aus:

Klingenstein, Susanne: Wege mit Martin Walser. Zauber und Wirklichkeit. – Frankfurt am Main : weissbooks, 2016

Die Abramovitsh-Bücher:

Klingenstein, Susanne: Mendele der Buchhändler. Leben und Werk des Sholem Yankev Abramovitsh. – Harrassowitz, 2014 (Jüdische Kultur, 27)

Walser, Martin: Shmekendike blumen: Ein Denkmal / A dermonung für Sholem Yankev Abramovitsh. – Reinbek : Rowohlt, 2014

“Über das Land hinaus”

Von Lenz und Niedlich, bis Sayer und Riethmüller. Irene Ferchls Zeitreise durch den literarischen Südwesten.

Am 8. Mai 1955 hielt Thomas Mann seine berühmte Rede zum 150. Todestag Friedrich Schillers. Im Großen Haus des Württembergischen Staatstheaters zu Stuttgart. Im selben Jahr wurde in Marbach am Neckar, Schillers Geburtsstadt, das Deutsche Literaturarchiv gegründet. Von 1953 bis 1968 existierte die “Hochschule für Gestaltung” in Ulm. Inge Aicher-Scholl, Otl Aicher und ihr erster Rektor Max Bill wollten so die Bauhaus-Tradtion fortführen.

“Literarisches Leben in Baden-Württemberg” ist der Untertitel des großformatigen Bandes, der mir diese Ereignisse vergegenwärtigt. Er ist bei Klöpfer & Meyer erschienen. Schwarz auf gelb signalisiert er die Landesfarben, seine inhaltlichen Grenzen sind allerdings nach allen Seiten offen, wie der Titel erkennen lässt. Begrenzen musste sich die Autorin und Herausgeberin bei der zu berücksichtigenden Zeitspanne. Sie beginnt 1950, fünf Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs und zwei Jahre vor der Entstehung des heutigen Bundeslandes, und erreicht schließlich unsere Gegenwart. So ist eine Kapiteleinteilung entstanden, die sich in sieben Dekaden gliedert.

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Gegründet 1828 in Leipzig. Heute in Baden-Württemberg zu Hause: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH

Natürlich lassen sich nicht alle Ereignisse, Personen, Werke einer einzigen Dekade zuordnen, die Chronologie wird oft erweitert oder durchbrochen, “denn Geschichte und Geschichten spielen sich eben niemals geordnet ab: Da gibt es Rückblicke und Rückblenden … die historischen Schichten mischen sich, fließen ineinander … “ (Irene Ferchl im Vorwort). Entsprechend bunt und vielfältig sind die Stilelement, die Formen, die für diese kaleidoskopische Vorgehensweise verwendet werden: “Essays und Romanauszüge, Gespräche und Gedichte, Erzählungen und Interviews, Porträts und Reportagen.” Der renommierte “schwäbische” Kulturwissenschaftler Hermann Bausinger hat eine Einleitung geschrieben, in dem er den Kulturraum Südwestdeutschland ungeachtet politischer Landesgrenzen definiert.

Jeder Zeitabschnitt beginnt mit einem kurzen prägnanten Text eines schreibenden Zeitgenossen und einem Zeitfenster, dass einige wichtige Meilensteine der jeweiligen Epoche in Erinnerung bringt. Das ist sehr nützlich. Denn wie mir, wird es vielen Anderen auch gehen. Hatte ich doch völlig verdrängt, dass am 4. Oktober 1983 das Stuttgarter Schriftstellerhaus eröffnete, oder dass Arnold Stadler 1999 mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet wurde. Ähnlich nützlich wie diese Synopsen ist das erstaunlich umfangreiche Namensregister von Achternbusch, Herbert bis Ziegler, Leopold.

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Ein Haus für die Literatur der Zukunft: Die Stadtbibliothek Ulm

Dass in einer Publikation von Irene Ferchl die schreibenden Frauen nicht zu kurz kommen, ist ebenso wenig überraschend wie erfreulich. So war ich sehr angetan, zwei der im allgemeinen Rummel des Betriebs eher als Mauerblümchen anzusehenden oberschwäbischen Marien in diesem Buch zu finden. Maria Müller-Gögler mit dem Gedicht “Kindheit” und Maria Beig mit ihrem Text “Paradies vorm Ausverkauf.” Ebenfalls Außenseiter angesichts landläufiger Vermarktungs-Klischees war sicher der in sich gekehrte Hermann Lenz und ist es der Zeitgenosse Walle Sayer mit seinen schmalen Bändchen in denen seine zarten Miniaturen erscheinen.

Unterhaltsam amüsant sind die Beiträge von Peter Härtling (“Die Kehrwoche”) und Thaddäus Troll (“Der Schwabe und die Musen”). Spannend die Informationen über die Entwicklungen im Buchhandel in diesen fast 70 Jahren. Da wird zum einen an das Stuttgarter Bibliotop des Wendelin Niedlich erinnert (“Babylonische Buch-Türme und -Labyrinthe”), während Osiander-Chef Heinrich Riethmüller im Interview über die nicht immer einfache Situation seiner Branche in der Gegenwart Auskunft gibt. Er ist es, der uns Buch- und Literaturenthusiasten etwas aufatmen lässt: “Bei aller Euphorie gegenüber dem E-Book und der Digitalisierung glaube ich, dass man auch in zwanzig Jahre noch gedruckte Bücher haben wird.”

FerchlWas diese Welt der schönen Bücher und ihrer Macher im deutschen Südwesten zu bieten hatte und immer wieder anzubieten hat, macht das mit zahlreichen schwarzweißen Fotos illustrierte Buch von Irene Ferchl deutlich.

Ferchl, Irene (Hrsg.): Über das Land hinaus : literarisches Leben in Baden-Württemberg. – Klöpfer & Meyer, 2016

Literaturwoche Donau 2016

Persönliche Impressionen links und rechts des Stroms

LW DonauAlles ging nicht. Dazu war das Programm der „Literaturwoche Donau 2016“ zu prall, zu vielfältig, zu dicht. Es hieß auswählen, mit anderen Terminen und Interessen abstimmen – auch gelegentlich schweren Herzens verzichten. Was blieb, war mehr als genug. Begegnungen mit Autoren und Autorinnen, Künstlerinnen und Künstlern, Verlegern, und nicht zuletzt Musikern die lange in Erinnerung bleiben. Anregungen, Anstöße, Aufforderungen. Nachdenkliches, Bewegendes, Heiteres.

In love with Shakespeare. Seit 400 Jahren ist er bereits tot. Kopflos liegen seine sterblichen Überreste in kalter Gruft, wie wir aktuell erfahren mussten. Er ist einmal mehr im Gespräch, im Feuilleton breit vertreten und gut im Geschäft. Shakespeare: seine Zeit, Werk und Wirkung – auf 100 Seiten hat Stefana Sabin alles Wissenswerte über den Barden vom Avon zusammengefasst. (Sabin, Stefana: Shakespeare auf 100 Seiten. – Reclam, 2014)

Kenntnisreich und charmant – oft mit einem Lachen – erzählte die in Bukarest geborene Literaturwissenschaftlerin und Publizistin in der Buchhandlung Jastram vom englischen Dramatiker und Reimer. Von denen, die ihn verehrten, und jenen, die ihn weniger schätzten, wie Voltaire, Shaw, Wittgenstein oder Tolstoi. Sie berichtete von der Shakespeare-Bewunderung der Goethe-Zeit und von der langen Geschichte und Vielzahl der Übersetzungen. Wie der bekannten von Schlegel/Tieck im 19. Jahrhundert, oder der neuesten Komplett-Übertragung aller Dramen durch Frank Günther. Von den vielen, die anlässlich von Theater-Inszenierungen entstehen und nicht dokumentiert sind. Stefana Sabin selbst schätzt besonders Erich Frieds Versionen.

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Mit dem Publikum diskutierte sie über die Unklarheiten in der Biographie des Dichters. Und betonte, dass die dramatischen Dichtungen Shakespeares keine Hochkultur, sondern Massenunterhaltung waren, für alle gesellschaftlichen Schichten, im Original oft zotig, mit vielen satirischen Anspielungen auf die Obrigkeit.

