Spät-Lese (6)

“Verlassene Zimmer” von Hermann Lenz

Zum 100. Geburtstag des Schriftstellers

Hermann Lenz habe ich für mich in Hamburg entdeckt, weit weg vom württembergischen Kernland der Dichter, Tüftler und Grübler, meiner eigentlichen (zweiten) Heimat, und der von Hermann Lenz. In der Hansestadt studierte ich am verträumten Fachbereich Bibliothekswesen, der in einem nostalgischen roten Backstein-Gebäude untergebracht war – einst eine jüdische Mittelschule. Es war jene Zeit in der die nächste verrauchte Eckkneipe immer nur wenige Schritte entfernt lag. Dort floss unablässig frisches Pils aus dem Zapfhahn und auf dem Tresen standen ein Teller mit würzigen Frikadellen und der Senftopf.

Den Universitäts-Campus entlang verläuft die Grindelallee. An dieser Straße lag einmal der barackenartige Musikschuppen „Logo“, in dem allerhand Rock-, Jazz- und Blues-Leute auftraten, sowie gelegentlich auch ein gewisser Thommie Bayer. Im Trenchcoat und mit Band. Er sang vom letzten Cowboy, der angeblich aus Gütersloh stammen würde. Bayer seinerseits stammt aus Esslingen, nahe Stuttgart und eines seiner Alben hieß bezeichnenderweise „Silchers Rache“. Später schrieb Thommie Bayer lustige Liebesromane (“Das Herz ist eine miese Gegend”) die viel gelesen werden.

Und ebenfalls auf der Grindelallee fand man – und findet man noch heute – die Heinrich-Heine-Buchhandlung. Ein heller Laden, mit Büchern prallvoll gefüllte Regale, überladene Themen-Tische, viel Kritisches im Angebot, reichlich Diskussionsstoff und ein heute nicht mehr vorstellbares Spektrum an Autoren und literarischen Richtungen. Der inzwischen weit verbreitete  “Non Book”-Kram war noch lange nicht in Sicht. Das Wort hätten die damaligen Zeitgenossen vermutlich dem Perry-Rhodan-Imperium zugeordnet.

Lenz, ZimmerHier nahm ich mein erstes Hermann-Lenz-Buch in die Hand. Natürlich hatte ich schon irgendwo und irgendwann von diesem besonderen Autor gehört oder gelesen. Schließlich hatte ihm bereits 1973 Peter Handke mit einem Artikel in der Süddeutschen Zeitung den Weg in die Feuilletons geebnet und seinen Büchern zu ersten zählbaren Verkaufserfolgen verholfen. Gelesen hatte ich bis dahin noch keines. Dieses erste Buch war die Suhrkamp-Taschenbuchausgabe von „Verlassene Zimmer“. Brauner Umschlag mit Kopf-Portrait des Schriftstellers auf der Vorderseite. 224 Seiten. Die Originalausgabe war bereits 1966 bei Jakob Hegner in Köln erschienen. Mein Exemplar gehört zu einer zweiten Auflage (9. Bis 15. Tausend), bei Nomos in Baden-Baden gedruckt und mit einem Umschlagentwurf von Willy Fleckhaus. Der minderbemittelte Student hatte dafür sechs Deutsche Mark zu bezahlen.

Hermann Lenz Hauptwerk, ein opus mangnum im wörtlichen Sinn, besteht aus einem neunbändigen Zyklus rund um den württembergischen Schwaben Eugen Rapp. Ein Schriftsteller, sowie eindeutiges und gewolltes alter ego des Autors – wie dieser geboren am 26. Februar 1913. „Verlassene Zimmer“ ist der erste Band dieser umfangreichen Reihe und die Handlung beginnt noch vor der Geburt des Protagonisten im 19. Jahrhunderts. Ein Jahrhundert, dem sich Lenz immer sehr nahe fühlte. Seine Sehnsuchtsepoche und sein Sehnsuchtsort waren das Wien vor 1918.

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Künzelsau, um 1880

Eugen Rapps Großeltern und Eltern lebten als Untertanen des württembergischen Königs Wilhelm II. in der hohenlohischen Provinz. In diese Welt hinein wird die Erzählfigur, der spätere Schriftsteller Eugen Rapp, geboren. 1913 ist das Ende der monarchischen Idylle bereits absehbar, der Erste Weltkrieg steht vor der Tür. Das Kind, das an dieser Zeitenwende ins Leben tritt, ist von Anfang an etwas Besonderes, ja Seltsames. Ein Weltentflieher, der den Härten des Alltags, den Profanitäten seiner Mitmenschen kaum gewachsen sein wird. Ein Leben lang muss Eugen Strategien des Raushaltens und des Abseitsstehens entwickeln. Zu einer Existenz als Schriftsteller gibt es dabei für ihn nie eine Alternative.

Der langjährige Lektor und heutige Leiter des Literaturhauses Hamburg, Rainer Moritz, hat “Verlassene Zimmer” in seine vor einigen Jahren erschienene – und sehr empfehlenswerte – “Überlebensbibliothek” aufgenommen. Das Lebenshilfe-Kapitel mit Lenz hat den Titel “Wer die Angst vor dem Tod ein wenig verlieren möchte, lese ‘Verlassene Zimmer’ von Hermann Lenz.” Moritz hat über Lenz promoviert und gehört zu den wenigen echten wissenschaftlichen Spezialisten für diesen Autor und dessen Werk. Sein Urteil über “Verlassene Zimmer”: “Es ist tröstlich, Hermann Lenz’ ruhiger, eingängiger Prosa zu folgen und diesen Weg mit den Krumms (und in den späteren Bänden der Lenz’schen Autobiografie mit den Rapps) gemeinsam zu gehen.” Der geduldige Sprachfluss, die akribischen Alltagsschilderungen, der genaue Blick auf die Schauplätze der Romane, erinnern nicht zufällig an Stifter und Mörike, in deren Schule und Nachfolge man Hermann Lenz durchaus einordnen kann.

Hermann Lenz verbrachte seine frühen Jahre in Künzelsau und später einen großen Teil seines Lebens in Stuttgart. In Tübingen begann er ein Theologie-Studium. Da er sich weigerte der Studenten-SA beizutreten, geriet er gesellschaftlich ins Abseits. Es folgten Studienjahre in Heidelberg und München. Lenz belegte Germanistik, Archäologie und Kunstgeschichte. Im kunstgeschichtlichen Seminar in München lernte er seine Lebens- und Arbeitspartnerin, seine spätere Ehefrau, Hanne Trautwein kennen. Nach dem Studium lebten sie gemeinsam in Lenz Elternhaus in Stuttgart. Während er mit dem Schreiben fast nichts, als Sekretär von Kultureinrichtungen recht wenig verdiente, sorgte sie mit ihrem Einkommen als Lektorin für das Auskommen. 1975 zogen sie nach München und wohnten nun im Schwabinger Haus der Familie Trautwein.

Lenz Haus

Das ehemalige Elternhaus von Hermann Lenz in der Stuttgarter Birkenwaldstrasse. – Foto: 8mobili

Hermann Lenz starb am 12. Mai 1998. Bis zu ihrem Tod im Jahre 2010 betreute Hanne Lenz das literarische Erbe ihres Mannes und gründete eine Stiftung, die an ihn und sein Werk erinnern soll. “Mit dem Tod der Kunsthistorikerin, Erzählerin und Lektorin Hanne Lenz versinkt endgültig das Universum des großartigen dichterischen Chronisten des 20. Jahrhunderts, Hermann Lenz.” Das schrieb „Die Welt“. Es kam nicht ganz so. Peter Hamm und andere führen die Stiftung bis heute fort. Mit ihr und der Unterstützung der Stadt München gelang es inzwischen, das Münchner Trautwein-Lenz-Haus in eine Gedenkstätte umzugestalten. In der Mannheimer Straße kann sie nach Voranmeldung besichtigt werden.

