Buch Wien 2019

Was war und was nicht.

Zuverlässig. Pünktlich. Preisgünstig und fast rund um die Uhr bringen Busse, U-Bahn und Straßenbahnen (Wiener Straßenbahn: 306 Millionen Fahrgäste / 2016, Gleislänge 432 km) der Wiener Linien Tag für Tag tausende Menschen von hier nach dort in dieser faszinierenden Stadt. Von Theater zu Theater. Von Kaffeehaus zu Kaffeehaus. Ins Belvedere, nach Schönbrunn, spät des Abends vom Beisl sicher nach Hause. Oder an die Messehalle D. Zur Buch Wien.

Buch Wien? So nennt sich seit nunmehr 11 Jahren eine Messe, die mit ihrem Namen regionale Begrenzung andeutet und sich gleichzeitig zunehmend zur österreichischen Buchmesse mit Alleinstellungsmerkmal entwickelt. Vielleicht gelingt es dem Format, den bundesdeutschen Vorbildern Leipzig und Frankfurt in den kommenden Jahren in Sachen Größe, Zuspruch und Debattentauglichkeit ein Stück näher zu rücken.

Was fehlte (1). Auf der abendlichen Eröffnungsveranstaltung wurden die angekündigten Michael Köhlmeier und Tobias Moretti vermisst. Sie fehlten krankheitsbedingt. G’rad schad’ war’s. Die entstandenen Lücken boten der sehr animierten und redseligen Vea Kaiser umso mehr Raum und Zeit sich den Gästen als unterhaltsame Plaudertasche und Vollbluterzählerin zu präsentieren. Gerüchte, die Kaiser gäbe nächstens in Salzburg die neue Buhlschaft an der Seite Morettis, erwiesen sich als aus der Luft gegriffen. Es wird die wunderbare Caroline Peters, längst eine der beliebtesten Darstellerinnen am Burgtheater.

Verlage (1). Große und kleine. Erfolgreiche und aufstrebende. Seltsame und weitgereiste aus dem Morgenland. Für so wenige ist Platz in einem kleinen Literaturblog. Es bleibt bei exemplarischen Erwähnungen. Als da wären die Macher von Text/Rahmen. Dominik Uhl und Michael Marlovics haben beide sehr sinnerfüllende Hauptberufe, dennoch sind sie alles andere als Amateure (Roman von Kinga Litkey, erschienen bei Text/Rahmen) im Verlagsmetier. 

Engagement, Herzblut und ein Stück Selbstausbeutung sorgen für das spannende, beachtlich umfangreiche Programm. Autoren und Autorinnen bekommen bei ihnen die meist erste Möglichkeit, mit einem Roman, einer Erzählung die literarische Bühne zu betreten. Ich mag, wie du denkst (Erzählung von Thorsten Pütz bei Text/Rahmen), Ja, und ich mag was sie machen und wie sie es machen. Es gibt natürlich auch Krimis. Und einen erstaunlichen, originellen Bildband von Alex Dietrich mit dem Titel Da letzte Schmäh. Eine visuelle Konfrontation mit den Nicht-Orten Wiens und gleichzeitig heimliche Liebeserklärung an diese Stadt.

Preiswürdig (1). Norbert Gstrein bekam für seinen neuesten Roman Als ich jung war, den österreichischen Buchpreis. (Auch er fehlte auf der Messe krankheitsbedingt.) Der Debütpreis ging – und zu dieser Wahl kann man nur herzhaft applaudieren – an Angela Lehner für Vater unser. Mit dem Titel stand sie bereits auf der Longlist für den deutschen Buchpreis. Die in Berlin lebende Autorin stellte das Buch mit sichtlichem Vergnügen und unverkennbar osttiroler Akzent vor und erzählte anekdotenreich vom mühsamen Werden desselben. Dazu gehörten unter anderem umfangreiche Recherchen im Otto-Wagner-Spital, einer psychiatrischen und sozialmedizinischen Klinik, die durch Thomas Bernhard als Baumgartner Höhe (s. Wittgensteins Neffe) literarisch verwertet wurde. Hier wird die Protagonistin von Lehners Roman eingeliefert, deren Geschichte wir alsdann erfahren. Humorvoll, manchmal tragisch, immer gekonnt erzählt.

Aufgeschnappt (1). Romane sind eine Zeitverschwendung der Leser. Davor verschont uns die bulgarische Dichterin und Bibliothekarin Yordanka Beleva. Sie selbst belässt es bei kurzen Formen, Lyrik und kleinen Erzählungen. Würden alle so schreiben und publizieren, kämen Buchmessen mit deutlich weniger Platz aus. Mir würde allerdings sehr viel fehlen.

Verlage (2). Kaum hatte man die Messehalle betreten, stand man schon vor einem gigantischen Stapel Handke-Bücher. Er hat viel geschrieben, von ihm wurde und wird viel verlegt, über ihn wird reichlich diskutiert, er ist der Literatur-Nobelpreisträger des Jahres 2019, vor Ort war er nicht. Olga Tokarczuk ist die Literatur-Nobelpreisträgerin des Jahres 2018. (Die Ehrung widerfuhr ihr erst in diesem Jahr, gleichzeitig mit Handke, da die Nobelkommission vorübergehend außer Diensten gewesen war.) Ihre Bücher führten am Schweizer Gemeinschaftsstand ein Nischendasein. Die deutschen Übersetzungen werden inzwischen komplett von Kampa verlegt. Bis Ende November soll ihr Werk nahezu vollständig in Neuauflagen vorliegen. Angeboten wurde bereits Die Jakobsbücher, jenes umfangreiche, vielschichtige Werk, für das sie von den Stockholmern ausgezeichnet wurde. (Kampa hat übrigens den derzeit wieder sehr angesagten Simenon im Portfolio.)

Was fehlte (2). Fehlen wird, und das wohl für immer, eine deutsche Übersetzung von Olga Tokarczuk allererstem Roman Podróż ludzi księgi (auf deutsch etwa: Reise der Buchmenschen). Wie bei Kampa zu erfahren war, hat sich die Autorin inzwischen von dem Werk distanziert und lässt eine Übersetzung und das Erscheinen in deutscher Sprache nicht zu. Schade, natürlich wäre nicht nur ich jetzt erst recht gespannt auf diesen Erstling. Es gab ein wenig Hinundher, ob denn bereits einmal eine deutsche Ausgabe dieser Buchmenschen erschienen sei. Alle Recherchen ergaben, dass dem wohl nicht so ist. Auf con=libri gibt es einen Beitrag über Tokarczuks Ur und andere Zeiten

Aufgeschnappt (2). Kinder wollen nichts Postmodernes – sie wollen einfach eine Geschichte. Da kann man Iva Procházková nur zustimmen. Die Tschechin lebt in Wien und ist eine renommierte Kinderbuchautorin. (Die tschechische Kinderliteratur ist ja bekanntlich sehr vielfältig und hochwertig, nicht umsonst werden die Bücher häufig übersetzt.) Letztes Jahr erschien ein erster Kriminalroman von ihr: Der Mann am Grund: Der erste Fall von Kommissar Holina.

Verlage (3). Danube books aus Ulm kümmert sich schwerpunktmäßig um den Donauraum und Südosteuropa. Verleger Thomas Zehender ist ausgezeichnet vernetzt. Dank langjährig gepflegter Beziehungen zu kulturellen Institutionen und Persönlichkeiten aus den entsprechenden Ländern ist ein Programm entstanden, das aus Titeln zu aktuellen politischen Themen, anspruchsvoller Lyrik und erzählender Literatur besteht. Der Verlag möchte nationale Grenzen überwinden und die kulturelle Vielfalt der Donauregion fördern.

Mich hat der bescheidene Auftritt der 81-jährigen Kristiane Kondrat beeindruckt. Danube books hat ihren Roman Abstufung dreier Nuancen von Grau neu aufgelegt. Sie entstammt einer deutschen Familie in Rumänien und wurde als Aloisia Bohn in Reschitz (Banat) geboren. Sie studierte Germanistik und Rumänistik und schrieb zunächst für die Schublade, da eine Veröffentlichung ihrer Arbeiten unter den herrschenden Regimen nicht möglich war. Das Schreiben war für sie Flucht vor der Indoktrination, der Gehirnwäsche durch die offizielle Propaganda. Seit 1973 lebt die Autorin in Deutschland. Vor der Ausreise aus Rumänien wurde sie genötigt zu erklären, dass sie weder mündlich noch schriftlich etwas sagen oder veröffentlichen würde, das der Sozialistischen Republik Rumänien Schaden könnte. Deshalb veröffentlichte sie unter dem Pseudonym Kristiane Kondrat.

In ihrem Roman erzählt sie von einer jungen Frau auf der Flucht, die sich verfolgt und in die Enge getrieben fühlt. Überall stößt sie auf Menschen, die sie scheinbar bedrohen und ihr Angst machen. Doch allmählich kann sie dieser Angst Grenzen setzen und sich letztlich sogar davon befreien. Diese Geschichte einer Traumatisierung und ihrer Überwindung erzählt die Autorin vor dem Hintergrund eigener Lebenserfahrung. Kondrat gelingen kraftvolle Bilder, ihre genauen Beobachtungen gibt sie in poetischer Form wieder. Es ist die Sprache einer reifen Schriftstellerin, der man wünscht, dass sie noch etwas breiter wahrgenommen wird.

Exkurs. Vor undoder nach den Messebesuchen ins Kaffeehaus. Das Café Weimar ist in der Währinger Straße, vom Schottentor kommend, am Sigmund-Freud-Park vorbei, kurz vor der Volksoper in einem Eckhaus. Hier wurde die Urkunde der UNESCO überreicht, die die Wiener Kaffeehauskultur zum immateriellen Weltkulturerbe erklärte. Unverzichtbar – zumindest für mich – bei einem Wienbesuch die Einkehr im beliebten Sperl, und sei es nur wegen der gerösteten Knödel mit leckerem Salätchen. Und natürlich nicht zu vergessen das einmalige Phil. Zum zweiten Frühstück inmitten von Büchern. Hier ist immer wieder eine Entdeckung zu machen, die man anderswo nicht findet. Und dann ist da ja noch das unverwechselbare Publikum. Lehrende und Lernende, Lesende und Schreibende und allerhand anderes kreatives Volk.

Preiswürdig (2). Der Leo-Perutz-Preis für Kriminalliteratur wird von der Stadt Wien und dem Hauptverband des Österreichischen Buchhandels vergeben. Bereits zum zweiten Mal wurde Alex Beer damit ausgezeichnet. Die studierte Archäologin schreibt akribisch recherchierte historische Romane in Form von Krimis. Im Frühjahr erschien der dritte Band rund um den Ermittler August Emmerich. Wie die Vorgänger Der zweite Reiter und Die rote Frau hat Der dunkle Bote das notleidende Wien der Jahre nach dem Ersten Weltkrieg zur Kulisse. Breite Bevölkerungsschichten sind von Armut, Arbeitslosigkeit und fehlenden Perspektiven betroffen. Das ist oft düster, sehr authentisch und ausgesprochen spannend.

Alex Beer auf der Buch Wien 2019

Aufgeschnappt (3). Wir erinnern uns immer so, wie wir es gerade noch ertragen können. Sagte Nora Bossong, die mit ihrem aktuellen Roman Schutzzone auf der Buch Wien 2019 vertreten war. In Schutzzone stehen private Schicksale für eine kritische Auseinandersetzung mit der Rolle der Vereinten Nationen in Krisen- und Kriegsregionen.

