Spät-Lese (5)

(Reife Bücher: Erstmals, neu oder wieder gelesen)

„Gertrud“ – von Hermann Hesse

Warum jetzt?

Die Meinung, dass der als kultig geltende amerikanische Film-Klassiker “Easy Rider” Berühungspunkte zu Werk und Gedankenwelt Hermann Hesses aufweist, ist eines der vielen Missverständnisse mit denen sich der Hesse-Leser, -Liebhaber und nicht ganz unkundige Hesse-Kenner anlässlich der ausgelassenen Feierlichkeiten rund um dessen 50. Todestag konfrontiert sieht. Der Dichter Hermann Hesse stammte aus polyglotter pietistischer Familie und wurde am 2. Juli 1877 im Königreich Württemberg geboren. Er starb am 9. August 1962 im Tessin; die meiste Zeit seines Lebens war er Schweizer Staatsbürger.

Eine Musikgruppe, die zum Film auch heute noch gern gehörte Popmusik über die Themen Freiheit und Abenteuer beisteuerte, wurde nach Hesses wirkungsmächtigen Roman “Steppenwolf” benannt. Längst wissen wir, dass die Mitglieder der Band keinerlei Kenntnis von Hermann Hesse hatten und die Namensgebung einem spontanen Einfall des erfolgsorientierten Managers zu verdanken war. “Born to be wild” kann uns also ebensowenig als geistige Essenz Hesses verkauft werden, wie die lederne Männer-Romantik des Road-Movies und dessen zunehmend gewaltgeladener Verlauf.

Die Stadt Calw (Gerbersau), in der Hermann Hesse zur Welt kam, die Sparkasse Nordschwarzwald, der selbsternannte Hesse-Nachfolger und Nuschelbarde Udo Lindenberg und viele Einrichtungen landauf, landab, fühlten sich nur zu gerne berufen, heftig zu veranstalten, auszustellen, zu verfilmen und aufzuführen, und damit Fremdenverkehr und eigenen Ruhm zu fördern. Auf diesem Rummel, der schon das ganze Jahr im Namen des runden Trauer-Jubiläums in Betrieb war, gehen nun so nach und nach die Lichter wieder aus. Die Phase der Hyperaktivitäten hat ihren Höhepunkt überschritten. Die Aufgeregtheiten beginnen sich zu legen. In Gerbersau kehren die ersten Bewohner hinter die Spitzengardinen zurück.

Wenn es um diesen Zwangsschwaben und Literatur-Nobelpreisträger Hesse geht, stehen immer wieder einige wenige Werke vielbeachtet im Mittelpunkt. Das Kindheitsdrama “Unterm Rad” etwa, die Legende “Siddhartha”, populäre Gedichte wie “Im Nebel” oder “Stufen”, das von den Wenigsten zu Ende gelesene “Glasperlenspiel” und natürlich der legendäre und sprichwörtliche “Steppenwolf.” Andere Werke hingegen haben deutlich weniger Käufer und Leser gefunden. Zu diesen zählt ganz sicher der Roman “Gertrud”, von dem mir vor Jahren eine ältere, schon recht zerlesene Ausgabe in die Hände fiel. Ich las sie kurz an und schließlich mit Hingabe und Bewegung zu Ende. Meinen Nerv hatte der Autor getroffen. Zudem freute mich, dass das Buch zu den umfangreicheren Werken Hesses gehört und ich so länger zu lesen hatte, als an schmalen Bändchen, wie dem “Lauscher”, “Kurgast” oder “Nürnberger Reise”, die ich alle auch sehr schätze.

Inhalt

Nach einem Unfall beim Schlittenfahren behält der angehende Musiker Kuhn eine Behinderung zurück, die seine weitere Laufbahn in Frage stellt. Mühsam findet er körperlich und seelisch auf den eingeschlagenen Weg zurück. Ein längerer Aufenthalt in einem graubündischen Bergdorf hilft ihm Klarheit in Denken und Fühlen zu finden und neue kreative Kraft zu schöpfen: “Aus dem Treiben, Schillern und Kämpfen meiner gesteigerten Empfindungen war Musik geworden.” Kuhn, der Ich-Erzähler des Romans, wird Komponist, ermutigt und gefördert von dem Sänger Muoth.