2001 ist bei Suhrkamp ein Band mit Auszügen aus dem Briefwechsel zwischen Paul Celan und Gisèle Celand-Lestrange und dem Ehepaar Lenz erschienen. Er enthält 137 Briefe, Postkarten und Telegramme. Die vier waren sich 1954 zum erstenmal und eher zufällig begegnet. Man kannte aber bereits die Werke des jeweils anderen. “Der schreibt, wie er ist…” urteilte Hermann Lenz einmal über Paul Celan. Eine Aussage, die fast noch passender auf ihn selbst zutrifft. “Verlassene Zimmer” und die nachfolgenden Eugen-Rapp-Romane sind nicht zuletzt Zeugnis einer unabdingbaren Schriftsteller-Existenz, die zeitweise dem Spitzweg-Klischee vom armen Poeten entsprochen haben muss, die aber trotz aller Entbehrungen, Anfechtungen und Ausgrenzungen für Hermann Lenz alternativlos war. Zurück bleibt sein umfangreiches Lebenswerk, bestehend aus Romanen, Erzählungen, Gedichten, Briefen und Rezensionen. Wir Leser entscheiden darüber, wie gegenwärtig es bleiben wird.

Neue ZeitVerlegerisch ist es bisher nur unvollständig erschlossen. Zum hundertsten Geburtstag hat Insel den Eugen-Rapp-Roman “Neue Zeit” neu aufgelegt. Die aktuelle Ausgabe wurde um eine Auswahl aus dem Briefwechsel zwischen Hanne und Hermann Lenz aus den Jahren 1937 bis 1945, also etwa dem Handlungszeitraum des Romans, erweitert. Eine fundierte Biographie über Hermann Lenz liegt bisher nicht vor. 1987 erschien “Bilder aus meinem Album”. Eine fotografische Dokumentation, angereichert mit autobiographischen Hinweisen, die einen intimen Einblick in das Leben von Hermann Lenz und sein familiäres Umfeld gewährt.

Der broschierte Band “Im stillen Haus” ist eine Spurensuche von Norbert Hummelt, der erkundet hat “Wo Hermann Lenz in München schrieb.” Die Schwarzweiß-Fotografien stammen von Isolde Ohlbaum. 1999 hatte die Zeitschrift “Text + Kritik” seine Nummer 141 Hermann Lenz gewidmet. Sie enthält zahlreiche literaturwissenschaftliche Beiträge zum Werk. Außerdem gibt es ein Heft aus der Marbacher Reihe “Spuren”, in dem Rainer Moritz unter dem Titel “Hermann Lenz und Künzelsau” den ersten Lebensabschnitt des Dichters knapp, aber sehr anschaulich behandelt.

Literaturhinweise

Die Eugen-Rapp-Romane: Verlassene Zimmer (st), Andere Tage (st), Neue Zeit (Neuauflage), Tagebuch vom Leben und Überleben (st), Ein Fremdling (nur antiquarisch), Der Wanderer (nur antiquarisch), Seltsamer Abschied (nur antiquarisch), Herbstlicht (st), Freunde (st). – (st) = als Suhrkamp-Taschenbuch lieferbar

Lenz, Hermann: Neue Zeit (Neuausgabe). Mit einem Anhang: Briefe von Hermann und Hanne Lenz 1937 – 1945. Ausgewählt von Peter Hamm. – Insel, 2013

Lenz, Hermann: Bilder aus meinem Album. – Insel, 1987

Hummelt, Norbert: Im stillen Haus. Wo Hermann Lenz in München schrieb. Mit Fotografien von Isolde Ohlbaum. – Allitera, 2009

Moritz, Rainer: Hermann Lenz und Künzelsau (Spuren, 87) Deutsche Schillergesellschaft Marbach am Neckar, 2011

Hermann Lenz. Text +Kritik, 141. I/99. – Text + Kritik, 1999

Moritz, Rainer: Die Überlebensbibliothek. Bücher für alle Lebenslagen. – Piper, 2006

Spät-Lese (5)

(Reife Bücher: Erstmals, neu oder wieder gelesen)

„Gertrud“ – von Hermann Hesse

Warum jetzt?

Die Meinung, dass der als kultig geltende amerikanische Film-Klassiker “Easy Rider” Berühungspunkte zu Werk und Gedankenwelt Hermann Hesses aufweist, ist eines der vielen Missverständnisse mit denen sich der Hesse-Leser, -Liebhaber und nicht ganz unkundige Hesse-Kenner anlässlich der ausgelassenen Feierlichkeiten rund um dessen 50. Todestag konfrontiert sieht. Der Dichter Hermann Hesse stammte aus polyglotter pietistischer Familie und wurde am 2. Juli 1877 im Königreich Württemberg geboren. Er starb am 9. August 1962 im Tessin; die meiste Zeit seines Lebens war er Schweizer Staatsbürger.

Eine Musikgruppe, die zum Film auch heute noch gern gehörte Popmusik über die Themen Freiheit und Abenteuer beisteuerte, wurde nach Hesses wirkungsmächtigen Roman “Steppenwolf” benannt. Längst wissen wir, dass die Mitglieder der Band keinerlei Kenntnis von Hermann Hesse hatten und die Namensgebung einem spontanen Einfall des erfolgsorientierten Managers zu verdanken war. “Born to be wild” kann uns also ebensowenig als geistige Essenz Hesses verkauft werden, wie die lederne Männer-Romantik des Road-Movies und dessen zunehmend gewaltgeladener Verlauf.

Die Stadt Calw (Gerbersau), in der Hermann Hesse zur Welt kam, die Sparkasse Nordschwarzwald, der selbsternannte Hesse-Nachfolger und Nuschelbarde Udo Lindenberg und viele Einrichtungen landauf, landab, fühlten sich nur zu gerne berufen, heftig zu veranstalten, auszustellen, zu verfilmen und aufzuführen, und damit Fremdenverkehr und eigenen Ruhm zu fördern. Auf diesem Rummel, der schon das ganze Jahr im Namen des runden Trauer-Jubiläums in Betrieb war, gehen nun so nach und nach die Lichter wieder aus. Die Phase der Hyperaktivitäten hat ihren Höhepunkt überschritten. Die Aufgeregtheiten beginnen sich zu legen. In Gerbersau kehren die ersten Bewohner hinter die Spitzengardinen zurück.

Wenn es um diesen Zwangsschwaben und Literatur-Nobelpreisträger Hesse geht, stehen immer wieder einige wenige Werke vielbeachtet im Mittelpunkt. Das Kindheitsdrama “Unterm Rad” etwa, die Legende “Siddhartha”, populäre Gedichte wie “Im Nebel” oder “Stufen”, das von den Wenigsten zu Ende gelesene “Glasperlenspiel” und natürlich der legendäre und sprichwörtliche “Steppenwolf.” Andere Werke hingegen haben deutlich weniger Käufer und Leser gefunden. Zu diesen zählt ganz sicher der Roman “Gertrud”, von dem mir vor Jahren eine ältere, schon recht zerlesene Ausgabe in die Hände fiel. Ich las sie kurz an und schließlich mit Hingabe und Bewegung zu Ende. Meinen Nerv hatte der Autor getroffen. Zudem freute mich, dass das Buch zu den umfangreicheren Werken Hesses gehört und ich so länger zu lesen hatte, als an schmalen Bändchen, wie dem “Lauscher”, “Kurgast” oder “Nürnberger Reise”, die ich alle auch sehr schätze.