Was nicht fehlte. Was wäre eine Buchmesse ohne all den unverzichtbaren Tand und Trödel den man handelstechnisch unter dem Begriff Nonbook zusammenfasst. Also all jene Produkte, für die man nicht notwendigerweise lesen können muss. Sternenstanzer und Stiftespitzer, Pesto und Kürbiskerne, Malbücher, Puzzles und Mottoshirts, Schmink- und Bastelsets, Paprikapulver und Malkreide. Und vieles mehr!

Was fehlte (3). Petra Hartlieb. Tausendsassa und Allgegenwärtigkeit der Branchenszene. Sie hatte sich eine Auszeit genommen und eine Kur gegönnt.

***

Lehner, Angela: Vater unser. Roman. – Hanser, 2019

Tokarczuk, Olga: Die Jakobsbücher oder eine große Reise über sieben Grenzen, durch fünf Sprachen und drei große Religionen, die kleinen nicht mitgerechnet. – Kampa, 2019

Tokarczuk, Olga: Ur und andere Zeiten. Roman. – Neuaufl. Kampa, 2019. s. con=libri

Procházková, Iva: Der Mann am Grund. Der erste Fall von Kommissar Holina. – Braumüller, 2018

Kondrat, Kristiane: Abstufung dreier Nuancen von Grau. Roman mit einem Vorwort von Christina Rossi. – Neuaufl. danube books, 2019

Beer, Alex: Der dunkle Bote. Ein Fall für August Emmerich. Kriminalroman. – Limes, 2019

Bossong, Nora: Schutzzone. Roman. – Suhrkamp, 2019

Links zu den Verlagen:

Text/Rahmen

Kampa

danube books

 

Sudeleien. Anfang März 2014

Frühblüher, Biller und der doppelte Leo

Einer der ersten Märztage. Frühlingsahnen in Wald, Wiese und Vorgärten. Es geht dem Abend zu. Der süddeutsche Himmel wechselt gemächlich seinen Farbton. Aus strahlendem Hell- wird tiefes Dunkelblau, wenig später Nachtschwarz. Auf der CrossOver-Welle Bayern 2 singt Carmen Consoli von „Fiori d’arancio“ (Orangenblüte). Nach einem sonnenreichen Frischlufttag im Westallgäu zurück in der kleinen Großstadt, staune ich einmal mehr über das eindrucksvolle Blätterwachstum auf dem deutschsprachigen Zeitschriftenmarkt. Während vor allem die täglich erscheinenden, gedruckten Zentralorgane unserer Presselandschaft, längst im Spätherbst ihrer Gutenberg-Existenz angekommen, dem Siechtum durch Flucht in digitale Parallelwelten zu entkommen versuchen, sprießt es heftig und bunt am guten alten Kiosk.

Geradezu inflationär sind Titel-Kreationen mit einem etwas schwammigen Begriff, der wohl irgendwelche halbgaren Sehnsüchte weckt: „Land“. Den Kombinations-Phantasien der Verlags-Kreativen sind keine Grenzen gesetzt. So entdecken wir die metaphysische „Landidee“, den ins mystische verweisenden „Landzauber“, oder bodenständigere Varianten wie „Land der Berge“ und „Land und Forst“. Zwölfmal jährlich grüßt uns „Servus in Stadt & Land“, deren aktuelle Ausgabe – ganz am Puls des Frühlings – verspricht: „Alles erwacht.“ Für den naturnahen Junkie erscheint regelmäßig die „Landapotheke“. Wer bei „Landlust“ an die flotten Mädels vom aktuellen „Bäuerinnen-Kalender“ denkt, liegt völlig falsch. Ob es Schmusekater gibt, die ihrer Heidi ein Jahresabo von „Geliebte Katze“ zum Jahrestag schenken, bleibt offen. Der Titel „Sauen“ hingegen ist deutlich genug, es sei denn schwäbisches Kundenpotential denkt dabei an forciertes Joggen.

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Katze vor Frühlingsboten

Unter den wohlgestalteten Werbeträgern besonders reichhaltig vertreten ist die mundgerechte Kategorie „Essen und Trinken“. Wer nach dem Durchblättern von „Sauen“ wissen möchte, was aus eben diesen werden kann, erfährt es zum Beispiel in „Kochen und Genießen“, „La Tavola“ oder in der schlicht deutlichen „beef!“, die mit ihren sechs Ausgaben pro Jahr Leser und Gaumen erfreuen möchte. Das fleischlose Glück versprechen „Vegetarisch Fit“ und „Kraut & Rüben“. Wenn dennoch etwas schief geht, hilft der „Naturarzt“. Auf falsche Fährte führt „Filethäkeln“. Der Titel hat absolut gar nichts mit besonders feiner Fleischzubereitung zu tun, sondern gehört aufs weite Feld der Handarbeits-Journale, deren reiche Vielfalt die große Zahl jener Zeitschriften ergänzt, die traditionsreich seit gefühlten Jahrhunderten mit anmutigen Frauennamen von Brigitte bis Verena treue Käuferinnenschichten finden.

Für die nächsten Monate ist weiterer Zuwachs in den Auslagen gut sortierter Bahnhofsbuchhandlungen und den Sortimenten breit aufgestellter Lesezirkel zu erwarten. Wie man hört stehen diese Titel unmittelbar vor der Markteinführung: „LandFlucht“, „Mark und Bein“ „Dinkel und Bohne“, „Vegan im Alter“, „Mein Fleisch & ich“. Fordern Sie heute noch Probeexemplare bei den herausgebenden Verlagen an!

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Frühlingsboten vor Hintergrund

Dem aller Unhandlichkeit zum Trotz auflagen-erfolgreichen Wochenblatt „Die Zeit“ konnte ich neulich entnehmen, dass dem notorischen Konfliktsucher und Möchtegern-Großschriftsteller Maxim Biller der deutschsprachige Schreiber-Nachwuchs zu lau ist. Weil bildungsbürgerlich mittelschichtig verweichlicht, weil mit verwechselbarem Geruch der Nachwuchsdichter-Ställe in Leipzig und Hildesheim, weil themenschwach und faden Einheitsbrei erzeugend. Dem zeternden Gelegenheits-Romancier fehlt das Migrantische, das frisch Reingeschmeckte, das radikal-würzige Junggemüse von Balkan, Balaton und Baikal.

Nur so aus dem Bauch heraus und ohne Anspruch auf Vollständigkeit habe ich daraufhin ein paar Namen aneinander gereiht:

Terézia Mora, Sasa Stanisic, Olga Grjasnowa, Ilija Trojanow, Olga Martynova, Lena Gorelik, Vladimir Vertlib, Julya Rabinowich, Catalin Dorian Florescu, Selim Özdogan, Hilal Sezgin. (Links spare ich mir. Alle hier aufgeführten sind leicht im Netz und auf den entsprechenden Buchhandels-Plattformen zu finden. Dort erfährt man Näheres über ihre Herkunft, sprachliche Sozialisation und bis heute publizierten Werke.) Dem von eigenen Zweifeln freien, nur gelegentlich von lästiger Justiz behinderten Erfolgsschriftsteller Biller schlage ich vor, mit einem Buchhändler seines Vertrauens, wahlweise einem beschlagenen Komparatisten, über diese und andere Namen ins Gespräch zu kommen. Ein Zugewinn an Erkenntnis ist ihm sicher. (1)

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Hier wirkt der LandMann. („Er setzt seine Felder und Wiesen in Stand.“)

Was, außer Bauern im Außeneinsatz, im Märzen sicher kommt, ganz gleich ob die Landschaften bereits blühen oder noch von Schnee und Eis bedeckt sein werden wie im letzten Jahr, das ist die Leipziger Buchmesse. Und damit die schönsten Frühlingsboten aus der Dichter poetischen Gärten im Wettstreit um den Preis der Leipziger Buchmesse. In der Kategorie Belletristik stehen diese Titel – und nach ersten Eindrücken meine ich: durchaus zu recht – auf der Short-List:

Sasa Stanisic, Vor dem Fest (Luchterhand): Geschichten, Mythen und Legenden aus dem Heimatarchiv eines Dorfes. Kraft- und phantasievolle Erzählung.

Per Leo, Flut und Boden (Klett-Cotta): Der Historiker Leo verarbeitet die eigene Familiengeschichte zum Roman. Licht und Schatten deutscher Vergangenheit werden dabei differenziert betrachtet.

Katja Petrowskaja, Vielleicht Esther (Suhrkamp): „Was es bedeutet, die Spuren einer verzweigten Familie zu sichern, wenn nichts sicher ist, außer dem Verschwinden, davon wird hier erzählt…“ (Verlagstext). Ein weiterer erzählender Ost-Import auf dem deutschen Buchmarkt. Bachmann-Preis 2013.

Fabian Hischmann, Am Ende schmeißen wir mit Gold (Berlin Verlag): Noch ein Debütant. Eine junge Stimme die sich an das bewährte Genre des weit ausholenden Familienromans wagt. Im Stil noch etwas unreif.

Martin Mosebach, Das Blutbuchenfest (Hanser): Es mag viele Gründe geben Mosebach nicht zu mögen, aber literarisch hat er mit diesem Buch einen Glanzpunkt gesetzt. Sein Frankfurter Gesellschaftsroman vor dem Hintergrund des Balkankrieges, ist das Werk eines reifen, erfahrenen Autors.

Bei der Online-Wahl des Publikumspreises habe ich mich für „Flut und Boden“ von Per Leo (2) entschieden. Natürlich aus Interesse am Thema und nach den Eindrücken einer Leseprobe, hauptsächlich jedoch aus einem etwas kuriosen Grund, der mit dem Namen des Autors zu tun hat. Vor einiger Zeit habe ich die familienbiographischen Aufzeichnungen „Haltet Euer Herz bereit“ des Berliner Journalisten Maxim Leo (3) gelesen. Die ostdeutschen Lebensläufe von drei Generationen Leos werden in diesem Buch sehr eindrucksvoll beschrieben. Und ich habe mich gefragt, haben diese beiden schreibenden Leos etwas miteinander zu tun? Gibt es da Verwandtschaft oder ähnlich Verbindendes? Ich bin noch nicht dahintergekommen und nehme entsprechende Hinweise gerne entgegen.

Mehr über Menschen und Bücher rund um die Leipziger Messe- und Literatur-Tage gibt es in der zweiten Märzhälfte hier auf con=libri.

(1)  Wille, A. T.: Die Osterweiterung der deutschen Literatur. – Würzburg : Kaiserbuden & Altfrau, 2014 oder 15 (in print)

(2)  Leo, Per: Flut und Boden. – Klett-Cotta, 2014

(3)  Leo, Maxim: Haltet Euer Herz bereit. – Heyne, 2011 (Originalausg. bei Blessing, 2009)

Leipziger Begegnungen 2012

Von Menschen und Büchern rund um die Stadt, ihre Buchmesse und “Leipzig liest” – Der erste Teil

Auftakt. Der Marsch der Massen zur Messe. Wie schnell der Rummel-Trummel jeden Morgen hochfährt! Um zehn werden die Schleusen geöffnet und drängend fluten Hunderte die bereits unruhig auf Einlass warteten die lichte hohe Glashalle und die Flure zwischen den Ausstellungsständen. Und schon sitzen auf blauen und roten Sofas morgenfrische oder notdürftig ausgeschlafene Autoren und Autorinnen neben pseudo-wachen Moderatoren, die planmäßig ihre ersten Frage-Stanzen absondern. “Kann man sagen, dass der Stoff Ihres neuen Romans zu Ihnen gefunden hat?”