“Der Text soll sprechen.” Am eindrucksvollsten spricht er durch sie selbst. Nora Gomringer muss man erleben. Bücher sind schön, CDs nicht schlecht, aber eigentlich geht nur in echt. Der Saal der Museumsgesellschaft war überfüllt als dieses Ereignis im Rahmen der diesjährigen Literaturwoche anstand. Und am Ende waren alle glücklich und zufrieden, bereichert und beifallsfreudig. Die Künstlerin nicht weniger, wie sie nach ihrem Auftritt wissen ließ.

Sie las u. a. aus ihren Büchern „Monster Poems“, „Morbus“ und „Ich bin doch nicht hier, um Sie zu amüsieren“. (Alle bei Volland & Quist erschienen, dem großen Verlag für die kleinen Formen.) Amüsiert hat sie ihr Publikum natürlich gerade zum Trotz. Doch nie ohne Hintersinn. Bei ernsten Themen gelingt es ihr den Zuhörern ein Lächeln zu entlocken. Im scheinbar heiteren Inhalt, lauert immer das Doppelbödige.

“Ich bin Dichter!” Darauf zu bestehen, dass dies eine durchaus zulässige Existenzform ist, diese Freiheit nimmt sich Nora Gomringer. Allen pietistisch geprägten, erwerbsfleißigen Ulmern, die zweifeln dass Kunst Arbeit sein kann, ruhig einmal deutlich gesagt. Und sie ist Dichterin. Poetin mit Leib, Seele und Stimme.

„Ich bin der Verlag“. Hinter den Backstein-Festungsmauern der Neu-Ulmer Venet-Haus Galerie erzählte Sebastian Guggolz die erstaunliche Geschichte seiner Verlags- und Verlegertätigkeit. Der Gewinn aus einer Quizshow im letzten Sommer hat ihm ermöglicht mit dem eigenen Unternehmen weiter zu machen. Er verlegt Autoren und Autorinnen, die nicht mehr leben und deren Werke ungerechtfertigt der Kurzatmigkeit des Buchgeschäfts zum Opfer gefallen sind. Neuauflagen bedeutender literarischer Werke, die längst aus dem Blickfeld möglicher Leser und den Lagern der Verlage und Großhändler verschwunden sind. Schwerpunkt sind dabei die kleineren Sprachen Nord- und Osteuropas.

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Vergessene Nobelpreisträger sind dabei, wie der finnische Literatur-Nobelpreisträger Frans Emil Sillanpää (1888 – 1964, Nobelpreis 1939) mit seinen Romanen „Frommes Elend“ und „Hiltu und Ragnar“. Bei seinem Besuch in Neu-Ulm hat Guggolz bereits die nächsten beiden skandinavischen Literaturnobelpreisträger angekündigt: Johannes Vilhelm Jensen (1944) aus Dänemark und Harry Edmund Martinsson (1974) aus Schweden. Wir sind gespannt, welche Werke Guggolz auswählt.

Aus der Region. Ein Dienstagabend im April. Die Literaturwoche Donau mit einem Verleger- und Autorenfest zu Gast im Neu-Ulmer Kultur-Café d’Art mit seiner umtriebigen, gastfreundlichen Wirtin Heidi Völzke. Moderatorin des Abends ist Wibke Richter, für kraftvolle musikalische Momente steht das Gitarren- und Gesangsduo Roadstring Army. Rappelvoller Saal. Beste Stimmung. Im Mittelpunkt drei regionale, unabhängige Verlage. Schnell wird klar, dass die mehr zu bieten haben als provinziellen Kleingeist. Hier sind Abenteurer am Werk, die ihre Ein- und Glücksfälle am liebsten zwischen Buchdeckeln und in hochwertigen Druckwerken verwirklicht sehen.

Bei Thomas Zehenders „danube books“ ist der Name Programm. Es geht die Donau entlang Richtung Osten. Eine überfällige Grenzüberschreitung, blicken die etablierten Kulturmacher doch meist leicht halsstarrig westwärts. „Skizzen aus Slawonien/Sketches of Slavonia“ mit Photographien von Damir Rajle und ergänzenden Texten in Deutsch, Englisch und Serbo-Kroatisch, setzt mit eindrucksvollen Aufnahmen aus besonderem Blickwinkel diese fruchtbare, im Osten des heutigen Kroatien gelegene Region, ins Bild.

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Übrigens: Wer sich für die Geschichte der donauschwäbischen Auswanderer interessiert, darf sich auf den Titel „Die zweite Heimat. Eine Familienchronik aus Südungarn“ freuen, der erstmal am 23. Juni im Donauschwäbischen Zentralmuseum präsentiert wird.

Der Verleger der  „edition dreiklein“ ist Martin Gehring. Zusammen mit der Illustratorin Marion Hartlieb hat er das Kinderbuch „Kiki – Alles fliegt“ gestaltet, das im Juni zeitgleich in einer deutschen und einer französischen Ausgabe erscheinen wird. Hartlieb hat zudem ihr Interesse an der österreichischen Kaiserin Elisabeth, die unter dem Namen „Sissi“ populär wurde, in eine liebevolle Adaption für Kinder umgesetzt. In „Die Sisi aus Possenhofen“ malt sie sich phantasievoll und in leichten Farben das Leben der kleinen Elisabeth aus.

Martin Gehring hat als Autor mehrere Bücher veröffentlicht, darunter den satirischen Hühner-Western „El Pollo – Entscheidung in der Sierra Chica“ (erschienen im Verlag Manuela Kinzel). Er liest eine Kurzgeschichte, in der es um den Rapp-Bier-Konvoi auf württembergischen Autobahnen und einen Nutztiertransport geht. Eine humorvoll überzeichnete Erzählung mit der er das Publikum zum Schmunzeln und Lachen zwingt.

Vom Ulmer Dichter Marco Kerler erschien 2015 der Lyrik-Band „Schreibgekritzel“ bei Kinzel. Seine nächste Veröffentlichung plant er derzeit mit der „edition dreiklein“. Mit der Formation „MarcoBeatz“ macht er RockPoetry, SpokenWord und Improvisation in der Region. Beim Verlegerfest stellte Marco Kerler Beispiele aus seinem Projekt „VolksLyrik“ vor. Spontane Poesie im Dialog mit dem Publikum. Einer von vielen Höhepunkte des Abends dann seine Sprechgesang-Performance zusammen mit den Gitarren von Roadstring-Army. Stimmung in Siedepunkt-Nähe.

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Florian L. Arnold und Rasmus Schöll sind die Hauptdrahtzieher der „Literaturwoche“. Und seit einiger Zeit auch Jungverleger. In dieser Funktion stehen sie Wibke Richter Rede und Antwort. Sehr zum Vergnügen von Jung und Nichtmehrganzjung im Saal, gerät dies zu einer äußerst pointiert-gewitzten Talkshow. Ihr Verlag heißt „Topalian und Milani“, dass dieses kühne Unternehmen bereit ist sich jeder verlegerischen Vernunft zu widersetzen, zeigt ein Werk, dass mit Multitalent Tommi Brehm realisiert wurde.

Der „Appendix Dick“ ist ein künstlerisch gestaltetes Verzeichnis aller Personen die in den Werken des amerikanischen Autors Philip K. Dick vorkommen. Fast 600 Seiten, limitierte Auflage 100 Stück, alle fein gebunden und signiert, die ersten 50 zudem handkoloriert. „Haptik. Optik. Schönheit“ sind die entscheidenden Kriterien für Bücher aus dem Hause Topalian und Milani. Ich freue mich ganz besonders auf den angekündigten Band mit zwei weniger bekannten Novellen von Stefan Zweig.

Viel Beifall zum Schluss für alle Beteiligten. Und wir Zuhörer und Zuschauer wurden nicht nur glänzend unterhalten. Wir haben auch gelernt. Regional hat nichts mit Begrenzung zu tun. Und, dass es unabhängigen Verlagen gelingen kann mit Mut und Offenheit den üblichen, nur scheinbar zwangsläufigen, Markt-Mechanismen erfolgreich zu trotzen.

Von der Lebenskunst. Der oberschwäbische Schriftsteller Werner Dürrson starb 2008. Sein einziges großes Prosawerk, der Roman „Lohmann oder die Kunst, sich das Leben zu nehmen. Eine romaneske Biographie“ (bei Klöpfer & Meyer erschienen und jederzeit lieferbar) droht in Vergessenheit zu geraten. Der in Ulm und Umgebung bestens bekannte und geschätzte Walter Frei brachte mit seiner Lesung diesen literarischen Schatz wieder in Erinnerung.