Inhalt

Nach einem Unfall beim Schlittenfahren behält der angehende Musiker Kuhn eine Behinderung zurück, die seine weitere Laufbahn in Frage stellt. Mühsam findet er körperlich und seelisch auf den eingeschlagenen Weg zurück. Ein längerer Aufenthalt in einem graubündischen Bergdorf hilft ihm Klarheit in Denken und Fühlen zu finden und neue kreative Kraft zu schöpfen: “Aus dem Treiben, Schillern und Kämpfen meiner gesteigerten Empfindungen war Musik geworden.” Kuhn, der Ich-Erzähler des Romans, wird Komponist, ermutigt und gefördert von dem Sänger Muoth.

Eine Brot-Beschäftigung findet Kuhn als zweiter Geiger in einem Orchester. Sein privates Glück gestaltet sich derweil schwierig. Voller Unsicherheiten, verliebt er sich in die Sopranistin Gertrud. Für sie schreibt er eine Oper, doch gelingt es ihm nicht ihr entscheidend näher zu kommen. Gertrud erliegt vielmehr dem männlich drängenden Charme Muoths. Die beiden heiraten, was Kuhn in eine Lebenskrise treibt. Er trägt sich mit Selbstmord-Gedanken. Freiwillig aus dem Leben scheidet dann allerdings Muoth, als die Ehe mit Gertrud scheitert. Was bleibt, ist die platonisch distanzierte Freundschaft zwischen der Sängerin und dem Komponisten.

Hesses Sprache und Stil in diesem Buch, für dessen endgültige Fassung, die 1910 bei Albert Langen erschien, drei Anläufe notwendig waren, kann mit einigem Recht als spätromantisch eingestuft werden. Für die meisten Kritiker waren Sprache, Motive und Handlungsverlauf des Romans zu populär angelegt, “auf breite Konsumierbarkeit abgestellt,” wie der “Kindler” urteilt. Ich sehe das etwas anders. In Literaturwissenschaft- und -kritik, gab es immer wieder Versuche Hesse höhere literarische Qualitäten abzusprechen. An “Getrud” wurde das exemplarisch exekutiert; was leider dazu führte, dass das Buch heute in der breiten Öffentlichkeit und selbst bei echten Hesse-Verehrern, nicht angemessen wahrgenommen wird. Für mich nimmt die leichte Lesbarkeit des Textes, dem Werk nichts von seiner Bedeutung. Es gehört zu meinen Lieblingsbüchern Hesses.

Anmerkungen und Stimmen zum Werk

In seiner umfangreichen, aktuellen und spannenden Hesse-Biographie weist Gunnar Decker immer wieder auf die Schwierigkeiten Hesses mit den “Wirklichkeitsmenschen” hin. Sie sind nicht in der Lage sich in das Seelenleben und die Vorstellungswelten eines Künstlers zu versetzen. Die Verständigung mit ihnen scheitert ständig. Der unangepasste Kreative, der nicht in die üblichen Berufs- und Laufbahn-Schubladen passt, ist darauf angewiesen auf seinem “Eigensinn” zu bestehen. “Sei du selbst, so ist die Welt reich und schön”, lautet Hesses Credo und Fazit.

Einer der zentralen Momente des Romans ist die nicht erwiderte Anbetung Gertruds durch Kuhn. Eine Parallele zu Hesses Leben, dessen Verhältnis zu Frauen sich häufig in Verehrung aus der Ferne erschöpfte. Beiden männlichen Hauptfiguren hat Hesse autobiographische Züge mitgegeben.

Der Komponist Kuhn ist der gescheiterte Bürger, der zum Künstlertum geradezu gezwungen wird; der Sänger Muoth ein innerlich zerissener Mensch, und damit ein Vorläufer der späteren Steppenwolf-Figur. “Zwischen beiden steht Getrud, die gewiß am wenigsten faßliche, nur umrißhaft gestaltete Frau.” (Eike Middell) Hesse hat sich auf dem Gebiet der literarischen Frauendarstellung auch nie wesentlich weiterentwickelt. Besser gelingt ihm in “Gertrud” etwas anderes: “Erstmals versucht Hesse in diesem Buch die Gestaltung des künstlerischen Produktionsprozesses.” (Eike Middell)

Der früh verstorbene Hugo Ball (1886 – 1927 ), einer der ersten Dadaisten und Lautdichter, stand Hesse zeitweise sehr nahe. Er war mit dem Dichter so befreundet, wie man dem stets zu große Nähe meidenden Menschen Hesse überhaupt befreundet sein konnte. Ball schrieb die erste, bereits 1927 erschienene Hesse-Biographie. Sie war als Geschenk zum 50. Geburtstag des Dichters gedacht.

Ball sieht den Musikerroman “Gertrud” als Parallel-Stück zum einige Jahre später erschienen Malerroman “Roßhalde”. Musik war ja für Hesse die erste, wichtigste und tiefste Kunst. Für Hugo Ball war sie interessanterweise “die eigentliche Trug- und Illusionskunst, weil man in ihr und durch sie ums Leben betrogen wird”. Und er behauptet sogar, Hesse habe die “Gefährlichkeit der Musik erkannt” und wollte sich von ihr lösen. Auch wenn er das tatsächlich zu irgendwelchen Phasen seines Lebens gewollt haben sollte, gelungen ist es Hermann Hesse nie. Den Selbstbetrug nahm er dabei gerne in Kauf. Musik war für ihn zentrales Lebenselexier, Mozart sein Fixstern, und ein echtes Illusions-Gesamtkunstwerk wie die “Zauberflöte” eines seiner liebsten. Gerade dieses intensive Verhältnis Hesses zur Musik verleiht seiner “Gertrud” besondere Bedeutung.

Höhepunkte

Zwei Sätze aus diesem vielstimmigen Roman, die mir, neben vielen anderen, sehr gefallen: „Aus den eifrigsten Jungen werden die besten Alten und nicht aus denen, die schon in der Jugend wie Großväter tun.“ – “Und während es mir innen wohl oder weh erging, stand meine Kraft doch in Ruhe darüber, schaute zu und erkannte das Helle und Dunkle als geschwisterlich zusammengehörend, das Leid und den Frieden als Takte und Kräfte und Teile derselben großen Musik.”

Es geht also letztlich auch in diesem Buch um nichts anderes als um die von Hesse immer wieder behandelte Doppelwesenheit der Menschen im allgemeinen und jene des Autors und damit seiner Protagonisten im besonderen. Um Mensch oder Wolf, Verbrecher oder Ehrenmann, Bürger oder Künstler, gesund oder krank. Die uralte “Zwei Seelen ach in meiner Brust” – Geschichte.

In humaner Wirklichkeit jenseits aller Literatur sind es nicht selten auch noch mehr als zwei Seelen. So sah auch der Arzt und Schriftsteller Ludwig Finckh seinen Jugendfreund aus Tübinger Tagen: “Er war zwiespältig, driespältig, hundertspältig, er konnte sprunghaft wechseln.” Dass Ursprung und Urgrund damit verbundener lebenslanger Probleme in der Kindheit zu finden sind, hat Hesse immer wieder thematisiert: “… denn sie klingt mir dennoch in allen Träumen wie ein herrliches Lied herüber und klingt heute reiner und lauterer gestimmt, als da sie noch Wirklichkeit gewesen ist.”