Eine Brot-Beschäftigung findet Kuhn als zweiter Geiger in einem Orchester. Sein privates Glück gestaltet sich derweil schwierig. Voller Unsicherheiten, verliebt er sich in die Sopranistin Gertrud. Für sie schreibt er eine Oper, doch gelingt es ihm nicht ihr entscheidend näher zu kommen. Gertrud erliegt vielmehr dem männlich drängenden Charme Muoths. Die beiden heiraten, was Kuhn in eine Lebenskrise treibt. Er trägt sich mit Selbstmord-Gedanken. Freiwillig aus dem Leben scheidet dann allerdings Muoth, als die Ehe mit Gertrud scheitert. Was bleibt, ist die platonisch distanzierte Freundschaft zwischen der Sängerin und dem Komponisten.

Hesses Sprache und Stil in diesem Buch, für dessen endgültige Fassung, die 1910 bei Albert Langen erschien, drei Anläufe notwendig waren, kann mit einigem Recht als spätromantisch eingestuft werden. Für die meisten Kritiker waren Sprache, Motive und Handlungsverlauf des Romans zu populär angelegt, “auf breite Konsumierbarkeit abgestellt,” wie der “Kindler” urteilt. Ich sehe das etwas anders. In Literaturwissenschaft- und -kritik, gab es immer wieder Versuche Hesse höhere literarische Qualitäten abzusprechen. An “Getrud” wurde das exemplarisch exekutiert; was leider dazu führte, dass das Buch heute in der breiten Öffentlichkeit und selbst bei echten Hesse-Verehrern, nicht angemessen wahrgenommen wird. Für mich nimmt die leichte Lesbarkeit des Textes, dem Werk nichts von seiner Bedeutung. Es gehört zu meinen Lieblingsbüchern Hesses.

Anmerkungen und Stimmen zum Werk

In seiner umfangreichen, aktuellen und spannenden Hesse-Biographie weist Gunnar Decker immer wieder auf die Schwierigkeiten Hesses mit den “Wirklichkeitsmenschen” hin. Sie sind nicht in der Lage sich in das Seelenleben und die Vorstellungswelten eines Künstlers zu versetzen. Die Verständigung mit ihnen scheitert ständig. Der unangepasste Kreative, der nicht in die üblichen Berufs- und Laufbahn-Schubladen passt, ist darauf angewiesen auf seinem “Eigensinn” zu bestehen. “Sei du selbst, so ist die Welt reich und schön”, lautet Hesses Credo und Fazit.

Einer der zentralen Momente des Romans ist die nicht erwiderte Anbetung Gertruds durch Kuhn. Eine Parallele zu Hesses Leben, dessen Verhältnis zu Frauen sich häufig in Verehrung aus der Ferne erschöpfte. Beiden männlichen Hauptfiguren hat Hesse autobiographische Züge mitgegeben.

Der Komponist Kuhn ist der gescheiterte Bürger, der zum Künstlertum geradezu gezwungen wird; der Sänger Muoth ein innerlich zerissener Mensch, und damit ein Vorläufer der späteren Steppenwolf-Figur. “Zwischen beiden steht Getrud, die gewiß am wenigsten faßliche, nur umrißhaft gestaltete Frau.” (Eike Middell) Hesse hat sich auf dem Gebiet der literarischen Frauendarstellung auch nie wesentlich weiterentwickelt. Besser gelingt ihm in “Gertrud” etwas anderes: “Erstmals versucht Hesse in diesem Buch die Gestaltung des künstlerischen Produktionsprozesses.” (Eike Middell)

Der früh verstorbene Hugo Ball (1886 – 1927 ), einer der ersten Dadaisten und Lautdichter, stand Hesse zeitweise sehr nahe. Er war mit dem Dichter so befreundet, wie man dem stets zu große Nähe meidenden Menschen Hesse überhaupt befreundet sein konnte. Ball schrieb die erste, bereits 1927 erschienene Hesse-Biographie. Sie war als Geschenk zum 50. Geburtstag des Dichters gedacht.