Er las Abschnitte, die zeigten, welch frischen Humor dieses autobiographisch gefärbte Werk, neben allen ernsthaften Passagen, zu bieten hat. Schließlich ist bereits der Titel unbedingt doppelt zu deuten. Nicht nur im naheliegenden suizidalen Sinne. Sondern vor allem als Aufforderung, nach Freuden und Chancen, nach den Möglichkeiten eines gelingenden Lebens, energisch zu greifen.

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Raum und Wort. Wie sehr Örtlichkeit und Ambiente die Atmosphäre literarischer Darbietungen mitgestalten und beeinflussen, wurde bei der diesjährigen Literaturwoche eindrucksvoll deutlich. Mit der Venet-Haus Galerie haben die Veranstalter eine weitere besonders stimmungsvolle Lokalität gefunden und bespielt. Den Abend mit Kai Weyand und seinem morbid-heiteren Roman “Applaus für Bronikowski“ in eine Steinmetz-Werkstatt zu verlegen hatte schon was. Eine Buchhandlung als Veranstaltungsort gehört natürlich unbedingt dazu. Die Kulturbuchhandlung Jastram als Mitveranstalter besetzt diese Position in idealer Weise.

Dass sich beim regionalen Verlegerfest im Café D’Art alle Anwesenden sehr wohl fühlten, wurde bereits festgehalten. Ein offenes, einladendes Lokal mit viel Stammkneipen-Potential. Fester Bestandteil der Literaturwochen ist die „Obere Stube“ der Ulmer Museumsgesellschaft. Mit ihren Ausblicken auf Rathaus und Münster, mit großzügigem Platzangebot und einem treuen Publikum, das stets zahlreich erscheint, darf sie auch in den zukünftigen Programmen auf keinen Fall fehlen.

 

 

Warum das Eierhäuschen kein Adler ist.

„… der rote Bau da, der zwischen den Pappelweiden mit Turm und Erker sichtbar wird, das ist das Eierhäuschen.“ (Theodor Fontane: Der Stechlin)

Vor einiger Zeit habe ich über das unklare Schicksal des Gasthofs „Adler“ im oberschwäbischen Isny-Großholzleute berichtet. Eine Lokalität in der einst die Gruppe 47 tagte und Günter Grass erstmals aus der Blechtrommel las. Das Haus ist inzwischen seit mehreren Jahren ungenutzt und dem langsam zunehmenden Zerfall ausgesetzt. Besser ergeht es da einem anderen interessanten Gebäude von einiger literaturhistorischer Bedeutung.

Dabei hat dieses preußische Original einen eher kurzen Auftritt in Theodor Fontanes Roman „Der Stechlin“. Darin unternimmt eine muntere Gruppe rund um den jungen Offizier Woldemar von Stechlin einen heiter animierten Halbtagesausflug („Abfahrt vier Uhr, Jannowitzerbrücke“) zu einer Einkehr namens „Eierhäuschen“. Mit einem Flussdampfer geht es in das südöstlich von Berlins heutiger Mitte, damals noch außerhalb der Stadt gelegene Treptow.

Die aus Berliner Städtern, brandenburgischem Landadel, zu gleichen Teilen aus Männern und Frauen bestehende Gesellschaft kommt an, verlässt das Schiff, macht einen kleinen Spaziergang, kehrt in dem beliebten Ausflugslokal ein, stärkt sich mit „Wiener Würstl“ und „Löwenbräu“. Nach Einbruch der Dunkelheit geht es mit dem Schiff wieder zurück, unterwegs kommt man in den Genuss eines brillanten abendlichen Feuerwerks.

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Das Eierhäuschen auf einer alten Postkarte zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Wie immer bei Fontane bilden sich wechselnde Paare und personelle Konstellationen, es wird lebhaft Konversation gemacht, sehr andeutungsweise geflirtet, etwas preußische Politik verhandelt. Der Autor legt keinen Wert auf äußerliches Spektakel, begleitet vielmehr seine Figuren mit sanfter Ironie und hintergründigem Humor, der Leser nimmt etwas Zeitgeist mit und genießt den typischen Erzählstil dieses großen Meisters des realistischen Romans.

1837 wurde das Gasthaus als Kneipe für die Schiffer auf Spree, Dahme und Müggelsee eröffnet. Der Wirt verkaufte an der Anlegestelle als Nebenerwerb Eier, so entstand der originelle Name. Im 19. Jahrhundert brannte die Liegenschaft zweimal ab, bevor das Gebäude 1891 im heutigen Stil wieder aufgebaut wurde.

Selbst zu DDR Zeiten wurde es restauriert und einigermaßen in Stand gehalten. Das „Eierhäuschen“ wurde Teil des Volkseigenen Betriebes (VEB) „Kulturpark Plänterwald“. Nach der Wende ging es zunächst in Privatbesitz über und bereits 1991 mit dem zugehörigen Freizeitgelände in Insolvenz. Gelände und Gebäude wurden über 20 Jahre sich selbst und dem zerstörerischen Zahn der Zeit überlassen, bis im März 2014 der Berliner Senat das Grundstück für zwei Millionen Euro erwarb und damit auch in den Besitz des brachliegenden Vergnügungspark und des „Eierhäuschen“ kam.

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Das stark sanierungsbedürftige Anwesen im Jahr 2012

Die Erwähnung des Anwesens in einem Roman von Theodor Fontane wird wohl nicht der einzige Auslöser sein, dass voraussichtlich bereits in diesem Jahr mit der Sanierung begonnen werden kann. Sicher spielte die Möglichkeit eine attraktive Naherholungsmöglichkeit für die Berliner Bevölkerung zu schaffen eine wichtige Rolle. Dafür muss vermutlich ein zweistelliger Millionenbetrag aufgebracht werden. Die Finanzierung erfolgt über einen Investitionsfonds des Landes Berlin. „Naturbezogen und grün geprägt“ Gasthaus und Gelände „als bedeutenden Anziehungspunkt für Erholungssuchende“ zu reaktivieren, haben der Senat des Stadtstaates und der Bezirk Treptow-Köpenick als Ziel ausgegeben. Auch eine Anlegestelle soll es wieder geben, damit die Ausflügler wie zu Fontanes Zeiten mit Schiff von der Flussseite eintreffen können.

Verbunden damit ist die Hoffnung, dass, wie zu Fontanes Zeiten, zahlreiche Gäste kommen, um sich an den „dicht zusammengerückten Tischen niederzulassen, eine Laube von Baumkronen über sich,“ wie es im „Stechlin“ heißt. Doch bis den neu zu pflanzenden jungen Bäumen große Kronen gewachsen sind, wird einiges Wasser die Spree hinab fließen. Immerhin: Ist die Geldnot noch so groß, in Berlin tut sich offensichtlich immer wieder rechtzeitig ein Töpfchen oder gar ein Topf auf aus dem man schöpfen kann.

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Der Gasthof Adler in Isny-Großholzleute im Jahr 2014

Was dem chronisch klammen Berlin mit viel Finanzierungs-Kreativität zu gelingen scheint, ist im vergleichsweise pekuniär gut aufgestellten südöstlichen Baden-Württemberg bisher nicht möglich. Schwäbisch-skeptische Zurückhaltung beim Geldausgeben und seriöse Kämmerer der verantwortlichen Gebietskörperschaften haben eine ähnliche Vorgehensweise für den sehr viel älteren „Adler“ verhindert. Dessen Geschichte reicht immerhin bis zu den Bauernkriegen zurück. Die dringende Erhaltungs-Sanierung oder ein neues Nutzungskonzept sind derzeit nicht in Sicht. Verhandlungen der Stadt Isny, des Landkreises Ravensburg und des zuständigen Regierungsbezirks Tübingen mit potentiellen Investoren blieben ohne Ergebnis.

Ein Engagement der öffentlichen Hand wurde zunächst nicht ernsthaft erwogen. Doch darüber wird jetzt möglicherweise neu nachgedacht, wie in einem Bericht der „Schwäbischen Zeitung“ vom 23. Januar diesen Jahres zu erfahren war. Die Rede ist nun auch im Westallgäu von Fördertöpfen, etwa jenen des Denkmalschutzes. Dazu sollen zunächst einmal die genauen Investitionskosten ermittelt werden; man geht von einem „niedrigen einstelligen Millionenbetrag“ aus. Und einen weiteren Trumpf glauben die Verantwortlichen noch im Ärmel zu haben. Nämlich „zu gegebener Zeit auf Schriftsteller Grass zuzugehen, um mit ihm als Zugpferd weitere finanzielle Unterstützer zu finden.“ Interessanterweise sind wohl die Zeiten endgültig vorbei, in denen das gesellschaftliche Engagement des Literatur-Nobelpreisträgers weit weniger geschätzt wurde.