Hesse, Hermann: Gertrud : Roman. – Bei Suhrkamp in verschiedenen Auflagen und Ausgaben

Decker, Gunnar: Hermann Hesse. Der Wanderer und sein Schatten. Biographie. – Suhrkamp, 2012

Middell, Eike: Hermann Hesse. Die Bilderwelt seines Lebens. 5. Aufl. – Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig, 1990 (nur antiquarisch)

Ball, Hugo: Hermann Hesse. Sein Leben und sein Werk. 12. Aufl. – Suhrkamp, 1985

Spät-Lese (4)

(Reife Bücher. Erstmals, neu oder wieder gelesen)

“Irrungen, Wirrungen” von Theodor Fontane

Warum und wozu?

Nachdem ich einige Romane von Theodor Fontane gelesen und mich etwas mit dessen Biographie beschäftigt hatte, begann ich den Roman “Ein weites Feld” von Günter Grass besser zu verstehen. Darin geht es mal offen, mal verschlüsselt, fast ausschließlich um Leben und Werk Fontanes und die Leküre erfordert entsprechende Vorkenntnisse. Früher musste ich über den ruppigen, unsensiblen, als Spiegel-Titelbild epochemachenden, allzu wörtlich illustrierten Verriss des Buches durch Marcel Reich-Ranicki schmunzeln; inzwischen weiß ich, dass der Meister wohl falsch lag. Denn “Ein weites Feld” ist ein solches und setzt eben Neigung zu und Lektüre von Fontane voraus.

Ich selbst habe die Erzählwelt von brandenburgischer Mark, Oderbruch und preußischem Berlin reichlich spät für mich entdeckt, war lange Zeit dem Vorurteil verhaftet, dass diese “alten Geschichten” zu sperrig und schwer zugänglich seien. Irgendwann las ich dann kurz hintereinander “Vor dem Sturm”, das deutschsprachige Pendant zu Tolstois “Krieg und Frieden” und Fontanes umfangreichster Roman, die Novelle „L’Adultera“, in der ich das Humor-Potential Fontanes entdeckte und die dramatisch tragische Geschichte von der armen „Grete Minde“. “Effi Briest” und “Irrungen, Wirrungen” folgten bald darauf.

Effi Briest ist nicht nur aus meiner Sicht einer der großartigsten Romane in deutscher Sprache überhaupt. Man kann Thomas Mann nur zustimmen: „Eine Romanbibliothek…, beschränkte man sie auf ein Dutzend Bände, auf zehn, auf sechs, – sie dürfte ‚Effi Briest‘ nicht vermissen lassen.“ Fontane schildert darin eines seiner traurigsten und hoffnungslosesten Frauenschicksale. Davon kann man sich bei “Irrungen, Wirrungen” ein Stück weit erholen; denn hier finden wir eine preußische Gesellschaft vor, die sich schon so weit entwickelt hat, dass sie Konflikte zwischen Mann und Frau und den verschiedenen Ständen ohne Todesfälle lösen kann.

Wer war der Autor?

Theodor Fontane wurde erst im fortgeschrittenen Lebensalter zum Roman-Schriftsteller. Am 30. Dezember 1819 kam er in Neuruppin zur Welt. Er trat in die Fußstapfen seines Vaters und wurde Apotheker. Berufliche Stationen waren Magdeburg, Leipzig, Dresden und Berlin, wo er auch den Militärdienst leistete. Nebenher entstanden Erzählungen und Gedichte, die in Zeitungen und Zeitschriften erschienen. Fontane verkehrte in literarischen Zirkeln, wie dem “Tunnel über der Spree”, dem u. a. auch Paul Heyse und Adolf von Menzel angehörten. Die eigentliche Laufbahn des hauptberuflichen Schriftstellers begann 1849 als Korrespondent der “Dresdner Zeitung”, einige Jahre davon in England.

1862 erschien der erste Band der “Wanderungen durch die Mark Brandenburg”. In den 1860er und 1870er Jahren war Fontane Berichterstatter von Kriegsschauplätzen in Dänemark, Böhmen und Frankreich, wo er als Spion verdächtigt und zeitweise inhaftiert wurde. Bis 1889 schrieb er Theaterkritiken für die “Vossische Zeitung”. Sein erster Roman “Vor dem Sturm” erschien schließlich 1878, in rascher Folge dann weitere, bis 1899 mit “Der Stechlin” die Reihe der Roman-Veröffentlichungen abgeschlossen wurde. Da war der Autor bereits tot. Fontane starb 1898 in Berlin; aus seinem Nachlass wurde 1914 noch das Fragment “Mathilde Möhring” veröffentlicht. “Irrungen, Wirrungen” kam 1888 heraus, noch vor “Effie Briest” (1895), ist aber zeitgeschichtlich später angesiedelt.

Worum geht es?

Schauplatz ist Berlin. Die 1870er Jahre. Eine Zeit der technischen und gesellschaftlichen Umbrüche. Im Mittelpunkt steht die Liebe zwischen dem gut aussehenden, mit beiden Beinen fest im harten Alltag stehenden, selbstbewussten Bürger-Mädchen Lene Nimptsch und dem feschen, familiären ebenso wie überholten ständischen Traditionen verpflichtete Offizier und Baron Botho von Rienäcker. Diese Liebe hat von Anfang an keine Zukunft, was Lene schon immer klar ist, was er aber gegen jeden Verstand nicht wahrhaben will. Nicht einmal dann, als die kluge junge Frau ihrem Geliebten genau vorhersagt, wann der Moment der Trennung für immer kommen wird.

Eine solche Beziehung durfte im Preußen des bereits dem Untergang geweihten, aber immer noch tonangebenden Adels, nicht offen gelebt und schon gar nicht institutionalisiert werden. Doch was wir hier erzählt bekommen ist nichts weniger als die Geschichte einer großartigen weiblichen Selbstbehauptung und zaghafter früher Emanzipation. Fontane schildert realistisch, fast nüchtern, zwar mit Distanz, doch nicht ohne Ironie und leisen Humor. Sehr feinsinnig und facettenreich gelungen sind Nebenfiguren, wie die Nenn-Mutter Nimptsch, ihre Plauderfreundin Frau Dörr und deren knorrig-geiziger Ehegatte. Hier zeigt sich die ganze Größe und Qualität des Erzählers Theodor Fontane.

Was sind die Höhepunkte?

Zu den Höhepunkten des Romans gehört zweifellos der Ausflug von Lene und Botho zum Ausflugslokal “Hankels Ablage” an einem See am Berliner Stadtrand, sowie die anschließend im Gasthof gemeinsam im Doppelzimmer verbrachte Nacht. So direkt wird der Leser auf ein Paarungsgeschehen zwischen den Protagonisten in anderen Werken Fontanes nicht hingewiesen. Allerdings geschieht dies hier ohne die heute selbstverständlichen Details.

Dass die Geschichte für das Liebespaar in pragmatischen Zweckehen mit anderen Partner endet, muss letztlich als positiv angesehen werden. So bleiben alle Beteiligten und auch wir Leser von allzu großem Unheil und damit verbundener Trauer (wie oben bereits angedeutet: s. Effi Briest, wo das ganz anders endet.) verschont. Und wenn sie nicht gestorben sind … Das Buch eignet sich übrigens hervorragend für glückliche, unbeschwerte (Liebes)-Paare unserer Tage zum gegenseitigen Vorlesen. (Doch wer macht so etwas noch?!)

