So! Rum. Frankfurter Buchmesse MMX

Mittwoch und folgende

Am liebsten würde ich alle analogen und digitalen Empfangsgeräte ausschalten, alle gedruckten Massenmedien in dafür geeignete Container entsorgen, wegschauen, abtauchen, nur noch mit Lieblingsbüchern dauerschmökern, auswandern nach Polylesien, Tau und Tee trinken, Tag und Nacht von Zetteln träumen, das Westallgäu von Nord nach Süd durchwandern, in mein Tagebuch fallen, unsichtbar bleiben. Doch wenn ich geh’, geht nur ein Teil von mir und der and’re schaut zu dir.

Alle reden von Argentinien. Doch ich sehe, höre und lese nur Schweiz. Melinda Nadj Abonji gewann – Sarrazin sei dank! – mit „Tauben fliegen auf“ den diesjährigen deutschen Buchpreis. Das Schicksal einer ungarischen Familie, die aus Serbien in die Schweiz auswandern muss und deren Geschichte nun in Frankfurt und anderswo die Runde macht. Lieblich, ohne nachhaltigen Abgang. Wir sind Europa.

Dorothee Elmiger bekam neulich den Aspekte Literaturpreis des ZDF für „Einladung an die Waghalsigen“. Ich hab’s gelesen – es ist nicht viel und auch nicht lang – aber großartig und ganz eigen. Mit Mut, Phantasie und Sprachvermögen. Nicht dieses weit verbreitete Schreiben, das eine tragische Biographie erzwingt. Wenn sie das Niveau irgendwann bestätigt, können wir eine neue großartige Stimme begrüßen. Dorothee Elmiger stammt aus Wetzikon im Bezirk Hinwil und lebt jetzt – dreimal raten überflüssig – in Berlin.

Schluss mit Schweiz? Nein, einen hab’ ich noch. Beim 44. Literarischen Wettbewerb der GAD (wer es wirklich nicht weiß: Gastronomische Akademie Deutschland) bekamen die Autoren Dominik Flammer und Fabian Scheffold die „Goldene Feder“ für „Schweizer Käse“, erschienen im AT Verlag, der im schweizerischen Aarau zu Hause ist.

Und Argentinien? Der mehrfach begabte Chansonnier Michael Ebmeyer (Mitglied der Berliner Combo „Fön“) hat schon wieder einen Roman geschrieben. „Landungen“ spielt zu großen Teilen in Argentinien. Erschienen ist diese lesenswerte Zeit- und Familiengeschichte natürlich bei Kein und Aber. Ja, genau: Zürich!

Die armen Grimms. Sie kennen doch die Grimms?! Jacob und Wilhelm, die Wörter- und Märchensammler und großen Gelehrten. Früher Göttingen, später Berlin. Wie geschieht heutzutage ihren Gestalten und Geschichten, den altdeutschen Mythen, den volkstümlich romantischen Figuren? In Reckless, dem neuesten Buch der nach Amerika ausgewanderten, aber immer noch deutschsprachigen Erfolgsautorin Cornelia Funke, werden sie Opfer profitabler Umdeutung.

Birgit Dankert, längst im tätigen Ruhestand, einstmals eine meiner Lieblings-Professorinnen am Hamburger Fachbereich, erläuterte letzte Woche in der ZEIT „Warum das neue Buch von Cornelia Funke ein einziges Ärgernis ist.“

„Cornelia Funke operiert zum Teil recht erfolgreich mit der Ausstattung der Grimmschen Märchenwelt … Aber viele der Wesen, die wir aus den alten Märchen kennen, werden in Reckless einfach nur benutzt und ausgebeutet … Die ständige Aufgeregtheit, die Tücke, die Kleptomanie all der Wassergeister, Stilze, Einhörner und Wölfe, die das Buch übervölkern, schaffen immer nur kurzfristig Spannung … Sehr bedenklich ist auch das Frauenbild, das Reckless zeichnet: Reiz und Kraft der weiblichen Figuren liegen fast ausschließlich in ihren sexuellen Vorzügen. Das beliebte Klischee der gefährlichen Frau nimmt breiten Raum ein.“

Frau Dankert kritisiert den Etikettenschwindel, wenn uns weiß gemacht werden soll, es handelt sich um ein „harmloses Kinder- und Jugendbuch für jedes Lesealter.“ Ihr Fazit: „Wirklichkeit zu erkennen, zu deuten, zu bewältigen und zu überspringen – dazu taugen Märchen. Reckless gelingt das nicht. Seine Welt ist synthetisch und kommt im Leben nicht an.“ Aber alsbald als Kassenschlager in die Kinos – möchte man ergänzen, FSK ab 6 und im Sessel Mutter und Vater mit Drei- und Vierjährigen. Heute müssen Eltern ihre Kinder nicht mehr im Wald aussetzen. Es gibt subtilere Möglichkeiten der Vernachlässigung.