„Schöne Atmosphäre … nette Leute“ *

 Was wird aus dem Gasthof Adler?

“Es hat geschmeckt: literarisch-kulinarisch”, schrieb ein unbekannter Gast jenes “Literarischen Diner”, das im Frühjahr 2002 zum 75. Geburtstag von Martin Walser stattfand. In Großholzleute, einem Vorort von Isny. Im historischen Gasthof Adler. Das waren noch Zeiten! Seit über einem Jahr steht das traditionsreiche Land-Gasthaus inzwischen leer.

Dorf früher, das waren Kirche, Friedhof, Gasthof, drumherum Feld, Wald und Wiesen. Dorf heute: Drumherum das eine oder andere Neubaugebiet, kleinere bis mittelgroße Handwerks-, Industrie- oder Dienstleistungs-Ansiedlungen. Netto, Penny oder Preisfux. Getränkemarkt. Der Friedhof wurde vergrößert. Die Kirche steht noch. Am Gasthaus hängt ein Schild: „Geschlossen“. So auch am Adler in Großholzleute. Und der Kasten in dem einst die Speisekarte den Einkehrenden Appetit machte ist leer. Staubig, spinnverwebt.

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Vor gut zehn Jahren gab es noch etwa 48.000 dörfliche Gasthäuser in Deutschland. Inzwischen sind es weniger als 35.000. In Baden-Württemberg ist im gleichen Zeitraum die Zahl der Gastronomiebetriebe gestiegen; doch der Zuwachs fand fast ausschließlich in den Städten statt. Es ist schwierig geworden im ländlichen Raum Speiß’ und Trank in einem Ambiente anzubieten, das den Bedürfnissen einer mobilen, anspruchsvielfältigen Gesellschaft gerecht wird und wirtschaftlich erfolgreich betrieben werden kann.

Acht Jahre bewirtschafteten die letzten Besitzer den Adler. Zwei Jahre haben sie vergeblich nach Nachfolgern gesucht, im Frühjahr 2013 gaben sie auf, sahen für sich und ihren Betrieb keine Zukunft mehr und wanderten nach Südafrika aus. Seitdem stehen Gaststätte und Saal leer. Die Liegenschaft mit ihrer langen Geschichte geht einer ungewissen Zukunft entgegen.

Es war ein Ritter Syrg zu Syrgenstein der das Gebäude um 1400 errichten ließ. Drumherum wurde ein Wassergraben angelegt; so sicherte man sich damals vor unerwünschten Besuchern. Es war zunächst Amtshaus, im oberen Stockwerk war die “Gerichtslaube”. Mehrfach wurde es im 16. und 18. Jahrhundert erweitert und umgebaut, der Wassergraben trockengelegt. Fast 150 Jahre diente es dem “Logistikkonzern” Thurn und Taxis als Postwirtshaus, als Station für Postkutschen und Eilboten. Der Adler entwickelte sich zum Mittelpunkt des kleinen Dorfes. Bis heute liegt er strategisch günstig an der Verbindung von Lindau nach Kempten.

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Was hat das alte Haus nicht alles gesehen? 1525 trafen sich aufständische Bauern, berieten ihr Vorgehen gegen Adel und Klerus, die sich im Schwäbischen Bund organisiert hatten und vom berüchtigten Bauernjörg angeführt wurden. Die österreichische Kaiserin Maria Theresia machte in den 1760er-Jahren mehr oder weniger freiwillig hier Station. Ihre Tochter Marie Antoinette war im Mai 1770 zu Gast. 1899 wurde ein kleiner Wirtsgarten angelegt, den es bis heute vor dem Haus gibt. Ungestört gedeiht im warmen Juni 2014 allerhand Pflanzliches. 1987 logierte die englische Prinzessin Anne, als sie ein Wintersportereignis in der Region besuchte, für einige Tage im Adler.

1958 fand hier das legendäre Treffen der Gruppe 47 statt, bei dem Günter Grass erstmals aus der Blechtrommel las. Siehe dazu: “Auftritt Oskar Matzerath” – im Mai auf con=libri erschienen. “Und wer mich lieber hat als ich, / der schreibe sich hier hinter mich”, trug Walter Höllerer damals ins Gästebuch ein. “das ist nicht schwer”, ergänzte Martin Walser. Und jemand der seinen Namen nicht nannte schrieb etwas weiter unten die demonstrative Aussage: “Der Mensch ist gut!” In Klammern wird als Urheber dieser Aussage der italienische Tenor Benjamin Gigli genannt. Wie auch immer – Wolfgang Hildesheimer und Ilse Aichinger stimmten jedenfalls per Unterschrift zu. Die Teilnehmer Carl Zuckmayer und Max Frisch haben im Mai 1958 lediglich ihre Namenszüge hinterlassen.

Doch in den dörflichen Schänken landauf, landab, wird nicht auf Nobelpreisträger, nicht auf die Geschichte des Oskar Matzerath gewartet. Hier wurde bei Bier und Deftigem schon immer und wird immer noch erzählt. Familiäres, Gerüchte, Klatsch und Tratsch, wahre und halbwahre Geschichten, mehr oder weniger Erfundenes, Witze und Anekdoten. In Dorf-Beizen brodelt literarischer Urschlamm, der Dichter und Dichterinnen, seit die Höhlen- und Lagerfeuer von gezimmerten oder gemauerten Einkehrmöglichkeiten abgelöst wurden, reichlich Rohstoff für ihr literarisch-künstlerisches Gestalten bietet.

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Die Schließung des Adler fand angesichts seiner literarischen Vergangenheit sogar in der überregionalen Presse Beachtung. “Der kaschubische Gnom Oskar Matzerath … ist ein Kind des Allgäus. Als literarische Figur machte Günter Grass die Weltöffentlichkeit mit der Romanfigur in dem Örtchen Großholzleute bekannt”, schrieb die FAZ unter der Überschrift “Der Adler fliegt nicht mehr”. Der Tübinger Regierungspräsident – Großholzleute liegt im äußersten südöstlichen Zipfel dieses Regierungsbezirks, hart an der Grenze zu Bayern – sprach von einem “Juwel”, dass erhalten bleiben muss. Seine Behörde verschickte viele tausend Postkarten für einen Ideenwettbewerb. Als häufigster Wunsch kam der nach einem ganz normalen ländlichen Gasthof in dem man gut und preiswert essen und trinken und sich zum Stammtisch treffen kann.

Ein Makler wurde von den bisherigen Besitzern beauftragt nach Käufern zu suchen. Im Hintergrund, und bisher noch ohne greifbares Ergebnis, bemühen sich Landkreis Ravensburg und Stadt Isny einen Investor zu finden. Eine solvente Brauerei wäre sicher willkommen. Denn es gibt viel zu tun. Das Gebäude ist denkmalgeschützt, Renovierung und Umbau für neue Nutzungen dürften einige Mittel erfordern. Der mit viel bürgerschaftlicher Initiative erhaltene, renovierte und heute vielfältig genutzte Bahnhof Leutkirch könnte vielleicht als Modell dienen. Und natürlich wünschen wir Idealisten, wir Kulturfreunde, uns eine Zukunft für den Adler, in der Dichter und Denker, Literatur, Philosophie und Geschichte einen prominenten Platz bekommen.

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* Bruchstücke eines Eintrags, der ebenfalls während des literarischen Diner für Martin Walser in das Gästebuch des Adler geschrieben wurde. Ich habe ihn nicht nur ungefragt verwendet, sondern auch noch  für meine Zwecke entstellt. Er stammt von U. Schneider und lautet im Original: “Schöne Atmosphäre, gute Texte, nette Leute, eine Wiederholung wäre schön.” Ein (sog. frommer) Wunsch, dem ich mich gerne anschließe.