***

Die Werke Fontanes gibt es in vielen verschiedenen Ausgaben. Vom wohlfeilen Reclam-Bändchen, über Taschenbücher, bis zu festgebundenen Varianten. Zur Lektüre empfiehlt sich auf jeden Fall eine kommentierte Ausgabe. So hat man die beste Möglichkeit erzählte Zeit und deren Geist richtig erfassen und mitempfinden zu können und letztlich mehr als nur eine alte Geschichte. Für Irrungen, Wirrungen empfiehlt sich deshalb:

Fontane, Theodor: Irrungen, Wirrungen. Roman, vollst. Ausgabe mit Kommentar und Nachwort von Helmuth Nürnberger. – München: dtv, versch. Jahre. Derzeit Euro 8,90

Spät-Lese (3)

(Reife Bücher. Erstmals, neu oder wieder gelesen.)

„Hölderlin“ von Peter Härtling

Warum jetzt?

Auf “Hölderlin. Eine Winterreise” von Thomas Knubben hatte ich mich gefreut seit ich die Vorankündigung des Verlages kannte. Das Buch erschien im August bei Klöpfer & Meyer; einem Verlag dem ich eigentlich nur Gutes unterstelle. Diesmal wurde ich enttäuscht. Das ist kein Hölderlin-Buch. Das ist ein Knubben-Buch. Es schildert nicht wirklich die Tragödie Hölderlins letzter großer Reise nach Bordeux und unter Umwegen zurück in die Heimat. Knubben hängt sich an den aktuellen Wanderbuch-Boom an. Da müssen Hölderlin-Zitate herhalten, wo dem Autor der erzählerische Faden verloren geht. Da werden Harald Schmidt, Bob Dylan, Patmos, Anne und Patrick Poirier und viele Andere zitiert ohne dass es dafür gute Gründe gibt.

Eigentlich hatte ich auf Seite vierundzwanzig genug. Knubben zitiert dort Harald Schmidt, der sich einmal den Spaß machte, Hölderlin als Familiendichter zu bezeichnen, den man locker zwischendurch am Strand lesen könne. Arglos fällt er dem Zyniker zum Opfer und gesteht: “Ich habe es versucht, an den Gestaden des Mittelmeeres, es geht vorzüglich.”

Daraufhin habe ich mehr oder weniger lustlos noch etwas hin- und hergeblättert, einige Passagen kreuz- und quergelesen, gegrübelt und die abgestürzte biographische Versuchsanordnung dann leichten Herzens beiseite gelegt. Anschließend der Griff ins Regal – zum „Klassiker“. Der als Roman deklarierten Hölderlin-Biographie von Peter Härtling.

Dieses Buch besitze ich in einer Ausgabe der Büchergilde Gutenberg von 1978 (das Original ist 1976 bei Luchterhand erschienen). Sie wurde von Jürgen Seuss gestaltet, aus der Korpus Bodini gesetzt, auf schwäbischem Scheufelen-Papier bei Hoffmann in Mainz gedruckt und von Lachemaier in Reutlingen gebunden. Das Buch ist frisch wie am ersten Tag. Sein Inhalt auch.

Zugegeben, das mag eine sehr persönliche Erkenntnis sein. Emotional. Das Werk hat mich, als ich es vor Jahren erstmals las, begeistert, in mehrfachem Sinne mitgenommen und zu einer anhaltenden Beschäftigung mit dem württembergischen Dichter angestiftet. In meinem Bekanntenkreis wurde viel darüber diskutiert. Und der eine oder die andere las ergänzend und erweiternd die umfangreiche wissenschaftliche Monographie von Pierre Bertaux, der sich erdreistete den Konsens über Hölderlins geistige Erkrankung in Frage zu stellen.

Der Autor

Peter Härtling wurde 1933 in Chemnitz geboren. Die ersten Lebens- und Schuljahre verbrachte er in Sachsen, bevor ihn Kriegswirren und Vertreibungswellen ins Neckarstädtchen Nürtingen spülten. Dort verbrachte er, wie Friedrich Hölderlin etwa 150 Jahre vor ihm, wichtige und prägende Jahre. Härtling ist heute Ehrenbürger von Nürtingen.

Nach einer Ausbildung und Tätigkeiten als Journalist begleitete er mehrere Positionen beim tradtionsreichen Verlag S. Fischer in Frankfurt, und widmete sich ab 1974 ganz dem literarischen Schreiben. Der engagierte evangelische Christ lebt mit seiner Familie seit vielen Jahren im Nordbadischen.

Im Laufe der Jahrzehnte entstand ein umfangreiches und vielfältiges Werk. Gedichte, Theaterstücke, vor allem aber viel gelesene Romane, zu deren Höhepunkten die biographischen Erzählungen gehören. Über Nikolaus Lenau, Robert Schumann, Wilhelm Waiblinger, E.T.A. Hoffmann und andere.

Härtling hat auch sehr viel für Kinder und Jugendliche geschrieben. Titel wie “Krücke”, “Fränze”, “Ben liebt Anna” wurden sehr populär. Der Schriftsteller erhielt zahlreiche Auszeichnungen. Bemerkenswert ist, dass bereits zu seinen Lebzeiten dreizehn Schulen in Deutschland nach ihm benannt sind.

Sein neuestes Buch ist wieder ein Erzählwerk das rund um biographische Bruchstücke einer künstlerischen Persönlichkeit entstanden ist. “Liebste Fenschel!: Das Leben der Fanny Hensel-Mendelssohn in Etüden und Intermezzi”, kam in diesem Frühjahr heraus.

Werk und Inhalt

“…ich schreibe keine Biographie. Ich schreibe vielleicht eine Annäherung.” Was ist es wirklich? Roman? Bericht? Wissenschaftliche Abhandlung? Von allem etwas? Härtling hat sich mit Werk und Sekundärliteratur von und zu Hölderlin jedenfalls gründlich beschäftigt, um uns, seinen Lesern, erzählen zu können. Erzählen von Leben, Denken und Dichten des Friedrich Hölderlin, geboren am 20. März 1770, von seinen Freunden Hölder genannt. Von Kindheit und Jugend in Lauffen, Nürtingen, Denkendorf und Maulbronn. Von den Tübinger Jahren. Vom Studium im evangelischen Stift, der theologischen Kaderschmiede Württembergs. Den Wanderjahren. Der langen Suche nach Wegen und Zielen. Der Beerdigung im Juni 1843  auf dem alten Friedhof in Tübingen, der heute mitten in der Stadt liegt. “Christoph Schwab spricht. Der Liederkranz singt zwei Choräle.”

So lernen wir den begabten Gymnasiasten und Studenten kennen, den Dichter und Zeitgenossen Schillers, Goethes und Napoleons, den schmerzlich Liebenden, den Rastlosen, der erst zur Ruhe kommt, als der Geist eigene Wege geht. Wir erfahren vom Republikaner und frühen Demokraten Hölderlin, dem Verächter der Despoten, dem Freund des klassischen (idealisierten) Griechenlands. Peter Härtling zu seiner Vorgehensweise: “Ich erfinde Gestalten, die es gegeben hat. Ich schreibe ein Drehbuch zu einem Kostümfilm. Längst ist er mir vertraut. Ich projiziere, nachdem ich in seinen Briefen und Gedichten gelesen habe, meine Gefühle auf seine Handlungen.”