Zum Messegelände findet man am frühen Morgen am leichtesten mit der im dichten Takt fahrenden Straßenbahnlinie 16. Die Buchmesse ist nun schon seit Jahren am nördlichen Stadtrand zu Hause, deshalb dauert die Fahrt reichlich 20 Minuten. Man verbringt diese Zeit in engstem Kontakt mit erwartungsvollen Menschen, die alle irgendwas mit Büchern oder zumindest buchnahen Dienstleistungen oder Produkten machen, und mit Schülern und Schülerinnen von Leipziger Bildungseinrichtungen mitsamt ihren Lehrerinnen und Lehrern, denen man den Messebesuch in den Tagesplan geschrieben hat und die diese Abwechslung vom Frontal-Unterricht als willkommenen Freiraum nutzen.

Es ist gut wenn man dann schon gefrühstückt hat. Vor der Begegnung mit den literarischen Protagonisten empfiehlt sich der Besuch beim „Brotagonisten“, wie sich die in ganz Leipzig vertretene Bäckerei-Kette Wendl betitelt. Man kann dort an einer “Vollversemmelung” teilnehmen, eine “Wendl-Schleife” genießen, die südlich des Mains auch als “Brezel” bekannt ist, oder man bringt den netten Damen hinter der Theke schonend bei, dass man gerne einen “Knax” hätte. Dazu eine Tasse Heißen vom aromatischen Bohno W. und für unterwegs kommt vielleicht noch der beliebte, nahrhafte “RoggStar” in die Tüte.

In Leipzig wird ab Null Grad Plus im Freien gefrühstückt. Dafür steht allzeit Sitzgarnitur an Sitzgarnitur vor Kneipe, Cafè, Bäckerei und Restaurant. Das gilt ganz besonders für die zwei wichtigsten Straßenzüge der Messestadt: die szenische Karl-Liebknecht-Straße (kurz: Karli) in der Südvorstadt und das enge Barfußgäßchen, stetig überfülltes Zentrum der Fress- und Vergnügungsmeile Drallewatsch im unmittelbaren Stadtkern.

“Ein Rettungsschirm für die Bildung!” – Transparent an einer Leipziger Hochschule.

Bildung. Eine Buchmesse ist lehrreich. Von dem sächsischen Kabarett-Urgestein Gunther Böhnke, der einst zusammen mit Bernd-Lutz Lange das legendäre Duo “academixer” war, erfahren wir “50 einfache Dinge die Sie über Sachsen wissen sollten”. (Westend. Euro 14,99) „Nicht nur, aber vor allem als Appetitmacher auf Sachsen für Nichtsachsen bestens geeignet, amüsant, anekdotisch, regionalstolz, dabei zugleich selbstironisch.“ (Sächsische Zeitung).

Natürlich hatte auch ich mir bis zu diesem Zeitpunkt nie tiefergehende Gedanken über die Papiertüte gemacht. Jetzt wurde mir auf die Sprünge geholfen. Unter anderem auf dem Mephisto-Sofa (Mephisto 97,6 = Universitätsradio Leipzig) ging Alexander Neubacher in aller Breite dem selbstgewählten Thema und den damit aus seiner Sicht verbundenen Vorurteilen auf den Grund. Entgegen allgemeiner Vermutung und Hoffnung hat jenes beliebte alternative Verpackungsmittel nach seinen Recherchen eine extrem negative Ökobilanz. Das und noch viel mehr, will er uns in seinem Buch der “Ökofimmel: Wie wir versuchen, die Welt zu retten – und was wir damit anrichten” weissmachen. (DVA, Euro 19,99). Diese Pseudoerkenntnisse verbreitende, ressourcenverschwendende Wichtigtuerei – als SPIEGEL-Buch erschienen – kann leider nicht in der Ökotonne entsorgt werden, sie gehört auf den Sondermüll.

Und auch das hätte ich nie erfahren, wenn ich mich nicht einmal mehr drei Tage durch Leipzigs Frühjahrbuchmesse geschoben, gelesen und gestaunt hätte: Im Mai 2011 schloss im indischen Mumbai die weltweit letzte Fabrik für mechanische Schreibmaschinen.

Karl May. Der sächsische Gauner und Vollblut-Fabulierer wurde am 25. Februar 1842 in Ernstthal geboren und starb am 30. März 1912 in Radebeul. So ist derzeit also willkommene Gelegenheit sowohl 100. Todestag, als auch 170. Geburtstag des Reise-, Heimat- und Abenteuer-Schriftstellers ausgiebig zu begehen. Einige unentwegte Freunde seiner Werke, von denen es noch sehr viele gibt, haben sich in der Karl-May-Gesellschaft organisiert, die auf der Messe mit einem kleinen Stand vertreten war und mehrere interessante Veranstaltungen einbrachte.

So las der populäre Schauspieler Peter Sodann Mays humorvolle Kurzgeschichte “Die Senfindianer” und anschließend einige Passagen aus dessen Autobiographie “Mein Leben und Streben” (Zenodot, Euro 24,90). Sodann schätzt besonders die humane Grundstimmung bei Karl May, wobei er aber auf die mitschwingenden christlich-missionarischen Töne eher verzichten könnte. Ihm gefallen neben den Abenteuerromen vor allem die Geschichten aus dem Erzgebirge.

Bereits vor etlichen Jahren hatte der Leipziger Schriftsteller Erich Loest (“Völkerschlachtdenkmal”, “Nikolaikirche”) eine Roman-Biographie des immer noch verkaufsstarken Schriftstellers veröffentlicht, die jetzt wieder neu aufgelegt wurde. Aus “Swallow, mein wackerer Mustang” (Mitteldeutscher Verlag, Euro 10) wurde an den Messetagen täglich im Kulturradio MDR Figaro daraus gelesen. Ganz aktuell ist eine neue, wissenschaftlich fundierte May-Biographie von Helmut Schmiedt bei C. H. Beck erschienen: “Karl May: oder die Macht der Phantasie.” (Euro 22,95)

Sodann. Peter Sodann als Tatort-Kommissar inzwischen pensioniert und als Bundespräsidenten-Kandidat der Linken nur mit einem Kurzauftritt, hält mit seinen politischen Vorstellungen ungern hinter dem Berg und nutzte den einen oder anderen Messeauftritt um seine Meinung vor stets zahlreichem Publik zu äußern. Man muss diese im Einzelnen nicht immer teilen, es ist jedoch sehr erfrischend, eine bekannte Persönlichkeit zu erleben, die sich so bescheiden unprominent gibt und auf jede falsche Stromlinienform verzichtet.

Sodann erzählt, dass er wie Karl May aus Ardistan stammt, was als Hinweis auf beider Herkunft aus sprichwörtlich einfachen Verhältnissen verstanden werden soll und schreibt den regierenden Politikern Goethes leicht verständliches “edel sei der Mensch, hilfreich und gut” ins Poesiealbum. Er verfügt über ein reiches Reservoir klassischer Dichtkunst aus der er jederzeit passend zitieren kann. Den vergnügten Menschen vor ihm, die immer wieder heftig applaudieren gibt er dann noch Brecht mit auf den weiteren Messe- und Lebens-Weg: „Reicher Mann und armer Mann // standen da und sahn sich an. // Und der Arme sagte bleich: // »wär ich nicht arm, wärst du nicht reich«.“

Verfolgung. Bleiben wir noch etwas bei den politischen Momenten der Leipziger Buchmesse, die es trotz allen Unterhaltungs-Überangebotes Jahr für Jahr auch gibt und die mitunter in berechtigte Empörung und originelle Protestformen münden. Natürlich ist die Buchmesse nicht vorrangig als politisches Forum gedacht. Dennoch gibt es Ereignisse und Zustände auf unserem Planeten vor denen man nicht als Mitmensch und schon gar nicht als Künstler die Augen verschließen kann. Deshalb hat der Verband deutscher Schriftsteller eine Aktion gegen Neo-Nazis gestartet. Deshalb setzt sich die Gesellschaft für bedroht Völker für verfolgte Künstler in China ein und tat dies auf der Leipziger Buchmesse mit einer eindruckvollen Aktion und einer Unterschriftensammlung.

Am Ende dieses ersten Teils der „Leipziger Begegnungen 2012“ ein Zitat des verfolgten, vor den Nazis nach Schweden geflohenen Schriftstellers Kurt Tucholsky, über den in diesem Jahr ebenfalls eine neue Biographie von Rolf Hosfeld (Siedler, Euro 21,99) erschienen ist, und dessen Verzweiflung über seine Zeit und Zeitgenossen ihm 1935 nur noch den Ausweg in den Freitod ließ. So radikal deutlich und politisch er sich artikulierten konnte, so zart und liebevoll konnte er gleichzeitig seinen Gefühlen Ausdruck geben. Die Zeilen stammen aus Tucholskys Roman “Schloß Gripsholm” (Diogenes, Euro 7,90):

“…und dann spielten wir das Bücherspiel: Jeder las dem andern abwechselnd einen Satz aus seinem Buch vor, und die Sätze fügten sich schön ineinander.”

Den zweiten Teil der „Leipziger Begegnungen 2012“ gibt es in etwa einer Woche an dieser Stelle. Dann verrate ich auch jene drei Bücher, die ich persönlich in diesem Jahr am interessantesten fand.

Sudeleien: März 2012

Unterwegs in Gerbersau

(Um es gleich zu sagen: Diese Sudeleien sind für einen Blog-Beitrag etwas zu lang geraten. Wer also meint, das sei ihm zu viel, er habe eh‘ keine Zeit oder dem Text fehle sowieso jegliche praktische Relevanz, und was der Leseverweigerungs-Begründungen mehr sind, der möge am besten gar nicht erst mit der Lektüre beginnen.)

Beim Ziellosvormichhinschlendern durch einen nieseligen Tag und durch Gässchen und Durchlässe, über Brücken und Stege unserer heimelig winkligen Dreiflüssestadt, musste ich an die Frage des Users “Minhthang” denken, die ich neulich in der Wissens-Community “COSMiQ” gelesen hatte: “Kann mir jemand sagen, wo Gerbersau in Deutschland liegt?” Mir persönlich geht es, ganz gleich wo ich gerade bin, häufig so, dass ich das Gefühl habe, zwar nicht als Teilnehmer dabei, aber irgendwie dennoch mittendrin zu stecken – in Gerbersau.

Am 9. August 2012 jährt sich der Todestag des Dichters und Literatur-Nobelpreisträgers Hermann Hesse (1877 – 1962) zum 50. Mal. Aus diesem Anlass plant nicht nur die Hesse-Geburtsstadt Calw zahlreiche Aktionen und Veranstaltungen. Damit an dieser Stelle nicht schon Leser abhanden kommen, findet man den Link dorthin erst am Ende des Artikels. In den nächsten Wochen werde ich außerdem noch einmal auf diesen für Literaturfreunde bedeutenden Anlass zurückkommen.

