Zurück in die Zukunft – Goethe meets Eckermann im Chat-Room

Die Deutsche Initiative Netzwerkinformation – kurz DINI – ist einer breiteren Öffentlichkeit bisher eher wenig bekannt. Das könnte sich für diese Arbeitsgemeinschaft der Medienzentren an Hochschulen e. V. (AM), der Sektion für Wissenschaftliche Universalbibliotheken im Deutschen Bibliotheksverband und den Zentren für Kommunikation und Informationsverarbeitung in Lehre und Forschung e. V. (ZKI) bald ändern. Schwerpunkte ihrer Tätigkeit sind die Förderung elektronischen Publizierens, die Entwicklung von Lernsoftware und die Förderung von Medienkompetenz an Hochschulen.

DINI hat einen spannenden Ideen-Wettbewerb ausgeschrieben. Unter dem Motto “Studentische Netzwerke: kreativ – mobil – kooperativ” werden originelle und zukunftsfähige internet-basierte Aktivitäten, Projekte, sowie Konzepte zur sozialen Vernetzung und Zusammenarbeit gesucht. Gedacht wird dabei z. B. an gemeinsames Lernen durch kreative Nutzung mobiler Endgeräte, Social Networking innerhalb eines Fachgebietes oder zu bestimmten Themen, oder neue Ansätze für den Einsatz von Netztechnologien. Eine bestimmte Richtung wird nicht vorgegeben, Fantasie und kreativen Denken keine Grenzen gesetzt.

Originell ist die zentrale Werbeaussage, mit der dieser Wettbewerb an den Hochschulen und über die Medien bekannt gemacht wird. Auf einem großformatigen Plakat sehen wir da Alexander von Humboldt, der auf seinem Laptop Tischbeins Goethe-Bildnis betrachtet und lesen den Spruch: “Humboldt und Goethe wären heute Blogger.” Witzig und graphisch gut umgesetzt. Vielleicht würde die Aussage sogar zutreffen, könnten die beiden Geistesgrößen via Zeitreise zu unseren Zeitgenossen werden. Doch wie sähe es aus, wenn wir uns die Sache einmal umgekehrt vorstellen? Setzen wir einmal voraus, Goethe und Humboldt hätte bereits zu Ihrer Zeit die heutige Informationstechnologie in all ihren Facetten zur Verfügung gestanden.

“Alles, was an und in mir ist, werde ich mit Freuden mitteilen.” So schrieb Johann Wolfgang Goethe am 27. August 1794 an Friedrich Schiller. Eine Aussage, die nahelegen könnte, dass der Dichter heute durchaus ein häufiger Nutzer sozialer Netzwerke oder diverser elektronischer Verständigungssyssteme wäre. Aktuell geht die Forschung davon aus, dass Goethe etwas 20.000 Briefe geschrieben oder erhalten hat, etwa 15.000 sind erhalten, um die 12.000 veröffentlicht.

Bis heute haben wir damit historische Quellen von unschätzbarem Wert zur Verfügung. Sie lassen nicht nur das Leben und Schaffen des Dichters, Staatsmannes, Naturforschers, Theaterleiters, Bücher- und Kunstsammlers lebendig werden, sondern geben auch Auskunft über den Literatur- und Kunstbetrieb, über Politik, Ökonomie, Handwerk, Fabrikwesen, Verkehr und über die Geistes- und Naturwissenschaften eines ganzen Zeitalters.

„Über allen Gipfeln / Ist Ruh, / In allen Wipfeln / Spürest du / Kaum einen Hauch; / Die Vögelein schweigen im Walde / Warte nur, balde / Ruhest du auch.”

Dieses Gedicht, das ursprünglich einen anderen Titel trug, wurde allgemein als “Wandrers Nachtlied” bekannt. Nehmen wir für einen Augenblick an: Goethe schrieb die berühmten, unvergänglichen Zeilen am Abend eines schönen September-Tages in einer Jagdhütte hoch über dem thüringischen Städtchen Ilmenau in seinen Blog “Gedichte*Orte*Spuren”. Gleichzeitig schrieb er sie mit Bleistift an die Holzwand des Waldhäuschens. Tatsache ist: Dem frühen Graffiti verdanken wir die Überlieferung der einfachen, genialen Verse; es wurde zur Vorlage für mündliche Weitergabe und schriftliche Aufzeichnung. Die Vermutung liegt nahe: Das Blog wäre heute nicht mehr nachweisbar.

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„Alexander von Humboldt ist diesen Morgen für einige Stunden bei mir gewesen. Was ist das für ein Mann! Ich kenne ihn so lange und bin doch von neuem über ihn in Erstaunen. Man kann sagen, er hat an Kenntnissen und lebendigem Wissen nicht seinesgleichen. Und eine Vielseitigkeit, wie sie mir gleichfalls noch nicht vorgekommen ist! Wohin man rührt, er ist überall zu Hause und überschüttet uns mit geistigen Schätzen. Er gleicht einem Brunnen mit vielen Röhren, wo man überall nur Gefäße unterzuhalten braucht und wo es immer erquicklich und unerschöpflich entgegenströmt“.