Höhepunkte

Fasziniert haben mich Persönlichkeiten, die wir rund um Hölderlin kennenlernen. Den schwäbelnden Hegel, den superschlauen Schelling, die Großen von Weimar und Jena, den Freund Sinclair und die Pflegeleute Ernst und Charlotte Zimmer. Und dann natürlich die Frauen. Louise Nast, Elise Lebret, schließlich die Liebe des Lebens, Susett Gontard, seine “Diotima”. Wie uns Härtling mit Umständen und Lebensverhältnissen vertraut macht, uns eintauchen lässt in die historische Kulisse, sein intensiver Erzählstil. Das geht unter die Haut.

Tübingen, das dreckige kleine Nest. Die dunkle, stille, mühsame Zeit. Die Vergangenheit ist nicht zu verherrlichen. Wir können uns in Menschen, die vor zwei Jahrhunderten lebten, nicht mehr wirklich hineinversetzen. Ihre Vorstellungen, ihr Weltbild, nicht mehr nachvollziehen. Es bleibt beim Versuch der Annäherung. Aus fernen Jahren kommen Hölderlins Werke zu uns. Mit ihren Geheimnissen und ihrer Sprachmacht. Mit ihren großen Bildern und dem idealistischen Weltentwurf erreichen und ergreifen sie uns bis heute.

Härtling, Peter: Hölderlin. Ein Roman. – Darmstadt : Luchterhand, 1976 (aktuelle Taschenbuchausgabe bei dtv. Euro 12,90)

Härtling, Peter: Liebste Fenchel!: Das Leben der Fanny Hensel-Mendelssohn in Etüden und Intermezzi. – Köln : Kiepenheuer & Witsch, 2011. Euro 19,99

Bertaux, Pierre: Friedrich Hölderlin. – Frankfurt : Suhrkamp, 1978 (nur antiquarisch oder in Bibliotheken)

Spät-Lese (2)

(Reife Bücher. Erstmals, neu oder wieder gelesen.)

„Das Treffen in Telgte“ von Günter Grass


Warum jetzt?

“Unsere erste Begegnung war gewiß seltsam. Ich hatte ihn nicht eingeladen, und eigentlich wollte ich ihn auch nicht dabeihaben. Günter Grass das bedeutete mir nichts, und der Name besagte mir nichts. Niemand meiner Tagungsteilnehmer kannte ihn.” Das sollte sich für Hans Werner Richter, von dem dieses rückblickende Zitat stammt und andere Teilnehmer an den Tagungen der Gruppe 47, bald ändern.

Vor einiger Zeit war ich, von Anderem abschweifend und deshalb wie nebenbei, in eine oberflächliche Beschäftigung mit der Gruppe 47 geraten. Allerdings auch nicht zum erstenmal. Erstmals jedoch wurden mir lokale und regionale Bezüge zu dem Landstrich, der seit drei Jahrzehnten zur Heimat gewordener Hauptsitz ist, so richtig klar. Ich erfuhr u. a., wie nah mein derzeitiger Schreibtisch einem ehemaligen Schauplatz dieser denkwürdiger Dichtertreffen steht.

Vorausgegangen war die antiquarische Entdeckung und Erwerbung eines großformatigen Buches mit dem Titel “Die Gruppe 47 in Bildern und Texten”. Ein Bildband mit Fotografien von Toni Richter und einer Chronologie aller Treffen dieses unsteten Dichterhaufens, dessen Zusammensetzung und Versammlungsorte ständig wechselten. In den nächsten Wochen möchte ich Lektüre und Nachforschungen über die Gruppe intensivieren.

Im Herbst soll dann an dieser Stelle das eine oder andere berichtet werden. Zunächst aber einmal führte es zum Wiederlesen eines Buches von Günter Grass, das sich auf ganz besondere Weise mit der “Gruppe 47” beschäftigt und ohne diese nicht entstanden wäre.

Das Leben des Autors

Das Leben dieses Autors findet seit Jahrzehnten mitten unter uns und in der Mitte unserer Republik statt. Der Bildhauer, Zeichner, Schriftsteller, vor allem aber Mitbürger und Zeitgenosse Günter Grass war und ist in diesem Land unübersehbar und unüberhörbar. Längst ein Stück deutsche Kulturgeschichte, bereichert er auch heute noch unsere Literatur und die öffentliche Diskussionskultur.

1927 in Danzig geboren, begann seine künstlerische Laufbahn im Anschluss an einen kurzen jugendlichen Nazi-Irrweg, den obligatorischen Kriegsdienst und das Ende des Zweiten Weltkriegs. Nach einer Steinmetzlehre und dem Studium der Bildhauerei an der Kunstakademie Düsseldorf enstanden Mitte der 1950er Jahre erste literarische Werke. Grass schrieb hauptsächlich Gedichte und Theaterstücke, bevor 1958 mit der kolossalen “Blechtrommel” skandalträchtige Erschütterung einer träge-prüden Gesellschaft der Adenauer-Ära und epischer Durchbruch gleichermaßen erfolgreich gelang. Danach entstand ein vielfältiges und umfangreiches erzählerisches und essayistisches Werk.

1999 wurde Günter Grass mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. Im letzten Jahr erschien von ihm die Sprach- und Brüder-Grimm-Huldigung “Grimms Wörter. Eine Liebeserklärung”. Es soll sein letztes literarisches Werk bleiben, ließ der inzwischen 83-jährige Schriftsteller sein Publikum bei zahlreichen Lesungen und öffentlichen Auftritten wissen.

(Bild: Florian K. unter GNU Lizenz)

Die Geschichte des Werks

“Das Treffen in Telgte war ein Geschenk”. Ein Geschenk zum 70. Geburtstag von Hans Werner Richter, dem Initiator, Organisator und Übervater jener losen Schriftsteller-Treffen, die unter der Bezeichnung “Gruppe 47” in die Literaturgeschichtsschreibung der bundesdeutschen Nachkriegs-Jahrzehnte eingehen sollten. Eigentlich war ja dieses Kapitel im September 1967 in Saulgaus “Kleber Post” bereits mehr oder weniger offiziell beendet worden. Von Jenem, der es 20 Jahre vorher aufgeschlagen hatte. Mit einem tränennahen “es ist vorbei”, hatte Hans Werner Richter höchstpersönlich den Schlusstrich gezogen.

Doch noch einmal traf man sich an selber Stelle. 1968. Anlass war der 70. Geburtstag Richters, zu dem Günter Grass das passende Geschenk mitbrachte: “Mein lieber Hans Werner, anfangs war es nur eine kleine Sonntagsidee, Dir zum siebzigsten Geburtstag ein Gruppentreffen im Jahr 1647 zu skizzieren, doch dann wuchs sich die Idee zur Erzählung … aus, an der ich nun ein gutes halbes Jahr lang sitze und immer noch nicht bin ich am Ende.”

1968 war ein bewegtes Jahr. Nicht nur in der deutschen Geschichte. Auch im Leben von Günter Grass. Eine neue “größte” Liebe war in sein Leben getreten. Fortan vielfach bedichtet: “Sie ist ein Inselkind, / nur übers Wasser oder bei klarer Sicht / als Wunschbild zu erreichen. / Die vom Festland, sagt sie, / verstehen das nicht.” Seit dem Geburtstagstreffen in Saulgau begleitete sie immer wieder die öffentlichen Auftritte des Dichters und Frauen-Verstehers. In seinem 1977 erschienen Großroman “Butt” hat er Ute ein Denkmal gesetzt. Das “Treffen in Telgte” kam dann erst noch einmal zwei Jahre später, 1979, auf den Buchmarkt und verdankte seinen nicht geringen kommerziellen Erfolg hauptsächlich der Nachfolge des auflagenstarken, auf viel öffentliche Aufmerksamkeit gestoßenen, Vorgängers.