Auftritt Oskar Matzerath

1958. Gasthof Adler in Großholzleute. Günter Grass liest erstmals öffentlich aus der „Blechtrommel“.

Die 20. Tagung der Gruppe 47 fand, wenn man es wohlwollend ausdrückend will, in reizender Voralpenlandschaft statt. Nüchterner formuliert: Weit ab von den kulturellen Zentren, einige meinten, „wo Hase und Igel sich gute Nacht sagen.“ Nicht zum ersten Mal hatte man sich für ein ländliches Quartier entschieden. Einige Kilometer hinter Isny liegt das Dörfchen Großholzleute, inzwischen längst in den württembergischen Kurort eingemeindet.

Vom 31. Oktober bis 2. November 1958 versammelten sich die von Hans Werner Richter eingeladenen Schriftsteller und Schriftstellerinnen im historischen Gasthof Adler. Knapp an die viel befahrene Straße nach Kempten gebaut, verfügte das Wirtshaus, neben niedrig uriger Gaststube, über einen geräumigen, nach hinten gelegenen Saal. Das Ambiente war gediegen Altdeutsch: Bretterdielen, schon etwas wackelige Holztische, holzverkleidete Wände an denen zahlreiche Geweihe hingen, die niedrigen Fenster sorgten für Dauerdämmer. Die Abgeschiedenheit erzeugte den erwünschten Klausurcharakter.

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Der Gasthof Adler nahe Isny in den 1950er Jahren.

Zu den uns heute noch bekannteren Teilnehmern zählten Wolfgang Hildesheimer, Hans Magnus Enzensberger (ja, den gab es damals auch schon!) und Ilse Aichinger. Zum ersten Mal dabei war ein erst vor kurzem aus Polen übersiedelter, den meisten noch unbekannter Literaturkritiker namens Marcel Reich-Ranicki. Medienvertreter kamen nicht nur aus Deutschland, sondern auch aus den Nachbarländern Schweiz und Österreich, aus den Niederlanden und Polen, selbst die BBC war vertreten. Das Interesse der Medien wurde nun von Jahr zu Jahr größer. In den folgenden Jahren entwickelte sich ein regelrechtes Berichterstattungs-Spektakel. Die Person des Dichters, der Dichterin wurde für viele Jahre zur beliebten Medienfigur und damit zum Protagonisten auf der Bühne der Eitelkeiten und Marktmechanismen. Seit jedoch breite Fernsehpenetranz das Volk beglückt, ist das öffentliche Interesse an der schreibenden Elite wieder stark gesunken.

Das Prozedere auf den Tagungen der Gruppe 47 war bereits zum Ritual geworden. Der Autor liest, das Forum kritisiert, der Dichter hat zu schweigen. Selten gab es Abweichungen oder wurden Sonderwünsche erfüllt, wie die eines polnischen Teilnehmers, dem es erlaubt wurde im Adlersaal bei Kerzenschein zu lesen. Doch die 20. Zusammenkunft der Schreiber-Zünftlinge wurde noch aus einem anderen Grund etwas ganz Besonderes. Auf dieser Veranstaltung im abseits gelegenen, historischen Landgasthof begann eines der bedeutendsten Kapitel deutschsprachiger Literaturgeschichte der – damals sogenannten – Nachkriegszeit.

„Zugegeben: Ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt, mein Pfleger beobachtet mich, läßt mich kaum aus dem Auge; denn in der Tür ist ein Guckloch, und meines Pflegers Auge ist von jenem Braun, welches mich, den Blauäugigen, nicht durchschauen kann… Ich beginne (mit der Erzählung) weit vor mir; denn niemand sollte sein Leben beschreiben, der nicht die Geduld aufbringt, vor dem Datieren der eigenen Existenz wenigstens der Hälfte seiner Großeltern zu gedenken.“

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Es war ja kein gänzlich Unbekannter, der da auf altem, etwas klapprigen Stuhle sitzend diese ersten Sätze aus seinem noch unveröffentlichten Roman den versammelten Schriftsteller-Kollegen, (wenigen) Schriftstellerinnen, Kritikern und Medienvertretern vorlas. Günter Grass hatte bereits 1955 in Berlin erstmals vor der Gruppe 47 gelesen. 1956 war sein Gedichtband „Die Vorzüge der Windhühner“ erschienen, ein Jahr später wurde in Frankfurt am Main das Stück „Hochwasser“ uraufgeführt. 1957, beim Treffen in Starnberg, trug er Lyrik vor und war mit einigen seiner Grafiken angereist, die den Teilnehmern zum Kauf angeboten wurden. Er brauchte Geld. Doch nicht jeder kannte den „jungen Mann mit mächtigem Schnurrbart“, wie ihn Marcel Reich-Ranicki nannte. Grass wirkte auf viele etwas grobschlächtig, hinterwäldlerisch. Ein Bildhauer sei das, der auch dichtet, wussten Einige.

Marcel Reich-Ranicki hatte ihn bereits im Mai 1958 in Warschau kurz kennengelernt. Der ihm damals noch unbekannte Steinmetz, Grafiker und Schriftsteller erzählte dem sehr an deutscher Literatur interessierten „Fremdenführer“ von seinen Romanplänen. „Das wunderte mich nicht“, schrieb Reich-Ranicki in seinen Erinnerungen, „denn ich habe in meinem ganzen Leben nur wenige deutsche Schriftsteller kennengelernt, die nicht gerade an einem Roman arbeiteten.“ Als ihm Grass anvertraute, dass die Hauptfigur ein Zwerg mit Buckel und Insasse einer „Irrenanstalt“ sein würde, urteilte er: „Eines schien mir sicher: aus dem Roman wird nichts werden.“

Grass lebte seit 1956 zusammen mit seiner damaligen Frau Anna Schwarz in Paris. Die Wohnverhältnisse waren schlecht, Geld knapp. Doch wie bei Grass üblich: es wurde gelebt, geliebt, gezeugt, getanzt und gekocht. Und fleißig geschrieben. Es war dies die Zeit in der Grass mit den ersten Aufzeichnungen zur „Blechtrommel“ begann. Frühe Ideen sahen als mögliche Titel für das Werk „Oskar der Trommler“ oder schlicht „Der Trommler“ vor. Erst in der vierten Fassung des Romans – die ersten drei endeten später als Heizmaterial – bekam dieser seinen endgültigen Titel.

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Günter Grass, 2010 auf der Leipziger Buchmesse.

„Einige Kritiker hielten ihn für eine Naturbegabung, was wohl eher abwertend als anerkennend gemeint war…“ (Hans Werner Richter). Im Westallgäuer Adler las Grass zwei Kapitel aus der „Blechtrommel“. Das erste, das mit dem bekannten, oben zitierten Satz beginnt und das vierunddreißigste. In diesem wechselt der Autor den Erzähler. Nicht mehr Oskar Matzerath führt das Wort – geschwollene Finger machen inzwischen sowohl das Trommeln, wie auch das Halten eines Füllfederhalters unmöglich – sondern einer seiner Pfleger.

„Ich, Bruno Münsterberg, aus Altena im Sauerland, unverheiratet und kinderlos, bin Pfleger in der Privatabteilung der hiesigen Heil- und Pflegeanstalt. Herr Matzerath … ist mein Patient… Herr Matzerath ist mein harmlosester Patient… Nie gerät er so außer sich, daß ich andere Pfleger rufen müßte. Er schreibt und trommelt etwas zu viel. Um seine überanstrengten Finger schonen zu können, bat er mich heute, für ihn zu schreiben…“

Die barock anmutende Formulierungskunst, die erzählerische Wucht, überraschte dieses erste Auditorium. Von Schriftstellern, die vor der Gruppe 47 lasen, wurde eigentlich stilistisch Neuartiges erwartet. Man wollte die Literatur der Weimarer Republik und des Exils endgültig hinter sich lassen. Dass die deftigen Passagen der Geschichte nach Erscheinen des Buches für den einen oder anderen Skandal in der Adenauer-Republik sorgen würden, ahnte noch keiner der Zuhörer. Das Echo war insgesamt positiv. „…mir haben die beiden Kapitel gefallen, sie haben mich nahezu begeistert“, drückte Marcel Reich-Ranicki aus, was wohl die meisten empfanden. Sein Urteil über das fertige Buch, das er für die Münchener Wochenzeitung „Die Kultur“ besprach, fiel dann etwas doppeldeutiger aus: „Grass schreibt eine unkonventionelle, kräftige ja sogar wilde Prosa… Er kann beobachten und schildern, seine Dialoge sind vorzüglich, sein Humor ist grimmig und originell und er hat viel zu sagen.“ Reich-Ranicki entwickelte sich nach und nach zum obersten Grass-Kritiker und –Skeptiker.

indexNach der fulminanten Lesung des dunkelhaarigen, schnurrbärtigen Kaschuben, war das Interesse an Hans Magnus Enzensberger und Klaus Roehler, die unglücklicherweise nach diesem Naturereignis lesen mussten, deutlich flauer. Der Tag klang aus, wie die meisten Abende der Gruppen-Treffen – bei intensiven Diskussionen und reichlich Wein, Bier und Rauch.