Gerbersauer Idylle

Hesses Verhältnis zu seiner Heimatstadt war in Kindheit und Jugend voller Spannungen, der meist gemütlich genügsame Gerbersauer Geist für den phantasievoll reichbegabten Knaben nicht leicht zu ertragen, die Schulzeit über weite Strecken die reine Qual. Im “kleinen Schwarzwaldnest” war “nie ein Mensch ausgegangen, der einen Blick und eine Wirkung über das Engste hinaus gehabt hätte.” Zwar verklärte sich manches im Lauf der Jahre und Hesse selbst hat die Erinnerung an das Städtchen in seinen Werken immer wieder romantisch verpackt, dennoch war er sich darüber im Klaren, dass dort für ihn kein dauerhaft erträgliches Leben möglich gewesen wäre: “… obwohl Calw für mich nicht halb so schön wäre, wenn ich öfter als alle drei, vier Jahre hinkäme”, hat er 1915 an seine Schwester Adele geschrieben.

Auch das städtische Gemeinwesen wurde und wird nicht nur von vorbehaltlosen Bewundereren des in aller Welt geschätzten Dichters bewohnt. Desinteresse und skeptische Ablehnung waren über Generationen hinweg fester Bestandteile der Einschätzung. In dem Artikel “Hermann Hesses Gerbersau”, der 1930 in der Vossischen Zeitung, Berlin erschien, kam Hans Popp zu dem Fazit: “Die Calwer selbst lieben ihn nicht, sie begreifen ihn nicht; ohne Verständnis für seine große Liebe, die er zu ihnen im Herzen trägt, ohne Verständnis für seine große Seele stehen sie ihm gegenüber, unverstanden steht Hesse unter ihnen, er, der als erster verdienen würde, ihr größter Freund zu sein.” Da sich daran bis heute nicht so grundlegend etwas geändert hat, sind wohl die Bemühungen zum diesjährigen Jubiläumsjahr weniger der literarischen oder persönlichen Bedeutung Hesses, als vielmehr einem kommerziell touristischen Hintergrund geschuldet. Das muss das eine oder andere Ereignis und Angebot der kommenden Wochen und Monate aber keineswegs uninteressanter machen.

Der Trommler und Sprach-Wirbler Udo Lindenberg sagte in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung auf die Frage, ob er Hesse gelesen habe: “Das hat mich gepackt. Wie kann einer über mich schreiben, der mich nicht kennt? Hab’ ich gedacht. Die kleine Stadt, die bürgerliche Enge, der Stress in der Schule, die Suche nach Coolness, der Ausbruch.” Zur Erinnerung: Lindenberg stammt aus einem Gerbersau namens Gronau.

Vor einigen Jahren hat er, inspiriert von Leben und Werk Hermann Hesses, die Udo-Lindenberg-Stiftung gegründet. Diese “fördert junge Texter und Musiker durch Wettbewerbe, um neue Wege gegen das Mitmarschieren in der Masse zu suchen, provokant zu schreiben und sich nicht anzupassen an Mainstream und Casting-Wettbewerbe. Sie will nationale und internationale kulturpolitische Aktivitäten unterstützen, sowie durch die Förderung humanitärer und sozialer Projekte weltweit den Schwächeren zur Seite stehen.”

Gerbersau-on-Wye

“In manchen Augenblicken war Altes und Neues, war Schmerz und Lust, Furcht und Freude ganz wunderlich durcheinander gemischt. Bald war ich im Himmel, bald in der Hölle, meistens in beiden zugleich.” 

Es gab Zeiten, da wollte ich ganz gerne wie Harry Haller sein. Allein mit mir, der Musik Mozarts, dem nie leer werdenden Glas Rotwein, zu nichts und niemandem verpflichtet, als Verrückter da und dort freien Eintritt genießend; hin und wieder würde mich genau so das eine oder andere Gerbersauer Mädel unheimlich cool finden und nicht nur zum Tanze bitten; ich würde Traktate schreiben und sie anschließend in den Wind werfen; meine Kammer wäre kahl und damit mein Leben ohne belastenden Unrat; so lebte ich für und für, Tag um Tag, Jahr um Jahr, für meine Gleichzeitigen längst zur Legende geworden. – Im realen Leben hingegen war ich lediglich bemüht kein Serenus Zeitblom zu werden.

Bis zum hier angesprochenen Jubiläum, dem Todestag Hermann Hesses im August, ist es noch einige Zeit hin. Ein anderer bemerkenswerter Jahrestag liegt hingegen bereits unmittelbar vor uns. Am 24. März wird Martin Walser 85 Jahre alt. Ist es wirklich schon wieder fünf Jahre her, dass er direkt vor mir über einen Leipziger Zebrastreifen ging? Begleitet von Kameramann und Pressefrau. Am Abend hat er gelesen. Vor vielen Menschen, die ihm kräftig applaudierten und ihn hochleben ließen. Damals konnte man nicht ahnen – und entsprechende Prognosen wären gewagt gewesen – dass Walser kurz vor seinem 85. Geburtstag wieder zur Frühjahrs-Buchmesse kommen würde.

Gerbersau am See

Martin Walser lebt seit Jahrzehnten in Gerbersau am Bodensee. Einmal – vor einigen Jahren – wollten die Menschen in diesem Landstrich dem Dichter und Zeitgenossen ein Denkmal spendieren. Ein fleißiger, vielerorts vertretener Künstler, bekannt für seine ebenso plastischen wie leicht hinterfotzigen Arbeiten, führte von den Honoratioren abgenickte Entwürfe gekonnt und an zentraler Stelle aus. Der Mensch und Schriftsteller Walser war nicht angetan, hingegen gewillt, den Bildhauer und seine Intentionen gründlich misszuverstehen. Das war eigentlich nicht schön und direkt so kleingeistig, wie es den ganzen Gerbersauern im Ländle des Schriftstellers gern unterstellt wird.

Dabei hätten Walser Kunstsinn und etwas Toleranz ganz gut gestanden, schließlich war er selbst schon öfters Opfer gravierender Missverständnisse. Wie damals in der Paulskirche von Gerbersau am Main. Oder erst kürzlich mit seinen Glaubensthemen-Büchern „Mein Jenseits“ und „Muttersohn“, als man ihn prompt in die religiöse Erweckungs-Schublade stecken wollte. – (Zu beiden Titeln sind auf = conlibri = seinerzeit Rezensionen erschienen; diese sind jetzt noch einmal auf der Seite „da capo“ zu finden.) – Nein, zum tief Gläubigen, zum kritiklos Glaubenden, zum Hoffenden auf das Jenseits ist er nicht geworden. Er macht uns nur klar, dass uns ohne Glauben Vieles fehlen würde. Wozu die zahlreichen, gedankenlos selbstverständlichen, meist vom ursprünglich religiösen Ursprung gelösten, künstlerischen, alltags-kulturellen und musikalischen Glaubenszeugnisse gehören. Und nicht zu vergessen – Walser betont das unermüdlich -, schließlich sei auch die Liebe reine Glaubenssache.

Leipzig-Gerbersau

Ab Donnerstag ist wieder Buchmesse in Leipzig. Martin Walser wird dort sein. Er wird u. a. seinen Essay „Über Rechtfertigung, eine Versuchung“ vorstellen, in dem er die Verarmung beklagt, die wir durch das Fehlen eines Bedürfnisses nach Rechtfertigung erfahren. Seine Zeugen dafür sind Kafka und Augustinus, Luther, Calvin und Max Weber, Nietzsche und Karl Barth. Außerdem kommt unter dem Titel „Meine Lebensreisen“ noch eine schmale, überteuerte Resteverwertung auf den Markt. Ein bisschen viel hat er ja schon drauflosgeschrieben in den letzten fünf Jahren und seine Verlage ein klein wenig zuviel drauflosveröffentlicht.

Auch ich werde wieder an der Weißen Elster, in den Messehallen und bei einigen der vielen Veranstaltungen an kontrastreichen Örtlichkeiten der spannenden Stadt unterwegs sein. Und irgendwann danach für = conlibri = ein paar Zeilen darüber schreiben. Über meine Erlebnisse und Begegnungen mit Menschen und Büchern in Leipzig, rund um die Buchmesse und das große Lesefest “Leipzig liest”.

Zum Hesse-Jahr findet man hier Infos die weiterhelfen: Gerbersau/Calw/Hesse/Juliäum

Das Verhältnis Hesses zu Calw wird in diesem ergiebigen Buch gründlich aufgearbeitet:

Schnierle-Lutz, Herbert: Hermann Hesse und seine Heimatstadt Calw. Chronologie eines wechselvollen Verhältnisses. – Calw : Stadtarchiv, 2011. Euro 15

Endlich gibt es auch wieder eine aktuelle Biographie:

Schwilk, Heimo: Hermann Hesse. Das Leben des Glasperlenspielers. – München : Piper, 2012. Euro 22,99

Das Neueste von Martin Walser:

Walser, Martin: Über Rechtfertigung, eine Versuchung: Zeugen und Zeugnisse. – Reinbek : Rowohlt, 2012. Euro 14,95

Walser, Martin: Meine Lebensreisen. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Thomas Schmid. – Hamburg : Corso, 2012. Euro 24,90

Sudeleien: Anfang Oktober 2011

Island, Frankfurt, Barcelona

Beim Sovormichhinknabbern an (auf?) meinen Cantucci, die mindestens so bissfest waren wie die hochgeprießene DeCecco-Pasta (1) in ungekochtem Zustand, musste ich natürlich ständig an die in wenigen Tagen zu Frankfurt am Main beginnende Buchmesse denken. Und daran, dass auch die größten Erzähler aus dem kleinen Island nichts daran ändern werden, dass Literarisches auf diesem Markt des Allesmöglichen immer mehr in den Hintergrund gerät. Wir kennen es bereits aus den immer noch Buchhandlung genannten Gemischtwaren-Läden, wo emsige Menschen, die ursprünglich den angesehenen Beruf eines Buchhändlers, einer Buchhändlerin erlernt hatten, nun mit Non-Book-Waste überladene Aktionstische fleißig über Präsentations-Flächen schieben.

Also tauchte ich das hartnäckige Mandel-Gebäck in meinen Espresso lungho und freute mich darüber, innert kurzer Zeit zwei herausragenden Würdigungen der allerjüngsten deutschen Literaturgeschichte begegnet zu sein.

Wir machen uns ja gerne etwas klein. Die Kritikergemeinde im Land der längst verblichenen Dichter und Denker lässt gemeinhin nichts unversucht um deutschsprachigen Autorinnen und Autoren überdurchschnittliche Fähigkeiten abzusprechen und ihnen, meist durchaus subtil formuliert, zu unterstellen, sie kämen über eine provinziell kleingeistige Sichtweise nicht hinaus und zeichneten sich dabei in herausragender Weise durch ihre Sprach- und Phantasie-Armut aus.

Im Konstrast dazu begeistert sich Maxim Biller mit einem umfangreichen Essay (2) und in gewohnt fulminanter Form an der Vorstellung, dass er in einer literarischen “Ichzeit” zuhause ist, staunt über die von ihm entdeckte Vielfalt und vertritt – ganz im Gegensatz zu einer Mehrheit der Zunft – die These, dass unser Land über ein reiches Reservoir begabter und fähigster Erzähler und Erzählerinnen verfügt. Er belegt dies mit betont subjektiven Lese-Anregungen, von denen einige bereits wohlbekannt, andere eher weniger und deshalb umso verlockendere Überraschungen sind. Gleichzeitig liegt uns mit Billers Aufsatz “Über die Epoche, in der wir schreiben” – wie es im Untertitel heißt – ein erster Höhepunkt dieses feuilletonisten Herbstes vor. (Sei es aus Trotz oder zur Demonstration publizistischer Vielfalt, DIE ZEIT hält dagegen, und betitelt ihre Literatur-Beilage vom Donnerstag mit „Abschied vom Ich“.)