Mein Exemplar habe ich 1980 erworben, es ist eine sehr schöne Ausgabe der Büchergilde Gutenberg, der Grass seit Jahrzehnten verbunden ist und die eine Gesamtausgabe der Werke des Danzigers pflegt und anbietet. Obwohl mehrfach gelesen, steht das Buch auch heute noch frisch und wie neu wirkend im Regal, zu verdanken der traditionell besonders sorgfältigen Herstellung der Büchergilde-Editionen.

Der Inhalt

“Das Treffen in Telgte” ist ein sogenannter Schlüsselroman. Ein literarisches Werk, in dem wirkliche Personen und Ereignisse unter erdichteten Namen und nicht immer leicht enträtselbarer Verschleierung dargestellt werden. Das Verständnis setzt beim Leser eigentlich die Kenntnis der verschlüsselten Verhältnisse voraus.

1647. Der dreißigjährige Krieg geht seinem Ende entgegen, im Jahr darauf wird es zum Westfälischen Frieden kommen. In Telgte versammeln sich die ruhmreichsten deutschsprachigen Dichter des Zeitalters. Die Gegend wird immer noch von schwedischen Truppen bedrängt. Anreise und Treffen sind in diesen Zeiten nicht einfach; nicht nur Dichter sind allerhand kriegsbedingten Nöten und Gefahren ausgesetzt. Eingeladen hat Simon Dach, der berühmte preußische Lyriker.

Die Literaturgeschichte wird dieser Periode später das Etikett “Barock” ankleben. Es treffen sich Poeten aus Nürnberg und Schlesien, aus Regensburg und Holstein, auch heute noch bekannte Autoren sind dabei wie Paul Gerhard, Angelus Silesius oder Andreas Gryphius. Nicht direkt zur Sprache kommt, dass 300 Jahre später ein ähnliches Dichtertreffen stattfand, ebenfalls nach einem großen Krieg, dem diesmal weitere folgten. Günter Grass erzählt uns also unterhaltsam und parodistisch von 1647, meint allerdings immer auch 1947 und die folgenden Jahre. Ein Schlüsselroman eben.

Höhepunkte und Schwierigkeiten

Man kann das Buch auch ganz unbefangen als gute historische Erzählung lesen; dann liest es sich süffig wie ein Kelch Wein nach dem Westfälischen Frieden. Grass hat die Geschichte im Jahr 1647 angesiedelt, ein Jahr vor dem eigentlichen Kriegsende. Das titelgebende Städtchen Telgte liegt auch heute noch in der Nähe von Münster und gehört zum Kreis Warendorf. Grass der schon in der Blechtrommel einen Stil gefunden hatte, der an Grimmelshausen und Jean Paul erinnert, verwendete auch für das “Treffen in Telgte” einen ganz eigenen Ton und Rhythmus. Er kreierte eine barockisierende Sprache, die dazu dient, den Leser näher an die Zeit in der die Erzählung spielt heranzuführen.

Für Manchen mag gerade diese für Grass eigentlich typische Sprachbildhauerei heutzutage eine etwas höhere Schwelle darstellen und von der Lektüre möglicherweise abschrecken. Es erfordert etwas Mühe sich auf diese Melodie und auch auf die erzählerische Konstruktion und Konstellation einzulassen. Doch es lohnt und mit etwas Vorkenntnis lässt sich der Lesegenuss noch steigern. Man erkennt dann auch die akribische Vorgehensweise von Günter Grass, der dem Schreiben dieser Erzählung ein gründliches Quellenstudium vorausgehen ließ. Ein Verfahren, dass er häufig beim Verfassen seiner Prosawerke anwendete, die dadurch, neben der eigentlichen Handlung, jeweils eine historisch fundierte Ebene zugeschrieben bekamen.

Wie die Zusammenkünfte der Gruppe 47 ging auch das Treffen in Telgte zu Ende. Einerseits wurde bedauert, andererseits war eine Fortsetzung nicht mehr denkbar. Hans Werner Richter, Simon Dach und auch Günter Grass gingen ihrer Wege: “Doch hat uns in jenem Jahrhundert nie wieder jemand in Telgte oder an anderem Ort versammelt. Ich weiß wie sehr uns weitere Treffen gefehlt haben. Ich weiß, wer ich damals gewesen bin. Ich weiß noch mehr.”

Grass, Günter: Das Treffen in Telgte (Erstausgabe: Luchterhand, 1979), Neuausgabe. – dtv, 2011. Euro 10.

Spät-Lese (1)

 
(Die =conlibri= Spät-Lese: Reife Bücher aus älteren Jahrgängen. Erstmals, neu oder wieder gelesen.)

Anna Karenina von Leo (Lew) Tolstoi

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Warum jetzt?

„Das Element der Epik mit seiner rollenden Weite, seinem Hauch von Anfänglichkeit und Lebenswürze, seinem breit rauschenden Rhythmus, seiner beschäftigten Monotonie – wie gleicht es dem Meere, wie gleicht ihm das Meere! Es ist das homerische Element, das ich meine, das Ewig-Erzählerische als Kunst-Natur, als naive Großartigkeit, Körperlichkeit, Gegenständlichkeit, unsterbliche Gesundheit, unsterblicher Realismus.“

Wie Thomas Mann fasziniert mich die epische Erzählform in Gestalt umfangreicher Romane; sie sind nahezu alltägliches Zentrum meines Schmökerns, Lesens und Studierens. Thomas Mann selbst habe ich nicht nur besonders oft und intensiv gelesen, ich folge auch bereitwillig seinen Spuren, Quellen und Hinweisen. So habe ich seine norwegischen Vorbilder Alexander Lange Kielland und Jonas Lie entdeckt, so folgte ich auch seiner Wahrnehmung der beiden großen russischen Schriftsteller Dostojewski und Tolstoi.

Das war und ist nicht immer leicht. Bei „Krieg und Frieden“ war nach zwei Dritteln der Textmasse erst einmal Schluss. Ich scheiterte an den vorausgesetzten militärgeschichtlichen Kenntnissen und dem ganzen rabiaten Schlachtengetümmel. Nun also „Anna Karenina“.

In der letzten Zeit waren die neuen zeitgemäßen Übersetzungen von Werken Dostojewskis und Tolstois sehr im Gespräch. Den Anfang machte vor einigen Jahren die inzwischen leider verstorbene Swetlana Geier mit Dostojewski. Für ihre Neuübertragung von Tolstois „Krieg und Frieden“ bekam Barbara Conrad im März diesen Jahres den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Übersetzung verliehen, verbunden mit viel Beifall und Anerkennung.

Ebenso hätte man Rosemarie Tietze auszeichnen können. Von ihr stammt die aktuellste deutsche Version der „Anna Karenina“. Drei Jahre hat sie ausschließlich daran gearbeitet. In die Hand kam mir diese Ausgabe in einer Bibliothek eher zufällig, doch nach neugierigem Anlesen blieb ich bald hängen. Diese Übersetzung ist wohl das, was man „frisch“ nennt und mich als Leser nicht mehr unterscheiden lässt, ob Faszination und Genuss der Lektüre Autor oder Übersetzerin zu verdanken sind. Rosemarie Tietze versteht es offensichtlich in ganz einmaliger Weise, in zwei Sprachen literarisch zu denken und zu schreiben. So kommt es, dass man einen 135 Jahre alten Roman nicht mehr beiseite legen kann.