Falten Zitronenfalter Zitronen? Enthält Hundekuchen…? Hat die Frankfurter Buchmesse irgendwie mit Literatur zu tun? Mit Büchern schon. Bücher von Autoren die komplexe Begriffe wie (völlig willkürliches Beispiel!) „hummeldumm“ auf so und so viel Seiten exemplarisch, praktisch, lebensnah und banal glauben erläutern zu müssen. Oder Werke von Jung-, Neu- oder Eigentlichnicht-Autoren, die sich vor völlig natürlichen und weit verbreiteten Naturereignissen wie Vaterwerden und Kinderhaben ins Bücherschreiben flüchten.

Und mit E-Books hat sie zu tun. Nun schon im dritten Jahr nacheinander – in Frankfurt und in Leipzig – sind diese unheimlich im Kommen, werden zum unverzichtbaren Lifestyle-Produkt hochgepredigt. Und alle medialen Kanäle stimmen ein. Das Angebot an Hardware ist vielfältig. Was hätten’s denn gerne? Das anglophile Kindle oder den geschmeidigen Sony Reader, Bookeen Cybook Opus, Foxit eSlick oder Ectaco jetBook-Lite? Den PRS-600 Touch black, das Cybook Gen3 Gold Edition oder doch lieber das äußerst günstige Weltbild-Modell? Es gibt auch tatsächlich schon das eine oder andere Buch zum Draufladen und Runterlesen. Aber nicht für alle die gleichen. Das gilt auch für die Formate und Ausstattungsmerkmale. Unter Strom sollte es natürlich schon stehen – Stichwort: Akku-Laufzeit. Flatrate demnächst. Tolstoj und Fontane gratis dazu.

Von Bibliotheken ist und war in Frankfurt allenfalls am Rande die Rede. Die lassen sich nicht handeln und ihre Dividenden sind nicht pekuniär. Das soll sich jetzt ändern, war zu hören. Und wie Vieles kommt auch diese Idee wohl bald über den großen Teich zu uns. Unser aller Terminator und Ex-Ösi Arni gehört zu den Pionieren die hier mutig Neues wagen. In den USA werden neuerdings kommunale Bibliotheken an private Anbieter übergeben. LSSI (Library Systems and Services) ist eine der Firmen, die dieses Geschäftsfeld erschließen. Ich zitiere aus der FAZ vom 30. September: „Das Unternehmen betreibt bereits 14 Stadtbüchereien mit 63 Zweigstellen, die meisten davon im krisengeschüttelten Bundesstaat Kalifornien, wo Gouverneur Arnold Schwarzenegger gegen die chronische Finanznot kämpft … Jüngst hat es (LSSI) den Auftrag bekommen, drei Büchereien in Santa Clarita (Los Angeles County, 170.000 Einwohner) zu managen. Dort will LSSI-Vorstandchef Frank Pezzanite rund eine Million Dollar jährlich einsparen.“

Über die Buchmesse wird viel gesendet und geschrieben. Lesen Sie einfach was Sie wollen oder lassen Sie es bleiben. Nicht versäumen sollten Sie allerdings den Buchmesse-Blog von Andrea Diener auf faz.net. Das ist auch Tage und Wochen danach noch lesens- und – wegen der photographischen Fähigkeiten der Autorin – auch sehenswert. Sehr interessant und auf bestem Niveau sind zudem zahlreiche Kommentare, die den Berichten jeweils prompt folgen. Allerbeste Diskussionskultur, wie man sie im web nur selten findet.

Sonntag-Abend

Der Kaffee wird kalt. Auf meinem Schreibtisch liegt ein knittriger Gutschein für das „Café der Verlage“, zu finden auf der Frankfurter Buchmesse in Halle 3.1, zwischen Gang L und M. Dafür hätte ich wahlweise einen Espresso oder einen Café Latte bekommen. Eigentlich schade, wenn man die Verpflegungspreise auf der Frankfurter Messe kennt. Aber zu verkraften. Dafür gönne ich mir, wenn ich hiermit fertig bin, einen kräftigen Schluck argentinischen Roten und ein großes Stück reifen Emmentaler.

Deutschland – Argentinien und zurück

„Landungen“ von Michael Ebmeyer

Mit seinem neuesten Buch gelingt Michael Ebmeyer eine breit angelegte Familiensaga, verbunden mit der Darstellung kulturgeschichtlicher Aspekte der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte und ein origineller Argentinien-Roman. Ist es Zufall oder kluge verlegerische Planung, dass dieses Werk in einem Herbst auf den Markt kommt, in dem Argentinien auf der Frankfurter Messe als Gastland begrüßt wird? Eine nicht geringe Aufmerksamkeit scheint damit schon einmal sicher. Und die möchte man der sehr gelungenen, vielschichtigen und dennoch leicht lesbaren Neuerscheinung gerne wünschen.