Richard Kämmerlings Werk über die “Deutschsprachige Literatur seit ‘89” (3) setzt, wie der Untertitel andeutet, mit der Wende ein und markiert damit den Fall der Mauer als Beginn eines neuen Kapitels der deutschen Literaturgeschichte.

“Das kurze Glück der Gegenwart” – so der Hauptitel des Buches – macht zugleich deutlich, dass nach 1989 nicht plötzlich völlig anders, neu oder gar besser geschrieben wurde. Auch die Literatur hat seitdem, wie vorher schon, blühende Landschaften und dürre Wüsten. Zu unser aller Glück führte die Einheit nicht zu Einförmigkeit. Ohnehin ist die “Deutsche Literatur” nach dem Zweiten Weltkrieg immer die Literatur von mindestens drei Staaten und zahlreichen kulturell sehr unterschiedlichen Regionen gewesen.

Ganz uptodate gipfelt Kämmerlings Abhandlung in einem Ranking. Er traut sich seine zehn Bücher der letzten zwanzig Jahre aufzulisten. Ohne zuviel zu verraten: Nummer 7 ist Martin Kluger mit “Abwesende Tiere”, von dem ich bis dato noch nichts gehört hatte. Aber das zeichnet gute Lektüre aus; sie ist lehrreich und kurzweilig und originell.

Eben noch aufgepeppt von mediteranem Backwerk und überdosierter Koffein-Zufuhr, machte ich mich auf zu einem Gang durch die Straßen unserer herbstlichen Stadt. Doch inmitten der spätkapitalistischen Menschen- und Waren-Massen fühlte ich mich alsbald wieder mut- und kraftlos. Zum Glück war gerade “Energietag” in der City. Auf dem sonst einem vitaminreichen Angebot vorbehaltenen Marktplatz, zu Füßen unserer gotischen Kathetrale, wurden jetzt Produkte präsentiert die zwar Spannung erzeugen, aber keineswegs zur Kategorie Kriminal-Literatur gehören.

Wenn man – um ein beliebiges Beispiel anzuführen – Besitzer eines Fließgewässers ist, konnte man hier den Erwerb einer hochmodernen Kraftwerksanlage mit höchstem Effizienzfaktor nebst Turbine und Generator in Betracht ziehen. Alternativ gab es Windräder in verschiedenen Größen, sonnenhungrige Solarmodule für die gleichzeitig ein subventionsgefüttertes Finanzierungsangebot zur Verfügung steht, energiesparende Kraftfahrzeuge an Stromzapfsäulen, die noch genauso aussehen, wie jene aus denen das knapp-teure Benzin fließt, und Werbe-Flyer die von wärmeerhaltend verpackten Gebäuden schwärmen.

Als ich mich erkundigte, ob der „Energietag“ auch die Möglichkeit böte als menschliches Individuum frische Energie zu tanken, wurde dies leicht irritiert verneint. Auf erneute Nachfrage, wurde mir versichert, dass ich hier und heute wirklich nicht einmal das kleinste Bündel bekommen könnte.

So kam es, dass ich wieder einmal nicht zur Buchmesse nach Frankfurt fahren werde.

Was mich aber nicht davon abhalten wird meine eigene Gedanken-Cloud über dieses merkantile Buch-Babel zu erzeugen. Informationen, Anregungen und Hinweise für solch unzusammenhängendes Gesudel entnahm und entnehme ich den bekannten, gewohnt fragwürden Quellen. FAZ, FAS, SZ, NZZ, BILD, BAMS, WAMS, ARD, ZDF, 3sat, SWR, BR, MDR, HR und zahlreichen anderen ergiebigen Gerüchteküchen. Sind wir nicht alle nur ein Medien-Echo? Demnächst also mehr über Frankfurt und die Folgen. Hier.

Und jetzt beachten Sie bitte noch den nachfolgenden Nachsatz.

N.S.: Ich könnte jetzt anfügen, dass das neue Buch von Emma Braslavsky (4) in Frankfurt noch nicht präsentiert wird (es erscheint im Februar 2012), wir uns aber wohl vorfreuen dürfen, sie im März in Leipzig hören und sehen zu können, verzichte jedoch darauf und gestehe stattdessen (mich bei allen entschuldigend, die gerade wegen dieses Stichworts hier reingelesen haben und deren Enttäuschung ich nachvollziehen kann), dass mir zu Barcelona, zumindestens in dem an dieser Stelle abgehandelten Zusammenhang, nichts Vernünftiges eingefallen ist; auf den durch das Werk eines bedeutenden amerikanischen Filmemachers und Europafreundes inspirierten Titel für diese ungaren Zeilen konnte und wollte ich aber auch nicht mehr verzichten.

(1) Ortheil, Hanns-Josef: Lesehunger. Ein Bücher-Menu in 12 Gängen. – Luchterhand, 2009, S. 74

(2) Biller, Maxim: Ichzeit. Über die Epoche, in der wir schreiben. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 2. Oktober 2011, Nr. 39, S. 23

(3) Kämmerlings, Richard: Das kurze Glück der Gegenwart. Deutschsprachige Literatur seit ‘89. – J. G. Cotta’sche Buchhandlung, 2011

(4) Braslavsky, Emma: Alles in Ordnung. Roman. – Ullstein, 2012

Leipziger Buchmesse 2011 – ein Vorbericht

Fakten. Die Leipziger Buchmesse findet in diesem Jahr vom 17. bis zum 20. März statt. Es wird mit etwa 2.100 Ausstellern aus dem In- und Ausland gerechnet. Die Ausstellungsfläche wurde erweitert. Viele junge, unabhängige Verlage nutzen die günstigen Leipziger Rahmenbedingungen und können sicher sein, dass sie auf mehr Interesse stoßen, als bei der tosenden herbstlichen Konkurrenz am Main. Neu ist ein vergrößerter Bereich für die mehr als 120 Hörbuch-Aussteller in Halle 3, sowie die „Hörspiel-Arena“. Die Fantasy-Fans bekommen erstmals eine eigene „Lese-Insel“ in Halle 2.

Serbien. Ost- und Südost-Europa mit seiner sprachlichen, literarischen und verlegerischen Vielfalt, die in Deutschland immer noch sehr peripher wahrgenommen wird, war schon immer einer der Schwerpunkte der Leipziger Messe. Aussteller, Autoren und Publikum aus diesen Regionen kamen und kommen gern nach Leipzig. In diesem Jahr ist Serbien das Schwerpunktland. Aus diesem Anlass wurde vom serbischen Kultusministerium eine Übersetzungs-Förderung („Traduki“) auf den Weg gebracht. So können 30 neue Titel erstmals in Deutsch erscheinen.

Vor 50 Jahren erhielt Ivo Andric den Literaturnobelpreis. Seitdem führte die serbische Literatur in Europa eher ein Nischen-Dasein. Weitere bekannte Autoren sind Danilo Kis und Aleksandar Tisma. Inzwischen hat sich aber wieder eine lebendige junge Literaturszene etabliert. Im Südosteuropa-Forum (Halle 4) stellt die Leipziger Buchmesse in Zusammenarbeit mit Traduki und der Robert-Bosch-Stiftung Autoren und Autorinnen des gesamten südosteuropäischen Raumes vor.

Nordeuropa. Besonders interessant, und auch schon traditionell mit Spannung erwartet, wird wieder der Auftritt der nordischen Länder. Alle skandinavischen Staaten und Island präsentieren sich gemeinsam im „Nordischen Forum.“ Die mittlerweile sechste nordische Literaturnacht findet am 18. März ab 19 Uhr im NaTo (KaLi) statt. Island wird zudem im Herbst Gastland der Frankfurter Buchmesse sein, ein Ereignis, das erste Vorboten auch nach Leipzig entsandt hat.

Blau. Kultmöbel und eine der am stärksten frequentierten Anlaufstellen ist das blaue Sofa von Deutschlandradio Kultur, ZDF und Club Bertelsmann unter der imposanten Kuppel der zentralen Glashalle. Hier lassen sich alle zu Interview und Lesung nieder, die im Gespräch oder gefragt sind und jene, die etwas zu sagen, bzw. geschrieben haben. In diesem Jahr nehmen circa 60 Autoren und Autorinnen neben den Moderatoren und Moderatorinnen Platz. ZDFinfokanal und Deutschlandradio Kultur senden fast 30 Stunden; so entsteht die längste öffentlich-rechtliche Literatursendung.

Antiquariat. Als internationale Verkaufsausstellung für antiquarische Bücher, Graphiken und Autographen, bietet die Leipziger Antiquariatsmesse einen eigenen, stets gut nachgefragten und etwas intimeren Handelsplatz innerhalb des großen Messe-Treibens. Antiquare sind weitestgehend unabhängig von saisonalen und aktuellen Trends; doch in diesem Jahr dürfte es in ihrem Umfeld etwas aufgeregter zugehen. Die zentrale Internetplattform für Antiquariate ZVAB soll an den Konkurrenten abebooks verkauft werden. Der Deal ist für das zweite Quartal geplant. Hinter abebooks steht Amazon als Mehrheitseigner. Da ist sicher noch mit allerhand Bewegung in der sonst eher etwas beschaulich trägen Branche zu rechnen.

Nominiert. Gleich am ersten Messetag, ab 16 Uhr, werden wieder die Preise der Leipziger Buchmesse vergeben. Im Bereich der Belletristik ist es der Jury gelungen, zum großen Teil überdurchschnittliche Qualität von Autoren sehr unterschiedlichen Charakters herauszufiltern:

Anna Katharina Fröhlich: „Kream Korner“
(Berlin Verlag)
Arno Geiger: „Der alte König in seinem Exil“
(Carl Hanser)
Wolfgang Herrndorf: „Tschick“
(Rowohlt Berlin)
Clemens J. Setz: „Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes“
(Suhrkamp)
Peter Stamm: „Seerücken“
(S. Fischer)

Arno Geiger, so kann man sich überzeugen, wird mit jeder Veröffentlichung besser. Nach dem erfolgreichen „Alles über Sally“ im Vorjahr, hat er jetzt ein einfühlsames Buch über seinen an Demenz erkrankten Vater vorgelegt. „Der alte König in seinem Exil“ ist ein gutes Stück Literatur, aber auch Plädoyer für ein eher traditionelles Familienbild und den unvergänglichen Wert des Lebens jenseits gängiger und konsumabler Klischees und Normen. Sprachlich schöner, allemal feinfühliger und weniger peinlich als dereinst Jens über Jens.

Überschätzten Poschlismus produziert Clemens Setz, dessen voluminöse “Frequenzen” mir schon gewaltig auf die Nerven gingen, und dessen Erzählungen rund um das “Mahlstädter Kind” Ähnliches befürchten lassen. Erste Auftritte des Jung-Autors deuten jedenfalls in diese Richtung. Talent hat er sicherlich, aber das muss noch länger reifen. Hätte ich nicht mit in die Auswahl genommen.