Das Leben des Autors

Lew Nikolajewitsch Graf Tolstoiin Deutschland meist: Leo Tolstoi – wurde am 9. September 1828 auf dem etwa 200 Kilometer südlich von Moskau gelegenen Gut Jasnaja Poljana geboren. Nach dem frühen Tod der Eltern lebte er bei einer Tante in Kazan, wo er auch von 1844 bis 1847 orientalische Sprachen und Jura studierte. Dem Studium folgte ein fünfjähriger Militärdienst. Tolstoi nahm u. a. an Kampfhandlungen im Kaukasus und auf der Krim teil. Auslandsreisen in den Jahren 1857 bis 1861 führten ihn nach Italien, Deutschland, Frankreich und England.

Tolstoi auf einem Gemälde von Ilja Jefimowitsch Repin (1887)

1862 heiratete Tolstoi Sofija Andreeva Bers und lies sich auf dem ererbten Landgut nieder. Die großen Romane „Krieg und Frieden“ und „Anna Karenina“ schrieb er zwischen 1864 und 1876. Die Literaturwissenschaft nennt ihn einen typischen Vertreter des psychologischen Realismus. Sein Erzählwerk zeichnet sich durch anschauliche und detaillierte Darstellung von Menschen und Natur aus. Seine Gattin hatte selbst breit gefächerte künstlerische Veranlagungen, die sie jedoch als Mutter von 13 Kindern und engste Mitarbeiterin ihres Mannes lange zurückstellen musste. Heute können wir auch von ihr Literarisches lesen. Zuletzt erschien in einer Neuausgabe „Kreuzersonate / Eine Frage der Schuld“, eine Art Gegenentwurf zu einem der bekanntesten Werke ihres Mannes. Doch ohne die geduldige Unterstützung Sofija Tolstojas wären die monumentalen Romane Leos wohl kaum entstanden.

Leo Tolstois Werk hatte seine Quellen u. a. in der Ethik und der Aufklärung des mitteleuropäischen 19. Jahrhunderts. Vor allem die Ideen Rousseaus beeinflussten sein Denken und Schreiben stark. Sie führten auch dazu, dass er sich im Laufe seines Lebens vom feudal-patriarchalischen Großgrund-Besitzer zum humanistisch-christlich motivierten Sozialreformer und zu einem Kritiker kirchlicher und staatlicher Autoritäten wandelte. Er setzte sich besonders gegen die Leibeigenschaft und für die unteren Stände des zaristischen russischen Gemeinwesens ein.

Durch Aufgabe eigener Besitzansprüche im Alter, die sich auch auf die Rechte an seinem umfangreichen und einträglichen Werk erstreckte, geriet er mit seinen Angehörigen in Konflikt. Im letzten Lebensjahr verließ er daher das heimatliche Gut und die Familie, um in asketischer Einsamkeit zu leben. Am 20. November 1910 starb er in Astapovo. Seine Beerdigung wurde zu einem großen gesellschaftlichen Ereignis. Mehrere tausend Menschen folgten dem Trauerzug.

Die Geschichte des Werks

Im 18. Und 19. Jahrhundert war es üblich selbst umfangreiche Werke zunächst in Fortsetzungen in literarischen Blättern zu veröffentlichen, die sich zu dieser Zeit eines breiten Interesses der gebildeten Schichten erfreuten. Aber auch Erstveröffentlichungen in populären Zeitschriften waren durchaus nicht ungewöhnlich. Gedruckte und gebundene Bücher waren teuer, das Publikum, das als Käufer dafür in Frage kam, noch sehr begrenzt.

„Anna Karenina“ erschien von 1875 bis 1877 erstmals in der Zeitschrift „Russkji vestnik“. Die erste Buchausgabe, die anschließend in einem Moskauer Verlag herauskam, bestand aus drei Bänden. Die erste deutsche Übersetzung war von Paul Wilhelm Graff und erschien 1885 bei Wilhelmi in Berlin. Die aktuellsten Übersetzungen in deutscher Sprache stammen von Hermann Asemissen (Aufbau und Insel), Fred Ottow (bei dtv) und eben Rosemarie Tietze, deren Arbeit zu diesem Artikel anregte.

Das Werk wurde seit seinem Erscheinen unzählige Male rezensiert und kommentiert. Eine Bibliographie der Sekundärliteratur wäre kaum noch überschaubar. Bis heute ist „Anna Karenina“ Gegenstand vieler populärer und wissenschaftlicher Abhandlungen, die dieses weltliterarische Ereignis aus den verschiedensten Blickwinkeln untersuchen. Zu den bedeutendsten und sprachlich eindrucksvollsten Reaktionen zählt zweifellos der 1939 erschienene Aufsatz von Thomas Mann, aus dem auch das Eingangszitat stammt.

Der Inhalt

Vereinfacht könnte man die Handlung darauf reduzieren, dass eine Frau fremdgeht, ihre Familie verlässt und damit sich und einige andere Beteiligte in großes Unglück stürzt. Über die ganze epische Breite betrachtet, ist es die Geschichte dreier russischer Familien von unterschiedlichem Stand, vor dem Hintergrund des feudalen zaristischen Russland der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die scheiternde Beziehung der Karenins auf der einen und die hinlänglich gelungene Ehe Kittys mit Lewin auf der anderen Seite, bilden die wichtigsten gegensätzlichen Handlungspole.

Eines der zentralen Themen des Romans ist die Rolle der Frau in einer hierarchisch und patriarchalisch strukturierten Gesellschaft. Die Verankerung der Menschen in Glauben und Kirche festigte die Verhältnisse. Gleichzeitig machten sich jedoch immer stärkere Veränderungen der Moralvorstellungen bemerkbar. Zudem sorgte die innovative wirtschaftliche und technologische Dynamik für Umwälzungen, denen die Menschen zunächst nicht gewachsen waren. Daraus resultierende politische, soziale und religiöse Konflikte sorgen im Buch für Spannung erzeugende unterschiedliche Einstellungen und Lebensentwürfe der Protagonisten. Große Romane, wie Flauberts „Madame Bovery“ und Fontanes „Effi Briest“, die aus dem gleichen Zeitraum stammen, setzen sich ebenfalls mit solchen Grundfragen auseinander.

Höhepunkte und Schwierigkeiten

Ein Höhepunkt ist gleich der erste, berühmt gewordene und oft zitierte Satz: „Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich.“  Danach jede der über 1200 Seiten. Dieser heute allgemein bekannte Anfang wurde übrigens erst später vorangestellt. Der erste Satz den Tolstoi in der handschriftlichen Erstfassung niederschrieb, hieß: “Im Hause der Oblonskis herrschte große Verwirrung.” Schwierigkeiten bereiten – wie häufig in russischen Werken – die Vielzahl handelnder Personen, sowie die russischen Personen- und Familiennamen. Es ist außerdem nicht einfach den Überblick über die verzweigten Verwandtschafts, Dienst- und Freundschafts-Verhältnisse zu behalten.

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Tolstoi, Lew: Anna Karenina. Übersetzt und kommentiert von Rosemarie Tietze. – Hanser, 2009. Euro 39,90

Im Mai erscheint eine Taschenbuch-Ausgabe bei dtv (Euro 16,90)