So sprach einst unser Weimarer Dichterfürst hochachtungsvoll zum treuen Eckermann, der eifrig mitschrieb – wir atmen auf, dass der Austausch nicht mit Hilfe eines chat tools stattfand – , auf dass wir noch heute in den Gesammelten Werken des Dichters davon erfahren.

Auch an Humboldts Erfahrungen, Forschungen, Erkundungen können wir nach wie vor teilhaben. Viele Erkenntnisse und Ergebnisse gegenwärtiger Wissenschaft haben ihr Fundament in den Humboldtschen Vorarbeiten. Die “Ansichten der Natur” erschienen 1808 bei Cotta, sein “Kosmos – Entwurf einer physischen Weltbeschreibung” in den Jahren 1838 bis 1848 bei Perthes in Gotha. Auch von Alexander von Humboldt liegt eine äußerst umfangreiche Sammlung von Briefen vor, die bis heute vielfach editiert und ausgewertet wurde.

Einer der bekanntesten und erfolgreichsten deutschen Romane der letzten Jahrzehnte wäre ohne diese Dokumente und Publikationen nicht entstanden. In “Die Vermessung der Welt” gelingt dem Jungautor Daniel Kehlmann ein einzigartiges Doppelportrait der eigenwilligen Gelehrten Friedrich Wilhelm Gauß und Alexander von Humboldt. Das Buch hat seinen Höhepunkt in einer recht skurrilen Begegnung der beiden, zum Zeitpunkt der fiktiven Szene, schon älteren Männer. Es ist ausgesprochen lesbar und lesenswert, millionenfach verkauft und in viele Sprachen übersetzt.
Man ahnt was nun kommen muss: Und hätte Humboldt von seinen zahlreichen Reisen und Expeditionen gebloggt, getwittert, gemailt oder gechattet…

„In der Nacht schrieb Humboldt, zum Schutz gegen das Schneetreiben zusammengekauert unter einer Decke, zwei Dutzend Briefe, in denen er Europa die Mitteilung machte, daß von allen Sterblichen er am höchsten gelangt sei. Sorgfältig versiegelte er jeden einzelnen. Dann erst schwanden ihm die Sinne.“

(Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt. – Reinbek bei Hamburg, 2005)

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In einem Aufsatz mit dem Titel “Das Buch. Nährstoff des Geistes, politische Waffe und Lebensbegleiter” (Volltext, 5.2010, S. 40 ff.) weißt die Konstanzer Literaturwissenschaftlerin Aleida Assmann darauf hin, dass es sich bei Bücherverbrennungen stets um ein Ritual der Demütigung und den Versuch der Vernichtung des Autors handelte. Als Zensurmaßnahmen waren sie nie effizient, denn irgendwo war immer noch ein Exemplar existent. Dieses hochmütige Medium war durch den Kleingeist nicht ausrottbar, denn “die Dauerhaftigkeit gedruckter Bücher geht im Druckzeitalter nicht auf das haltbare Material zurück … sondern auf ihre Vervielfältigung.” Das Buch hat schließlich 4.500 Jahre technische Evolution hinter sich und Inhalte transportiert die Nachdruck und Eindruck hinterliesen und bis heute Respekt verlangen.

Reden wir von Bloggs, Mails und Social Web, so zweifeln wir nicht nur sofort an der Langlebigkeit des technischen Mediums, sondern häufig auch an Nach- und Sinnhaltigkeit, sowie dem Niveau der transportierten Inhalte. Obwohl immer öfter gar nicht zutreffend, entstehen Unterstellung und Vorurteil über alles dort Veröffentlichte fast ohne kritische Differenzierung, während dem Buch und anderem Gedruckten oft Bedeutung und hehres Maß unterstellt wird. Das dies nicht immer und ausschließlich berechtigt ist, muss nicht betont werden. Doch analoge Medien haben sich so etwas wie eine historische und allgemein anerkannte Wertschätzung und Hochachtung erworben.

Auf jeden Fall ist sicher, dass wir bei elektronischen Medien vor der grundsätzlichen Frage stehen, was von ihnen nach Jahren und Jahrzehnten, nach mehreren Generationen von Hard- und Software, unterschiedlichen und wechselnden Standards, angesichts flottem Gehandel und Geschacher der Content-Anbieter, bleiben wird. Was wird damit in Zukunft Historikern und Verlegern, Schriftstellern und Naturforschern an Quellenmaterial zur Verfügung stehen?

Und damit sind wir wieder bei DINI, und deshalb ist der initiierte Wettbewerb eine gute Sache. Wie selten zuvor wird es immer wichtiger, Kreativität, Originalität, jugendlichen Sturm und Drang, dabei auch Überschwang duldend, anzustoßen, zu mobilisieren, dem Nachwuchs Anreize zu bieten aktiv zu werden. Vielleicht erkennen Bibliothekar, Verleger und Informationswissenschaftler späterer Generationen beim Blick in eine ferne Vergangenheit, die wir heute Gegenwart nennen, dass aus diesem Wettbewerb die ultimative Speicher-Idee, der dringend benötigte dauerhaftige Ideen-Speicher hervorging. Ob Papier oder digital: Information wird Wissen wird Bildung wird Zukunft. Da darf einfach nichts mehr verlorengehen.