Mein Favorit heißt Wolfgang Herrndorf! “Tschick” ist ein Buch, wie man es in deutscher Sprache lange sucht. Geht man ganz weit zurück, so findet man vielleicht mit Ludwig Thomas‘ “Lausbubengeschichten” annähernd Vergleichbares. Doch natürlich ist “Tschick” ganz anders: Rührendes Pubertätsdrama, jugendliches Zeitstück, Road-Movie; manchmal weht auch etwas “Fänger-im-Roggen”-Stimmung durch das Buch. Es handelt von zwei sehr unterschiedlichen vierzehnjährigen Jungs, und sollte unbedingt von allen Menschen jenseits dieses Alters gelesen werden, denn es ist auch eine literarisch verpackte Lektion über männliches Erwachsenwerden in überregulierten Zeiten. Aber vor allem: Es hat Tempo und Witz. Und das ist schon so viel mehr, als man sonst auf deutschen Büchertischen geboten bekommt.

Möpse. “Ein Leben ohne Möpse ist möglich, aber sinnlos”, sinnierte einst der große Lebensberater Loriot. Leipzig macht es möglich. Eine Messe mit Mops. Das Tier heißt Henry und in Frankfurt wurde ihm seinerzeit der Zutritt zu den Hallen hehren Handelns verwehrt. In Leipzig präsentiert er in diesem Jahr, zusammen mit seinem Frauchen Uschi Ackermann, die tierische Neuerscheinung “Ein Mops, ein Buch.” Ob Henry auch auf dem blauen Sofa bellen darf?

So! Rum. Frankfurter Buchmesse MMX

Mittwoch und folgende

Am liebsten würde ich alle analogen und digitalen Empfangsgeräte ausschalten, alle gedruckten Massenmedien in dafür geeignete Container entsorgen, wegschauen, abtauchen, nur noch mit Lieblingsbüchern dauerschmökern, auswandern nach Polylesien, Tau und Tee trinken, Tag und Nacht von Zetteln träumen, das Westallgäu von Nord nach Süd durchwandern, in mein Tagebuch fallen, unsichtbar bleiben. Doch wenn ich geh’, geht nur ein Teil von mir und der and’re schaut zu dir.

Alle reden von Argentinien. Doch ich sehe, höre und lese nur Schweiz. Melinda Nadj Abonji gewann – Sarrazin sei dank! – mit „Tauben fliegen auf“ den diesjährigen deutschen Buchpreis. Das Schicksal einer ungarischen Familie, die aus Serbien in die Schweiz auswandern muss und deren Geschichte nun in Frankfurt und anderswo die Runde macht. Lieblich, ohne nachhaltigen Abgang. Wir sind Europa.

Dorothee Elmiger bekam neulich den Aspekte Literaturpreis des ZDF für „Einladung an die Waghalsigen“. Ich hab’s gelesen – es ist nicht viel und auch nicht lang – aber großartig und ganz eigen. Mit Mut, Phantasie und Sprachvermögen. Nicht dieses weit verbreitete Schreiben, das eine tragische Biographie erzwingt. Wenn sie das Niveau irgendwann bestätigt, können wir eine neue großartige Stimme begrüßen. Dorothee Elmiger stammt aus Wetzikon im Bezirk Hinwil und lebt jetzt – dreimal raten überflüssig – in Berlin.

Schluss mit Schweiz? Nein, einen hab’ ich noch. Beim 44. Literarischen Wettbewerb der GAD (wer es wirklich nicht weiß: Gastronomische Akademie Deutschland) bekamen die Autoren Dominik Flammer und Fabian Scheffold die „Goldene Feder“ für „Schweizer Käse“, erschienen im AT Verlag, der im schweizerischen Aarau zu Hause ist.

Und Argentinien? Der mehrfach begabte Chansonnier Michael Ebmeyer (Mitglied der Berliner Combo „Fön“) hat schon wieder einen Roman geschrieben. „Landungen“ spielt zu großen Teilen in Argentinien. Erschienen ist diese lesenswerte Zeit- und Familiengeschichte natürlich bei Kein und Aber. Ja, genau: Zürich!

Die armen Grimms. Sie kennen doch die Grimms?! Jacob und Wilhelm, die Wörter- und Märchensammler und großen Gelehrten. Früher Göttingen, später Berlin. Wie geschieht heutzutage ihren Gestalten und Geschichten, den altdeutschen Mythen, den volkstümlich romantischen Figuren? In Reckless, dem neuesten Buch der nach Amerika ausgewanderten, aber immer noch deutschsprachigen Erfolgsautorin Cornelia Funke, werden sie Opfer profitabler Umdeutung.

Birgit Dankert, längst im tätigen Ruhestand, einstmals eine meiner Lieblings-Professorinnen am Hamburger Fachbereich, erläuterte letzte Woche in der ZEIT „Warum das neue Buch von Cornelia Funke ein einziges Ärgernis ist.“

„Cornelia Funke operiert zum Teil recht erfolgreich mit der Ausstattung der Grimmschen Märchenwelt … Aber viele der Wesen, die wir aus den alten Märchen kennen, werden in Reckless einfach nur benutzt und ausgebeutet … Die ständige Aufgeregtheit, die Tücke, die Kleptomanie all der Wassergeister, Stilze, Einhörner und Wölfe, die das Buch übervölkern, schaffen immer nur kurzfristig Spannung … Sehr bedenklich ist auch das Frauenbild, das Reckless zeichnet: Reiz und Kraft der weiblichen Figuren liegen fast ausschließlich in ihren sexuellen Vorzügen. Das beliebte Klischee der gefährlichen Frau nimmt breiten Raum ein.“

Frau Dankert kritisiert den Etikettenschwindel, wenn uns weiß gemacht werden soll, es handelt sich um ein „harmloses Kinder- und Jugendbuch für jedes Lesealter.“ Ihr Fazit: „Wirklichkeit zu erkennen, zu deuten, zu bewältigen und zu überspringen – dazu taugen Märchen. Reckless gelingt das nicht. Seine Welt ist synthetisch und kommt im Leben nicht an.“ Aber alsbald als Kassenschlager in die Kinos – möchte man ergänzen, FSK ab 6 und im Sessel Mutter und Vater mit Drei- und Vierjährigen. Heute müssen Eltern ihre Kinder nicht mehr im Wald aussetzen. Es gibt subtilere Möglichkeiten der Vernachlässigung.

Falten Zitronenfalter Zitronen? Enthält Hundekuchen…? Hat die Frankfurter Buchmesse irgendwie mit Literatur zu tun? Mit Büchern schon. Bücher von Autoren die komplexe Begriffe wie (völlig willkürliches Beispiel!) „hummeldumm“ auf so und so viel Seiten exemplarisch, praktisch, lebensnah und banal glauben erläutern zu müssen. Oder Werke von Jung-, Neu- oder Eigentlichnicht-Autoren, die sich vor völlig natürlichen und weit verbreiteten Naturereignissen wie Vaterwerden und Kinderhaben ins Bücherschreiben flüchten.

Und mit E-Books hat sie zu tun. Nun schon im dritten Jahr nacheinander – in Frankfurt und in Leipzig – sind diese unheimlich im Kommen, werden zum unverzichtbaren Lifestyle-Produkt hochgepredigt. Und alle medialen Kanäle stimmen ein. Das Angebot an Hardware ist vielfältig. Was hätten’s denn gerne? Das anglophile Kindle oder den geschmeidigen Sony Reader, Bookeen Cybook Opus, Foxit eSlick oder Ectaco jetBook-Lite? Den PRS-600 Touch black, das Cybook Gen3 Gold Edition oder doch lieber das äußerst günstige Weltbild-Modell? Es gibt auch tatsächlich schon das eine oder andere Buch zum Draufladen und Runterlesen. Aber nicht für alle die gleichen. Das gilt auch für die Formate und Ausstattungsmerkmale. Unter Strom sollte es natürlich schon stehen – Stichwort: Akku-Laufzeit. Flatrate demnächst. Tolstoj und Fontane gratis dazu.

Von Bibliotheken ist und war in Frankfurt allenfalls am Rande die Rede. Die lassen sich nicht handeln und ihre Dividenden sind nicht pekuniär. Das soll sich jetzt ändern, war zu hören. Und wie Vieles kommt auch diese Idee wohl bald über den großen Teich zu uns. Unser aller Terminator und Ex-Ösi Arni gehört zu den Pionieren die hier mutig Neues wagen. In den USA werden neuerdings kommunale Bibliotheken an private Anbieter übergeben. LSSI (Library Systems and Services) ist eine der Firmen, die dieses Geschäftsfeld erschließen. Ich zitiere aus der FAZ vom 30. September: „Das Unternehmen betreibt bereits 14 Stadtbüchereien mit 63 Zweigstellen, die meisten davon im krisengeschüttelten Bundesstaat Kalifornien, wo Gouverneur Arnold Schwarzenegger gegen die chronische Finanznot kämpft … Jüngst hat es (LSSI) den Auftrag bekommen, drei Büchereien in Santa Clarita (Los Angeles County, 170.000 Einwohner) zu managen. Dort will LSSI-Vorstandchef Frank Pezzanite rund eine Million Dollar jährlich einsparen.“

Über die Buchmesse wird viel gesendet und geschrieben. Lesen Sie einfach was Sie wollen oder lassen Sie es bleiben. Nicht versäumen sollten Sie allerdings den Buchmesse-Blog von Andrea Diener auf faz.net. Das ist auch Tage und Wochen danach noch lesens- und – wegen der photographischen Fähigkeiten der Autorin – auch sehenswert. Sehr interessant und auf bestem Niveau sind zudem zahlreiche Kommentare, die den Berichten jeweils prompt folgen. Allerbeste Diskussionskultur, wie man sie im web nur selten findet.

Sonntag-Abend

Der Kaffee wird kalt. Auf meinem Schreibtisch liegt ein knittriger Gutschein für das „Café der Verlage“, zu finden auf der Frankfurter Buchmesse in Halle 3.1, zwischen Gang L und M. Dafür hätte ich wahlweise einen Espresso oder einen Café Latte bekommen. Eigentlich schade, wenn man die Verpflegungspreise auf der Frankfurter Messe kennt. Aber zu verkraften. Dafür gönne ich mir, wenn ich hiermit fertig bin, einen kräftigen Schluck argentinischen Roten und ein großes Stück reifen Emmentaler.

Von Menschen und Büchern

Nachträge zur Leipziger Buchmesse 2010

Erster Teil – mit zwei Geburtstagen

Der Preis der Leipziger Buchmesse ging in diesem Jahr an Georg Klein für seinen „Roman unserer Kindheit“, den Sachbuchpreis erhielt Ulrich Raulff für sein Buch „Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben“, Ulrich Blumenbach erhielt für seine Übertragung des Romans „Unendlicher Spaß“ von David Foster Wallace die Auszeichung für die beste Übersetzung. Das war im Donnerstag letzter Woche. Dem ersten Tag der Leipziger Buchmesse 2010.

Am Samstag wurde es sehr eng. Die Besucherströme mussten durch Sicherheits-Kräfte gesteuert, die Übergänge in die einzelnen Hallen zu Einbahnstraßen erklärt werden. Als am Abend des letzten Tages die Tore der Leipziger Buchmesse für dieses Jahr wieder geschlossen wurden, hatte man 159.000 Menschen gezählt. Erneut einige Tausend mehr als im Vorjahr. Geschätzte 5000 – fast ausschließlich Kinder und Jugendliche – waren in besonderer Mission unterwegs. Diese „Cosplayer“ (von costume play) verkleiden sich als Figuren aus Mangas, Computerspielen, Fantasy- oder Märchen-Literatur. Da sah man Naruto, Ume oder eine Herzkönigin, Engel mit überdimensionierten Flügeln, Rotkäppchen, das in dieser Version dem gefräßigen Wolf Schluckbeschwerden bereiten wird. Nicht wenige Besucher nahmen allerdings Anstoß an dieser Farbigkeit und fanden die, aus ihrer Sicht karnevalesken Elemente, fehl am Platz. Doch Messe-Direktor Oliver Zille stellte im MDR-Gespräch klar, dass Messe Markt ist und dass er es sehr begrüße, dass dieses Segment alljährlich nach Sachsen kommt. Es wäre auch zu schade und folgenreich, so ein engagiertes und belebendes Publikum zu vertreiben. Jungen Menschen einmal mehr klar zu machen, dass sie mit ihrer Art und ihren Interessen nicht erwünscht sind, kann kein Weg sein.