Günter Grass bekam spontan den „Preis der Gruppe 47″, dessen Vergabe eigentlich drei Jahre zuvor eingestellt worden war. Verlage sagten dafür kurzfristig 5000 Deutsche Mark zu (Böttiger). Laut Toni Richter soll Grass sogar DM 6.500 Preisgeld bekommen haben. Eine für damalige Verhältnisse beträchtliche Summe (Ein Luxus-Auto wie der Opel Kapitän war damals für etwa 8000 DM zu haben). Grass feierte die Preisverleihung am Tresen des Gasthauses mit Allgäuer Obstler und band sich für das Erinnerungsfoto eine Krawatte um. „Im Knopfloch seines Jackets steckte eine Blume“, wusste der Biograph Michael Jürgs. Ins Gästebuch des Adler trug sich der Prämierte mit einer gezeichneten Kochmütze und einem lapidaren „Günter Grass, Paris“, ein.

Nach der Abreise aus Großholzleute machten viele Teilnehmer noch in Ulm Station. Inge Aicher-Scholl gab für die Gruppe ein Fest in der auf dem Kuhberg gelegenen Hochschule für Gestaltung. Die in der Bauhaus-Nachfolge stehende Kreativschmiede war zu ihren besten Zeiten, neben ihrem spektakulären Blick auf das gotische Ulmer Münster in der Stadtmitte, für legendäre, ausdauernde Partys berühmt und bei vielen Bürgern der Stadt auch berüchtigt. Ein kleiner Kreis fand schließlich noch für den einen oder anderen Absacker zu Erika Wackernagel, der Frau des legendären Intendanten Peter Wackernagel, der im Sommer 58 überraschend verstorben war.

Günter Grass führte der Weg vom Adler direkt nach München, wo er beim Radio des Bayerischen Rundfunks aus dem Blechtrommel-Manuskript las. Das Honorar betrug DM 800. Ab sofort war Grass ein bekannter Autor, eine prominente Persönlichkeit in Nachkriegs-Deutschland und nahezu aller Geldsorgen ledig, wenn es auch noch etwas dauern sollte bis das zuerkannte Preisgeld eintraf. „Ich selbst habe eine solche Euphorie in der Gruppe 47 nicht wieder erlebt“, blickte Hans Werner Richter zurück.

Fast ein Jahr dauerte es noch bis endlich das gedruckte Buch erscheinen konnte. Paul Celan, mit dem Grass in Paris freundschaftlichen Umgang pflegte, durfte vorab die Korrekturfahnen sehen. Grass hatte nach der Tagung im Allgäu mit Eduard Reiferscheidt vom Luchterhand-Verlag Konditionen für sich ausgehandelt, die deutlich über dem damals Üblichen lagen. Das hat sich in den folgenden Jahren und Jahrzehnten für alle Beteiligten gelohnt.

Günter Grass hielt der Gruppe 47 die Treue. Er versäumte keine der folgenden Tagungen.

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(Warum ich gerade jetzt über diese 20. Tagung der Gruppe 47 geschrieben habe, hat mit dem Schauplatz des Geschehens zu tun. Denn aus Vergangenheit und Gegenwart des Gasthauses Adler ist längst eine eigene lange Geschichte geworden. Eine Geschichte mit offener, derzeit eher unklarer Zukunft. Darüber hoffe ich in Kürze hier etwas mehr und Genaueres berichten zu können.)

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 Verwendete Literatur

Grass, Günter: Die Blechtrommel. – Neuwied : Luchterhand, 1959

Jürgs, Michael: Bürger Grass. Biografie eines deutschen Dichters. – München : C. Bertelsmann, 2002

M.-Brockman, H.: Dichter und Richter. Die Gruppe 47 und ihre Gäste. – München : Rheinsberg Verlag, 1962

Reich-Ranicki, Marcel: Mein Leben. – Stuttgart : Deutsche Verlagsanstalt, 1999

Richter, Hans Werner: Im Etablissement der Schmetterlinge. 21 Portraits aus der Gruppe 47. – München : Carl Hanser Verlag, 1986

Richter, Toni: Die Gruppe 47. In Bildern und Texten. – Köln : Kiepenheuer und Witsch, 1997

 

Sudeleien. Anfang März 2014

Frühblüher, Biller und der doppelte Leo

Einer der ersten Märztage. Frühlingsahnen in Wald, Wiese und Vorgärten. Es geht dem Abend zu. Der süddeutsche Himmel wechselt gemächlich seinen Farbton. Aus strahlendem Hell- wird tiefes Dunkelblau, wenig später Nachtschwarz. Auf der CrossOver-Welle Bayern 2 singt Carmen Consoli von „Fiori d’arancio“ (Orangenblüte). Nach einem sonnenreichen Frischlufttag im Westallgäu zurück in der kleinen Großstadt, staune ich einmal mehr über das eindrucksvolle Blätterwachstum auf dem deutschsprachigen Zeitschriftenmarkt. Während vor allem die täglich erscheinenden, gedruckten Zentralorgane unserer Presselandschaft, längst im Spätherbst ihrer Gutenberg-Existenz angekommen, dem Siechtum durch Flucht in digitale Parallelwelten zu entkommen versuchen, sprießt es heftig und bunt am guten alten Kiosk.

Geradezu inflationär sind Titel-Kreationen mit einem etwas schwammigen Begriff, der wohl irgendwelche halbgaren Sehnsüchte weckt: „Land“. Den Kombinations-Phantasien der Verlags-Kreativen sind keine Grenzen gesetzt. So entdecken wir die metaphysische „Landidee“, den ins mystische verweisenden „Landzauber“, oder bodenständigere Varianten wie „Land der Berge“ und „Land und Forst“. Zwölfmal jährlich grüßt uns „Servus in Stadt & Land“, deren aktuelle Ausgabe – ganz am Puls des Frühlings – verspricht: „Alles erwacht.“ Für den naturnahen Junkie erscheint regelmäßig die „Landapotheke“. Wer bei „Landlust“ an die flotten Mädels vom aktuellen „Bäuerinnen-Kalender“ denkt, liegt völlig falsch. Ob es Schmusekater gibt, die ihrer Heidi ein Jahresabo von „Geliebte Katze“ zum Jahrestag schenken, bleibt offen. Der Titel „Sauen“ hingegen ist deutlich genug, es sei denn schwäbisches Kundenpotential denkt dabei an forciertes Joggen.

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Katze vor Frühlingsboten

Unter den wohlgestalteten Werbeträgern besonders reichhaltig vertreten ist die mundgerechte Kategorie „Essen und Trinken“. Wer nach dem Durchblättern von „Sauen“ wissen möchte, was aus eben diesen werden kann, erfährt es zum Beispiel in „Kochen und Genießen“, „La Tavola“ oder in der schlicht deutlichen „beef!“, die mit ihren sechs Ausgaben pro Jahr Leser und Gaumen erfreuen möchte. Das fleischlose Glück versprechen „Vegetarisch Fit“ und „Kraut & Rüben“. Wenn dennoch etwas schief geht, hilft der „Naturarzt“. Auf falsche Fährte führt „Filethäkeln“. Der Titel hat absolut gar nichts mit besonders feiner Fleischzubereitung zu tun, sondern gehört aufs weite Feld der Handarbeits-Journale, deren reiche Vielfalt die große Zahl jener Zeitschriften ergänzt, die traditionsreich seit gefühlten Jahrhunderten mit anmutigen Frauennamen von Brigitte bis Verena treue Käuferinnenschichten finden.

Für die nächsten Monate ist weiterer Zuwachs in den Auslagen gut sortierter Bahnhofsbuchhandlungen und den Sortimenten breit aufgestellter Lesezirkel zu erwarten. Wie man hört stehen diese Titel unmittelbar vor der Markteinführung: „LandFlucht“, „Mark und Bein“ „Dinkel und Bohne“, „Vegan im Alter“, „Mein Fleisch & ich“. Fordern Sie heute noch Probeexemplare bei den herausgebenden Verlagen an!