Die Geschichte beginnt 1869 in Bremerhaven, als die hübsche, ledige Friederike Soltau mit einem Auswandererschiff nach Argentinien aufbricht. Sie soll ihre Brüder unterstützen, die in der Pampa Land erworben haben und hier, mit gesundheitlichen Erwartungen und Hoffnungen verbunden, einen Neuanfang wagen. Leben und Überleben gelingen den Geschwistern nur ansatzweise. Die wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingen sind hart.

Frederike ist eine sehr sensible junge Frau die etwas seltsam auf ihre Mitmenschen wirkt. Aus heutiger Sicht würden wir sie wahrscheinlich als psychisch krank einstufen. Doch sie findet als einzige der drei Geschwister in der neuen Welt eine positive Perspektive, ist anpassungsbereit, nimmt ihr Leben schließlich selbst in die Hand und entzieht sich zunehmend der Familie.

Hundert Jahre später wagt der Nachkomme Udo Soltau in Deutschland nach einer gescheiterten Ehe einen Neuanfang mit der viel jüngeren Sigrid und will – um Scheidung und berufliche Selbständigkeit zu finanzieren – den alten Familienbesitz in Übersee verkaufen.

Den eigentlichen Mittelpunkt der Erzählung bildet schließlich Marco, der 1968 auf der südamerikanischen Hacienda gezeugte Sohn von Sigrid und Udo. Auch ihn lässt die argentinische Vergangenheit der Familie nicht los, obwohl er anfangs alles versucht um sie von sich fern zu halten. Es ist schließlich eine Angelegenheit der Eltern, von denen sich der sehr empfindsame und unschlüssige Student nicht nur geographisch abgesetzt hat.

Marco lebt und studiert in Tübingen, „der Hauptstadt der Labilität“. Es geht ihm nicht gut dort, das Neckartal wird ihm zum Jammertal. Als dem Beginn einer zarten neuen Liebe ein psychischer Zusammenbruch folgt, findet er doch noch zu den argentinischen Wurzeln seiner Familie und auf den Spuren seiner Vorfahren neue Wege und Möglichkeiten für sich und die zauberhafte Tari. Bei einem überwachsenen Grabstein, inmitten der grünen Pampa und unter dem Diktat der Zahl 24 schließt sich der Kreis.

Wir kennen das Prinzip schon aus Ebmeyers letztem Buch „Der Neuling“: Man muss weit weg, um zu sich selbst zu finden. Am besten gleich ans andere Ende der Welt. Schamanenhafte Heilkunst – hier die charismatische „hechicera“ Amalia – begegnet uns in „Landungen“ ebenso wieder, wie das nachdrücklich prägende musikalische Erlebnis. Diesmal in Gestalt des legendären argentinischen Volkssängers, dem, viel zu früh durch das Pferd zu Tode gekommenen, legendären Jorge Cafrune.

Neben den eindrucksvollen, sehr kundigen Argentinien-Passagen, durchlebt der Leser mit den Hauptfiguren der beiden jüngeren Generationen auch wesentliche Epochen unserer Republik nach dem Zweiten Weltkrieg. Wie sehr sich Land, Kultur, Alltag und Moralvorstellungen der Menschen in diesen Jahrzehnten verändert haben, macht der Autor exemplarisch am Grad sexueller Hemmung, bzw. Enthemmung deutlich. Ebmeyer erzählt, spannungsfördernd die Zeitebenen wechselnd, eher konventionell, fast unmodern. Der Wortschatz wird dabei um viele aus fremder Welt und Sprache stammenden Begriffe erweitert und bereichert.

Autor und Verlag haben über das gedruckte Buch hinaus, weiterführende Pfade in virtuelle Welten angelegt. Die Homepage des Buches und die Residenz des Autors im Netz sind so zu erreichen.

Frederike, Udo und Marco gibt es ansatzweise auch auf Facebook. Dort soll man ihnen näher kommen können. Nicht auszuschließen, dass so etwas gelingt, denn auf Facebook ist viel möglich, man kann dort sogar mit einem blauen Sofa in Verbindung treten.

Es ist allerdings auch kein Fehler, auf solche Ausflüge ins social web zu verzichten und sich ganz auf den alten Reiz des epischen Erzählens zu verlassen. Bei den Büchern von Michael Ebmeyer lohnt das allemal; er schreibt hintergründig unterhaltsam auf bestem Niveau und man wundert sich eigentlich nur, warum seine Bücher nicht längst populärer sind.

Ebmeyer, Michael: Landungen. – Kein & Aber, 2010. Euro 19,90