Sehr viele Besucher kamen wegen der präsenten Prominenz. Dem greisen Ex-Präsidenten Richard von Weizsäcker, Stasi-Aufklärer Joachim Gauck, der Sieben-Brücken-Combo Karat, der schrill-vitalen Missionarin Nina Hagen, der drall-vergnügten Plaudertasche Marianne Sägebrecht, um nur Einige zu nennen. Andere, eher die kleinere Zahl, waren auf der Suche nach literarischem Neuland, nach Künstlern, die in unserem Lande noch nicht so oder auch gar nicht bekannt sind, wie jene aus Südost-Europa oder einige Skandinavier.

Der demonstrativen Wucht der allgegenwärtigen Medien konnte sich niemand entziehen. Allerdings waren von den Rundfunk- und Fernseh-Anstalten nur die öffentlich-rechtlichen vor Ort. RTL, SAT1, Vox und wie sie alle heißen, haben natürlich ganz andere Sorgen, Stars und Zielgruppen. Bei den Tages- und Wochenzeitungen durfte man sich über die Anwesenheit echter Qualitätsorgane wie Zeit, Süddeutsche usw. freuen und darüber wundern, wo eigentlich „Der Spiegel“ geblieben war. Offensichtlich wird in Hamburg zielstrebig an der weiteren Boulevardisierung des einstmals wichtigsten deutschen politischen Wochen-Blattes gearbeitet. Besonders groß ist Jahr für Jahr der Einsatz der hervorragend gestaltet und geschriebenen örtlichen „Leipziger Volkszeitung“. Deren ständig überfüllte Lesearena, in der zahlreiche bekannte und noch bekanntere Persönlichkeiten auftraten, benötigt in der Zukunft vielleicht einmal ein verändertes, möglicherweise offeneres, Konzept, um dem Massen-Ansturm Herr zu werden. Bei den westdeutschen Medien kann man insgesamt eine gewisse Zurückhaltung feststellen, was die Berichterstattung über die Leipziger Buchmesse betrifft. Wird berichtet, ist nicht selten eine leichte Überheblichkeit zu verzeichnen, die Züge herablassenden Spotts annimmt, wenn die Zeitung aus Frankfurt kommt.

Die Musik spielt in Leipzig. Und auch auf der jährlichen Buchmesse. Dort ist die Musikstadt mit einem eigenen Stand vertreten, auf dem Komponisten, die in Leipzig wirkten – wie Johann Sebastian Bach und Felix Mendelssohn-Bartholdy – die zentrale Rolle spielen. Just während der Messetage, am 21. März, konnte der 325. Geburtstag von Johann Sebastian Bach begangen werden. Zur Feier dieses Jubiläums wurde das Bach-Museum erweitert und generalüberholt neu eröffnet und fand in der Thomas-Kirche ein Fest-Konzert mit dem Thomaner-Chor statt; zu Gehör gebracht wurden Kantaten von Bach und Telemann. Der Musikstadt-Messestand sollte auch den jüngsten Nachwuchs erreichen. Um seine Aufmerksamkeit wurde mit allerhand spielerischen Klangwerken geworben. Einen eigenen Ausstellungsbereich bekamen erstmals die Musik-Verleger. Neben großen Namen, wie Bärenreiter und Schott, nutzten auch kleinere Anbieter die Leipziger Gelegenheiten. Gerade bei diesen und ähnlich bei den schmalen, weniger bekannten Literatur-Verlagen, gab es die Möglichkeit zu mancher Entdeckung und interessanten Gesprächen.

Die vielbesprochene und –diskutierte Helene Hegemann konnte einem nur Leid tun. Im Rahmen der auch in Leipzig sehr heftigen Debatte rund um die akuten Probleme mit einem zeit- und mediengerechten Urheberrecht, wurde sie zum Spielball der verschiedenen Interessen-Gruppen. Gleichzeitig sollte sie als Teenie-Star der deutschen Literatur herhalten und für Zulauf und Umsätze sorgen. Eine Rolle mit der sie sichtlich überfordert war und deshalb völlig erschöpft die Messe vorzeitig verlassen musste. Was den Plagiatsvorwurf und im Zusammenhang damit, ihre literarischen Fähigkeiten betrifft, bekam sie Unterstützung von prominenter Seite. Martin Walser in einem Interview der Frankfurter Rundschau: „Die Anfangsgeschwindigkeit – wenn ich das mal mit einer Rakete vergleiche – hat sie doch von sich. Andernfalls würde sie doch das nicht alles herholen wollen. Das ist doch klar.“

Walser selbst, gern gesehener Gast in Leipzig und immer noch und wieder ein Publikumsmagnet, konnte gleich zwei neue Bücher präsentieren. Seine glaubenssehnsüchtige Novelle „Mein Jenseits“ und den neuesten Tagebuchband „Leben und Schreiben – Tagebücher 1974 – 1978.“ Gerade dieses Buch bot reichlich Diskussions- und Gesprächsstoff. Der Autor, in seinem Leben von den Medien mal links, mal rechts einsortiert, seine Werke, mal zerrissen, dann wieder in den Himmel gelobt, machte deutlich, wie wertvoll Tagebücher für die Aggressions-Abfuhr und die Bewältigung von Alltagen unterschiedlichster Zumutbarkeits-Schwere sind. „Tagebuchschreiben ist eine Lebensart“, sagt Martin Walser deshalb. Am heutigen 24. März wird er 83 Jahre alt. In Leipzig gab er sich offen plaudernd, dachte und formulierte brillant. Noch immer ist der Dichter vom Bodensee „Gedankenreich. Sprachmächtig.“ (Denis Scheck) Möge uns dieser wichtige Autor mit all seiner vitalen Schaffenskraft noch lange erhalten bleiben. Von dieser Stelle: Alles, alles Gute, Martin Walser!

Den sprachlichen (Ur-)Gewalten und der intellektuellen Präsenz eines Clemens Meyer waren nicht alle Moderatoren gewachsen. So flüchtete sich Tina Mendelssohn im 3sat-Gespräch in die Bitte, der Autor möge doch – was eigentlich nicht vorgesehen war – aus seinem neuen Buch „Gewalten“ vorlesen, da sie offensichtlich Schwierigkeiten hatte, angemessene Fragen zu formulieren. Meyer ergab sich mit ironischer Nachsicht, das Publikum unterstützte mit kräftigem Beifall und nach der Veranstaltung mit vielen Signierwünschen. Sein neuestes Werk trägt den Untertitel „ein Tagebuch“. Ein Kunstgriff, wie Meyer erläuterte, der es ihm ermöglicht hat, die Kurzgeschichten mehr oder weniger lose miteinander zu verbinden, zueinander in Beziehung zu setzen oder auch persönliche Elemente einfließen lassen zu können, ohne zwischen Autor und Protagonisten ständig differenzieren zu müssen. Ein Verfahren dass bereits Daniel Kehlmann in seinem Erzählband „Ruhm“ anwandte. In Meyers Geschichten geht es um Ereignisse des Jahres 2009 und ihr Gewaltpotential. Der Autor spannt einen Bogen von den Erlebnissen eines Einzelnen in der psychiatrischen Notaufnahme bis zum traumatisierenden Amok-Lauf von Winnenden. Die Stärke des Buches ist es, dass solche Ausmaße von Wahnwitz, solche Alpträume, erzählbar werden und dass es damit auch einen Beitrag zur Verarbeitung leistet.

Das umfangreiche, bunte Lese-Festival „Leipzig liest“ breitete sich vier Tage in der gesamten Sachsen-Metropole aus und bewies erneut, wie ein großes, dennoch sehr unterschiedliches Publikum, für die Literatur und ihre vielfältigen Darstellungs-Möglichkeiten, zu begeistern und gleichzeitig postmoderne, urbane Räume mit Menschen, Phantasie und Lebensart gefüllt werden können. Bis weit in die Nacht hinein waren Kneipen, Theater und Buchhandlungen, alte Kino- und Gerichtssäle, Bibliotheken und Museen voller Neugieriger und Enthusiasten, die danach noch stundenlang an Theken oder im Freien unter Heizpilzen bei Bier, Wein und Bionade Gedanken und Ideen austauschten.

Die Nobelpreis-Träger waren natürlich auch da. Herta Müller las im bis auf den letzten Platz besetzten Central-Theater aus „Atemschaukel“ und Günter Grass traf, sah und hörte man auf dem Messegelände eigentlich überall. Zu Günter Grass demnächst mehr in diesem Blog.

Frankfurt, Ulm und Donaustrand

„Ich war zwischen den Dingen etwas, das da nicht hingehört.“

Nachdem wir wussten, weil es ein Herr mit skandinavischem Akzent verkündet hatte, dass Herta Müller den Nobelpreis bekommen würde, waren die Ulmer Buchhandlungen am LIMIT. Ein Streifzug durch die Läden in den Tagen nach dem Tag X, offenbarte manches SYMBOL. Allerhand Engel, Elfen und bissige Vampire. Von Verblendung bis Verdammnis – alles im Angebot. Aber nichts Lesbares der ausgezeichneten Rumäniendeutschen. „Atemschaukel“, vor kurzem in knapper Auflage erschienen, musste erst wieder in Auftrag gegeben werden. „120 Tausend in einigen Tagen“, verkündete der Verlag zuversichtlich. Es dauerte dann doch etwas länger, bis die Promi- und Sensationslust der Käufer das Werk sogar im Verkaufs-Ranking bei Amazon nach oben spülen konnte.

Mueller_23391_MR.inddHarte Zeiten für Herta. Von leichtem Infekt genesen, konnte sie Spotlights und Beifallsstürmen auf der Frankfurter Bühne nicht mehr entkommen. Selten hat eine Autorin, ein Autor, nach solcher Auszeichnung, so sehr unser Mitleid verdient. Mit schmalen Schultern und hängendem Kopf stand da eine kleine Frau vor vielen Menschen, die gar nicht mehr aufhören wollten mit Klatschen. Es war auch die Bitte um Absolution, weil man sehr wohl wusste, wie wenig ernst und wichtig man gerade diese Autorin vor dem 8. Oktober genommen hatte. Derweil übte sich ein Frankfurter Meta-Kritiker in ungewohntem Schweigen, das er wahrscheinlich für beredt hält.

Herta Müller und ihr Werk waren schon früher mit zahlreichen Preisen bedacht worden. So zum Beispiel mit dem ebenfalls sehr hoch dotierten „International IMPAC Dublin Literary Award“, den sie für die englische Übersetzung von „Herztier“ bekam. Zwei Besonderheiten hat diese Auszeichnung. Von dem außergewöhnlich üppigen Preisgeld (Euro 100.000) geht ein Viertel an den Übersetzer. Und am Preis beteiligen sich neben dem Hauptsponsor IMPAC auch die Kommune Dublin und deren Bibliotheken. Jetzt suchen wir die deutsche Stadt (SDDS) und das zugehörige Erfolgsunternehmen, die dem irischen Beispiel folgen!