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Frühlingsboten vor Hintergrund

Dem aller Unhandlichkeit zum Trotz auflagen-erfolgreichen Wochenblatt „Die Zeit“ konnte ich neulich entnehmen, dass dem notorischen Konfliktsucher und Möchtegern-Großschriftsteller Maxim Biller der deutschsprachige Schreiber-Nachwuchs zu lau ist. Weil bildungsbürgerlich mittelschichtig verweichlicht, weil mit verwechselbarem Geruch der Nachwuchsdichter-Ställe in Leipzig und Hildesheim, weil themenschwach und faden Einheitsbrei erzeugend. Dem zeternden Gelegenheits-Romancier fehlt das Migrantische, das frisch Reingeschmeckte, das radikal-würzige Junggemüse von Balkan, Balaton und Baikal.

Nur so aus dem Bauch heraus und ohne Anspruch auf Vollständigkeit habe ich daraufhin ein paar Namen aneinander gereiht:

Terézia Mora, Sasa Stanisic, Olga Grjasnowa, Ilija Trojanow, Olga Martynova, Lena Gorelik, Vladimir Vertlib, Julya Rabinowich, Catalin Dorian Florescu, Selim Özdogan, Hilal Sezgin. (Links spare ich mir. Alle hier aufgeführten sind leicht im Netz und auf den entsprechenden Buchhandels-Plattformen zu finden. Dort erfährt man Näheres über ihre Herkunft, sprachliche Sozialisation und bis heute publizierten Werke.) Dem von eigenen Zweifeln freien, nur gelegentlich von lästiger Justiz behinderten Erfolgsschriftsteller Biller schlage ich vor, mit einem Buchhändler seines Vertrauens, wahlweise einem beschlagenen Komparatisten, über diese und andere Namen ins Gespräch zu kommen. Ein Zugewinn an Erkenntnis ist ihm sicher. (1)

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Hier wirkt der LandMann. („Er setzt seine Felder und Wiesen in Stand.“)

Was, außer Bauern im Außeneinsatz, im Märzen sicher kommt, ganz gleich ob die Landschaften bereits blühen oder noch von Schnee und Eis bedeckt sein werden wie im letzten Jahr, das ist die Leipziger Buchmesse. Und damit die schönsten Frühlingsboten aus der Dichter poetischen Gärten im Wettstreit um den Preis der Leipziger Buchmesse. In der Kategorie Belletristik stehen diese Titel – und nach ersten Eindrücken meine ich: durchaus zu recht – auf der Short-List:

Sasa Stanisic, Vor dem Fest (Luchterhand): Geschichten, Mythen und Legenden aus dem Heimatarchiv eines Dorfes. Kraft- und phantasievolle Erzählung.

Per Leo, Flut und Boden (Klett-Cotta): Der Historiker Leo verarbeitet die eigene Familiengeschichte zum Roman. Licht und Schatten deutscher Vergangenheit werden dabei differenziert betrachtet.

Katja Petrowskaja, Vielleicht Esther (Suhrkamp): „Was es bedeutet, die Spuren einer verzweigten Familie zu sichern, wenn nichts sicher ist, außer dem Verschwinden, davon wird hier erzählt…“ (Verlagstext). Ein weiterer erzählender Ost-Import auf dem deutschen Buchmarkt. Bachmann-Preis 2013.

Fabian Hischmann, Am Ende schmeißen wir mit Gold (Berlin Verlag): Noch ein Debütant. Eine junge Stimme die sich an das bewährte Genre des weit ausholenden Familienromans wagt. Im Stil noch etwas unreif.

Martin Mosebach, Das Blutbuchenfest (Hanser): Es mag viele Gründe geben Mosebach nicht zu mögen, aber literarisch hat er mit diesem Buch einen Glanzpunkt gesetzt. Sein Frankfurter Gesellschaftsroman vor dem Hintergrund des Balkankrieges, ist das Werk eines reifen, erfahrenen Autors.

Bei der Online-Wahl des Publikumspreises habe ich mich für „Flut und Boden“ von Per Leo (2) entschieden. Natürlich aus Interesse am Thema und nach den Eindrücken einer Leseprobe, hauptsächlich jedoch aus einem etwas kuriosen Grund, der mit dem Namen des Autors zu tun hat. Vor einiger Zeit habe ich die familienbiographischen Aufzeichnungen „Haltet Euer Herz bereit“ des Berliner Journalisten Maxim Leo (3) gelesen. Die ostdeutschen Lebensläufe von drei Generationen Leos werden in diesem Buch sehr eindrucksvoll beschrieben. Und ich habe mich gefragt, haben diese beiden schreibenden Leos etwas miteinander zu tun? Gibt es da Verwandtschaft oder ähnlich Verbindendes? Ich bin noch nicht dahintergekommen und nehme entsprechende Hinweise gerne entgegen.

Mehr über Menschen und Bücher rund um die Leipziger Messe- und Literatur-Tage gibt es in der zweiten Märzhälfte hier auf con=libri.

(1)  Wille, A. T.: Die Osterweiterung der deutschen Literatur. – Würzburg : Kaiserbuden & Altfrau, 2014 oder 15 (in print)

(2)  Leo, Per: Flut und Boden. – Klett-Cotta, 2014

(3)  Leo, Maxim: Haltet Euer Herz bereit. – Heyne, 2011 (Originalausg. bei Blessing, 2009)

Nach der Sommerfrische

Kerners Verse – Allgäuer Sommer – Schillers Gedanken – Berliner Gespräche – Allgäuer Sommer – Kerners Verse

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Laßt mich in Gras und Blumen liegen / Und schaun dem blauen Himmel zu, / Wie goldne Wolken ihn durchfliegen, / In ihm ein Falke kreist in Ruh.

Ja. Fast so war es. Einmal mehr. Im Westallgäu. Wie im Gedicht „Unter dem Himmel“ von Justinus Kerner. Wiesen und Wälder, Bäche und Teiche, kleine Städte mit bunten Märkten und alten Türmen. Herzhafter Emmentaler von glücklichen Kühen zum süffigen Landbier. Guter Schlaf in sauerstoffreichen Nächten. Menschenfernes Wandern ohne Ziel.

Ein E-Book Reader war nicht dabei. Für das Lesenswerte haben wir einen roten Container, der reichlich Platz bietet für eine breite Auswahl möglicher und lohnender Lektüren. Bald blieb ich an Rüdiger Safranskis Zweifreundebuch „Goethe und Schiller“ hängen, las mich fest und sah es als Vorbereitung auf das Studium der neuen großen Goethe-Biographie des Philosophen und Publizisten. Mein Eindruck: Wer diese liest und das Schiller-Buch von ihm kennt, muss „Goethe und Schiller“ nicht unbedingt lesen, denn es besteht wohl mehr oder weniger aus Konzentraten und Vorentwürfen der beiden Großwerke.

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Immerhin stieß ich so auf Schillers Antrittsvorlesung als unbesoldeter Geschichts-Dozent an der Universität Jena. Goethe hatte ihn dorthin gelobt und gelotst um die ihm unterstellte Einrichtung des Herzogtums Weimar mit Prominenz aufzuwerten. Seltsamerweise überkam mich eine unwiderstehliche Lust einmal in der Druckversion dieser akademischen Ausführungen zu stöbern. Vielleicht gerade deshalb, weil sich die Schrift natürlich nicht im roten Bücher-Container befand. Schließlich lese ich eigentlich so gut wie nie Schiller, warum hätte ich ein Werk von ihm mitnehmen sollen? Doch in der öffentlichen Kleinstadt-Bücherei (mit beachtlich leserfreundlichen Öffnungszeiten), fand sich eine etwas welke, eingestaubte Gesamtausgabe der Werke des Dichters Fritz. Leicht zu lesen ist Schiller nicht. Seine zahlreichen und oft weit ausholenden Metaphern, sein allgegenwärtiges Pathos, schrecken eigentlich eher ab. Dennoch. Die Frische der Aussagen, die sich hinter dem stilistischen Stuck verbergen, war überraschend.

„Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?“ Fragte Friedrich Schiller am 26. Mai 1789 vor zahlreicher Zuhörerschaft. (Die erste schriftliche Fassung erschien im folgenden November im „Deutschen Merkur“.) Die im Titel gestellte Frage beantwortet Schiller so: Man beschäftige sich mit wissenschaftlichen und künstlerischen Gegenständen ausschließlich zum Selbstzweck. Denn jede Entfremdung für berufliche oder wirtschaftlich zielgerichtete Zwecke entwertet sie. Der „Brodgelehrte“ verzichtet darauf Gesamtzusammenhänge zu untersuchen und zu erkennen. Geradezu furchtsam nimmt er davon Abstand. „Beklagenswerther Mensch, der mit dem edelsten aller Werkzeuge, mit Wissenschaft und Kunst, nichts Höheres will und ausrichtet, als der Taglöhner mit dem schlechtesten! Der im Reiche der Freiheit eine Sklavenseele mit sich herumträgt!“

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Hingegen geht es dem „philosophischen Kopf“ um Wissen ohne selbstgesetzte Grenzen. Er will wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Er betreibt interdisziplinäre Universalgeschichte. „Alle seine Bestrebungen sind auf Vollendung seines Wissens gerichtet; seine edle Ungeduld kann nicht ruhen, bis alle seine Begriffe zu einem harmonischen Ganzen sich geordnet haben. … Neue Entdeckungen im Kreise seiner Thätigkeit, die den Brodgelehrten niederschlagen entzücken den philosophischen Geist.“ Ein Ideal von dem die meisten Bildungseinrichtungen schon immer weit entfernt waren. Goethe und Schiller verband eine gemeinsame Werteskala an deren Spitze Freiheit und Bildung zu finden sind. Dass sich über die Definition und Ausfüllung solcher nach oben offener Begriffe natürlich trefflich diskutieren und streiten lässt, wussten nicht nur die beiden Klassiker.

Weit war ich in diesem August voller echter Hochsommertage also nicht gekommen. Bis Weitnau, Missen und Simmerberg, bis Überruh, Ewigkeit und Bolsterlang, in den Osterwald, den Eistobel, auf einen Berg namens Kugel, zu Rast und Einkehr in den Gastgarten von Mallaichen – die geliebten Idyllen zwischen Bodensee und Iller. Der eigentliche Urlaubsort lag nur eine gute Autostunde vom Heimatort entfernt. – Es würde mir andererseits keineswegs schwerfallen zu behaupten, ich hätte weiter entfernte, weltläufigere Ziele angestrebt. Die Bucht von San Francisco, den Golf von Neapel oder die Höhen Nepals, Madrid oder Marseille, Nord- oder Ostsee, Argentinien oder Australien.  Profund und unterhaltsam könnte ich über meine Erlebnisse und Eindrücke vor Ort schwärmen und erzählen. Nach der Lektüre von „Wie man über Orte spricht, an denen man nicht gewesen ist“ ist das kein Problem. Ohne falsche Scham würde ich mir über die Unterschiede zwischen Dichtung und Wahrheit keine Gedanken machen müssen.

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Der französische Literaturwissenschaftler und Psychoanalytiker Pierre Bayard stellt in seinem unterhaltsam-originellen Groß-Essay die Frage, ob man wirklich überall gewesen sein muss und legt uns die Vorteile des Nichtreisens nahe. Er berichtet von Schriftstellern und Wissenschaftlern die uns dabei Vorbild sein können. Karl May etwa, der den Wilden Westen ja bekanntlich nie gesehen hat, Immanuel Kant, der seine Heimatstadt Königsberg nie verließ, Marco Polo, der seine Reiseberichte mit Fabelwesen bevölkerte. Wir erfahren, wie man in verschiedenen Gesprächssituationen – in der Familie, beim Sport – über Orte spricht, die man nicht, Gegenden der Welt, die man nur vom Hörensagen kennt. Und während Smartphones und andere Speichermedien fleißig mit Abbildern der Realität gefüllt werden, sind wir dabei das lebendige Erzählen, den Gebrauch der uns von Natur aus eigenen Einbildungskraft zu verlernen.

Damit zu den Gesprächen eines angeregten Kreises kluger Geister, die möglicherweise erst neulich in „Habakuks Gartenlaube“ stattfanden. Diesem Berliner Café und hauptstädtischen Literatentreff, der sich ungefähr dort befindet, wo Kurt Tucholsky im Herbst 1912 zusammen mit einem Kumpel eine Buchhandlung eröffnete. Jeder Kunde bekam damals ein Glas „Mampe-Likör“, weil in den Räumen vormals die Kneipe „Mampes Gute Stube“ untergebracht gewesen war. Auch Whisky und Korn wurden gelegentlich genossen. Die Kombination Schnaps und Literatur bewährte sich allerdings nicht und der Laden musste bald wieder schließen.

„Wer wählt da jetzt eigentlich wen?“ fragte der chronisch lockenköpfige Ingo S. in die Runde. „Das Volk die Regierung, oder die Regierung das Volk? Sind wir Demokraten ausreichend marktkompatibel oder wollen wir Demokratie als Maßstab für die Märkte?“ „Ich frage mich immer wieder, weshalb bereits vor der Wahl feststehen kann, dass die Violetten, die Bibeltreuen Christen und die ÖDP keine Chance haben die Fünfprozenthürde zu überwinden?“ Grübelte mein alter Freund A. T. Wille, der gerade wieder einmal von einer ostsibirischen Steppenvisite in die preußische Kapitale zurückgekehrt war. In höchsten Tönen schwärmte er von dem sommerlichen Oberton-Festival, das er in der Oblast Omsk besucht hatte.

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„Warum hat nur Bayern eine eigene Partei am Start und Nordschleswig nicht?“ Wunderte sich Theo Stürmle, den alle den Schwaben nennen, obwohl er einst aus einem Husumer Arbeitervorort zunächst ins Brandenburgische und schließlich nach Neukölln geraten war. Seit Jahren versucht er vergeblich eines seiner Kurzdramen am Berliner Ensemble unterzubringen. „Schwarze! Rote! Gelbe! Mit diskriminierenden Bezeichnungen aller Art muss endlich Schluss sein!“ Ereiferte sich Hedwig D., die Gleichstellungsbeauftragte im Reinickendorfer Bezirksrat. Ausnahmsweise für einige Augenblicke sprachlos, umfasste der Novellist Martinus W. ein Glas Spätburgunder mit beiden Händen, während seine Augen immer wieder das orange-rötlich eingefärbte Naturseide-Kleid aus fairer Produktion streiften.

Nach reichlich Genuss nicht nur von Wein, sondern je nach Geschmack und Laune auch von Schultheiß Spezial oder Grünen Tee Auslese, entschied eine qualifizierte Minderheit zum Spaziergang durch den Tunnel über die Spree aufzubrechen. Spätabendliches Ziel sollte die Lesebühne am anderen Ufer sein. Die Flaneure passierten die Straße der Enthusiasten, durchschritten die Lene-Nimptsch-Gasse und überquerten den Puschkin-Platz. A. T. Wille war es, der als erster die helle Leuchtschrift am Himmel über dem märkischen Sand entdeckte: „Wir sind was folgt.“ In dieser Nacht kam es über ganz Berlin zu heftigen Plüschgewittern.

Der Himmel meines friedlichen Allgäu-Winkels erwies sich bei klarer Sicht als vielbeflogene Fernflugschneiße, auf der ein mit steuerfreiem Stoff betriebener Massentransport nach dem anderen fast lautlos seine Kondensstreifen ins Blau zeichnete. Nachts war nichts davon zu sehen, aber leises Geräusch ließ vermuten, dass die Reisebewegungen auch zu dunkler Stunde kein Ende nahmen. Lange vor der Ausbreitung des allgemeinen automobilen Supergaus und der die Proletarier vieler Länder einenden pauschalen allinkulisiven Aufunddavonfliegerei, hat der romantische Dichter, Arzt und Visionär, der Schiller-Landsmann Justinus Kerner (1786 – 1862), weitere Entwicklungen (die möglicherweise einem Überschuss an „Brodgelehrten“ zu schulden sind) in seinen Versen angedeutet:

„Schau‘ ich zum Himmel, zu gewahren, / Warum’s so plötzlich dunkel sei, / Erblick‘ ich einen Zug von Waren, / Der an der Sonne schifft vorbei.

„Fühl‘ Regen ich beim Sonnenscheine, / Such‘ nach dem Regenbogen keck, / Ist es nicht Wasser, wie ich meine, / Wurd‘ in der Luft ein Ölfaß leck.“