Messe-Berichterstattung aus Frankfurt und im Frühjahr aus Leipzig ist ja inzwischen eine ganz eigene Literaturgattung geworden. Wenn es da für Spitzenleistung einen Preis gäbe, hätte diesen sicher Andrea Diener verdient. Ihr Blog ist ganz nah dran an den Stimmungen und der Autorin gelingt es wundervoll, diese ihren Lesern zu vermitteln. Unbedingt vorbeischauen!:

Zu Andrea Diener

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Claudio Magris, der diesjährige Preisträger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, ist ein italienischer Germanist. Warum kommt einem diese Berufbezeichnung nur so absurd vor? Kleiner Riese quasi ähnlich absonderlich und selten. (**) Und er – die Ulmer wird es wundern – er hat die Donau als verbundenen und verbindenden Kulturraum entdeckt. Lange vor Langer. Auf einer Flussfahrt mit Buch. Genau betrachtet ist er der originäre Erfinder aller Donaufeste. Zu schön um wahr zu sein, wenn er beim nächsten in Ulm zu Gast wäre.

Und dann schon wieder dieser E-Book-Hype. Zum Gähnen. Toll so ein Kindle! Teuer in Dollar. Was wir lesen dürfen bestimmt Amazon. Nur amerikanische Bücher und Zeitungen drauf. Das Ding ist in aller Munde und vor aller Augen, aber nicht wirklich dabei. Sony-Reader dito. Fortsetzungen folgen. The same procedure next spring in Leipzig. Aufregen nützt nichts. Angst haben vor der Entwicklung auch nicht. Am Ende entscheiden wir selbst, ob Bücher als Haupt-Trägermedium für schöne Literatur verschwinden werden.

Die meisten Chinesen sind nun auch zurück in China. Der eine oder andere Dissident, Kulturschaffende oder Wok-Betreiber hat es vorgezogen hier zu bleiben. Die anderen kommen aber eines Tages wieder. Sie werden es sein, die das ultimative E-Book mitbringen. Den Toyota-Suzuki-Volkswagen der Reader. Den haben dann aldi Lidls für wenig Penny im Angebot. Mehr Plus für Netto. Dann gibt es für den ganzen Druckramsch nur noch Joker. Aber bis dahin haben wir schließlich auch das letzte Feuchtgebiet trockengelegt, hat die Stadt Berlin einen ausgeglichenen Haushalt und Guido Westerwelle die absolute Mehrheit. Also, was kann uns da heute schon passieren?

Sopho„Sophokles war 84, als er die Antigone schrieb, da habe ich noch fast zwei Jahre Zeit.“ Sagte Martin Walser. Er war letzten Herbst in China auf Lesereise. Er wird dort viel übersetzt, gelesen und geschätzt. China hat eine lange Tradition im ehrenden Umgang mit weisen alten Männern. Deutschland im missverstehen wollen. Martin Walser hat es in China gefallen. Und so kam es, dass in Frankfurt Chinesen gerne über den Dichter vom großen Wasser sprachen und dass Martin Walser von China schwärmte. Aber das fiel kaum jemandem auf und kam in den Medien fast nicht vor. Dabei hätte gerade dies wirklich interessant, wichtig, erfreulich und verbindend sein können.

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(**) Kleine Verbeugung vor dem Meister des prädikatfreien Satzbaus. Weil, Bewunderung quasi Hilfsausdruck: Haas, Wolf: Der Brenner und der liebe Gott. – Hoffmann und Campe, 2009. Euro 18,99

Zwischenbericht

Leipziger Buchmesse 2009

Mehr oder weniger. Die Messeverantwortlichen glauben Jahr für Jahr die Qualität ihrer Veranstaltung über die Steigerungsraten von schierer Masse definieren zu müssen. Das ist wohl branchen- und wirtschaftsüblich. So kommt man dann in diesem Jahr auf erstaunliche und für die Messegesellschaft als Erfolgsnachweis sicher erfreuliche 2.300 Aussteller, 1.900 Veranstaltungen, 1.500 teilnehmende Autoren, die an 300 Spielstätten auftreten (Messegelände und Stadt). Schon zur Halbzeit waren 59.000 Besucher zu verzeichnen, was einer Steigerungsrate von 11 Prozent gegenüber dem Vorjahr entspricht. Irgendwann in den nächsten Jahren wird sich dieser Trend möglicherweise einmal umkehren. Wird dann Panik und Krisenstimmung ausbrechen? Oder wird man sich dessen erinnern, was man noch zu bieten hat: Neben Breite auch viel Qualität, neben oft mürrischen Ausstellern, viel fröhliches Jungvolk. Und nirgends sonst treffen sich so viele Leser. Finden sich so viele Menschen ein, die gleiches Interesse eint: Ihre Verbundenheit zur Literatur und ihren Protagonisten.

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Da ist Musik drin. Auch die Musikstadt Leipzig ist auf der Messe präsent. Und die Messebesucher wiederum sieht man natürlich auch in der Thomaskirche, im Gewandhaus, in der Oper und den vielen kleinen und größeren Musiktempeln der Off-Szene in Connewitz, Plagwitz und Sonstwitz.
Aufgefallen ist mir ein ganz kleiner Stand in der großen Glashalle. Er präsentiert: „Bach, Mendelssohn, Schumann. Wege zur Musik in Leipzig“. Hier haben sich die Leipziger Musikmuseen und -gedänkstätten zusammengetan. Dazu gibt es eine sehr schön gestaltete, mit vielen Klangbeispielen ausgestattete, Web-Site:
www.klangquartier.de

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Personenbeförderung. Etwas weit draußen ist das neue Messegelände in Leipzig ja schon. Dort hat es allerdings sehr großzügig, viel und schön Raum gefunden. Und man sollte es nicht versäumen aus der Innenstadt mit den Leipziger Straßenbahnen dorthin zu gelangen. Sie fahren in dichtem Takt und die Reise mit den Modellen der verschiedensten Bahnen-Generationen ist immer ein Ereignis. Manchmal geht es dabei etwas eng und hautnah zu und man hat so Gelegenheit die ersten Kontakte zu Kolleginnen und Kollegen zu knüpfen. Wem das nicht behagt, der wartet einfach auf den nächsten Zug und findet in diesem wahrscheinlich wieder ein großzügigeres Platzangebot.

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Wo ist Kehlmann? Am Donnerstag-Nachmittag, als die Preise der Leipziger Buchmesse vergeben werden sollen, ist für alle nominierten Autoren ein Platz mit ihrem Namen reserviert. Den Namen Daniel Kehlmann sucht man vergebens. Ist damit von vornherein klar, dass der Jungstar bei der Preisvergabe leer ausgeht? Das würde dann aber schon stark nach Schiebung riechen. Und wo ist er dann, wenn er nicht hier ist?
Am nächsten Tag erfahre ich, dass er an diesem Tag in Köln ist. In Köln bei der Konkurrenz. Beim Liteaturfestival „Litcologne“, welches neuerdings offensichtlich unbedingt parallel zu Leipzig stattfinden muss. Mit Grönemeyer fragt man: „was soll das?!“, blättert kurz virtuell im Programm und findet unseren vermissten Kehlmann – nicht in kasachischer Steppe – sondern am deutschen Rheine wieder: Um 19 Uhr und dreißig liest er im Theater am Tanzbrunnen, Rheinparkweg 11, wer dabei sein will zahlt oberstolze 12 bis 17,50 Euronen. Am Freitag-Abend taucht er dann in Leipzig auf und liest im Schauspielhaus. Den Preis hat er nicht bekommen. Weil es so vorgesehen war? Oder jetzt erst recht zu recht nicht?
Ich halte es mit Clemens Meyer, der alles Wichtige zu diesem Thema im FAZ-Blog auf den Punkt bringt:
„Preise wurden auch noch vergeben. Alles Prima. Lesen Sie Zeitung. Kommen Sie ins „Bricks“. Fahren Sie nicht nach Köln. Einsturzgefahr.“

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Nachwuchs. Die Messe ist bunt, fröhlich und jung, auch wenn einmal einen ganzen Tag lang der Regen über das riesige Dach der Glashalle rinnt. Am nächsten Tag scheint wieder die Sonne und verwandelt die Lokalität in eine Mega-Sauna. Autoren und Zuhörer schwitzen, die Getränkestände machen gute Umsätze und jede Menge pittoresquer Gestalten wimmeln, hüpfen oder schreiten zu zweit, zu dritt und in größeren Gruppen durch die Hallen und zwischen den mit ernsten Mienen echte Literatur goutierenden „Erwachsenen“ hindurch.

Es sind Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene die sich in die Lieblingsfiguren ihrer Comic-, Hentei- oder Manga-Lektüren verwandelt haben.

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Zeh um Zeh. Wer zu Juli Zeh möchte, kommt an Bärbel Schäfer nicht vorbei. Die Plätze in der Autorenarena der Leipziger Volkszeitung – wo Zeh um 14 Uhr im Gespräch mit einem Redakteur des Blattes zu erleben sein wird – sind knapp; wer gut sehen und hören, hautnah miterleben möchte, muss rechtzeitig kommen. Wer rechtzeitig kommt, kommt gerade recht um der Ex-Moderatorin und Michel-Friedman-Gattin Schäfer bei der Vorstellung ihres aktuellen Werks zu begegnen. Zusammen mit Monika Schuck hat sie „Glücksgeheimniss: Paare erzählen vom Gelingen ihrer Liebe“ geschrieben – gar nicht so uninteressant das Thema und die Schicksale, schließlich sind wir fast alle irgendwie Paar: Ehepaar, Promi-Paar, Geschwister-Paar, Lesbenpaar, Nonne und Gott usw. Meine Hoffnung: Nach Schäfer gehen alle und ich bekomme einen guten Platz für die Diskussion um „Corpus Delicti“. Bärbel hat fertig und geht – aber sonst fast niemand. Alle saßen und standen bei Schäfer wegen Zeh. Und jetzt kommen jede Menge neue Neugierige dazu.
Ich habe dann doch noch ein gutes Plätzchen ergattert. Musste dafür den Corpus etwas einsetzen.

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E-Book-Hype. Den soll es ja geben. Er findet vor allem in den Medien statt. In Leipzig, rund um das Messegelände, wird das Thema eher sachlich gehandelt. Die neuen Geräte werden vorgestellt. Sind sie brauchbar? Bieten sie Mehrwert? Wer wird sie kaufen für um die 300 Euro? Die Lizenzen für die Inhalte müssen ja noch zusätzlich erworben werden. Man ist sich sicher, dass es in Zukunft neben Hardcover, Paperback, Buchclub, Sonderausgabe, Hörbuch, Hörspiel und Film, noch eine weitere Vermarktungskette geben wird. Eben das E-Book. Wie sich das auf das Angebot gedruckter Bücher auswirkt, ist noch nicht richtig abzusehen. Das konventionelle Buch wird aber mit Sicherheit in nächster Zeit nicht vom Markt verschwinden. Die Download-Versionen unterliegen zudem ebenfalls der Preisbindung. Das ist schon einmal fair.
Ein großes Fragezeichen dagegen hinter der aktuellen Hardware. Ist sie wirklich marktfähig? Oder macht das Handy das Rennen? Oder die schicken kleinen Netbooks? Alles in Bewegung. Alles in fluss. Wie immer halt.