Ball sieht den Musikerroman “Gertrud” als Parallel-Stück zum einige Jahre später erschienen Malerroman “Roßhalde”. Musik war ja für Hesse die erste, wichtigste und tiefste Kunst. Für Hugo Ball war sie interessanterweise “die eigentliche Trug- und Illusionskunst, weil man in ihr und durch sie ums Leben betrogen wird”. Und er behauptet sogar, Hesse habe die “Gefährlichkeit der Musik erkannt” und wollte sich von ihr lösen. Auch wenn er das tatsächlich zu irgendwelchen Phasen seines Lebens gewollt haben sollte, gelungen ist es Hermann Hesse nie. Den Selbstbetrug nahm er dabei gerne in Kauf. Musik war für ihn zentrales Lebenselexier, Mozart sein Fixstern, und ein echtes Illusions-Gesamtkunstwerk wie die “Zauberflöte” eines seiner liebsten. Gerade dieses intensive Verhältnis Hesses zur Musik verleiht seiner “Gertrud” besondere Bedeutung.

Höhepunkte

Zwei Sätze aus diesem vielstimmigen Roman, die mir, neben vielen anderen, sehr gefallen: „Aus den eifrigsten Jungen werden die besten Alten und nicht aus denen, die schon in der Jugend wie Großväter tun.“ – “Und während es mir innen wohl oder weh erging, stand meine Kraft doch in Ruhe darüber, schaute zu und erkannte das Helle und Dunkle als geschwisterlich zusammengehörend, das Leid und den Frieden als Takte und Kräfte und Teile derselben großen Musik.”

Es geht also letztlich auch in diesem Buch um nichts anderes als um die von Hesse immer wieder behandelte Doppelwesenheit der Menschen im allgemeinen und jene des Autors und damit seiner Protagonisten im besonderen. Um Mensch oder Wolf, Verbrecher oder Ehrenmann, Bürger oder Künstler, gesund oder krank. Die uralte “Zwei Seelen ach in meiner Brust” – Geschichte.

In humaner Wirklichkeit jenseits aller Literatur sind es nicht selten auch noch mehr als zwei Seelen. So sah auch der Arzt und Schriftsteller Ludwig Finckh seinen Jugendfreund aus Tübinger Tagen: “Er war zwiespältig, driespältig, hundertspältig, er konnte sprunghaft wechseln.” Dass Ursprung und Urgrund damit verbundener lebenslanger Probleme in der Kindheit zu finden sind, hat Hesse immer wieder thematisiert: “… denn sie klingt mir dennoch in allen Träumen wie ein herrliches Lied herüber und klingt heute reiner und lauterer gestimmt, als da sie noch Wirklichkeit gewesen ist.”

Hesse, Hermann: Gertrud : Roman. – Bei Suhrkamp in verschiedenen Auflagen und Ausgaben

Decker, Gunnar: Hermann Hesse. Der Wanderer und sein Schatten. Biographie. – Suhrkamp, 2012

Middell, Eike: Hermann Hesse. Die Bilderwelt seines Lebens. 5. Aufl. – Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig, 1990 (nur antiquarisch)

Ball, Hugo: Hermann Hesse. Sein Leben und sein Werk. 12. Aufl. – Suhrkamp, 1985

Sudeleien: März 2012

Unterwegs in Gerbersau

(Um es gleich zu sagen: Diese Sudeleien sind für einen Blog-Beitrag etwas zu lang geraten. Wer also meint, das sei ihm zu viel, er habe eh‘ keine Zeit oder dem Text fehle sowieso jegliche praktische Relevanz, und was der Leseverweigerungs-Begründungen mehr sind, der möge am besten gar nicht erst mit der Lektüre beginnen.)

Beim Ziellosvormichhinschlendern durch einen nieseligen Tag und durch Gässchen und Durchlässe, über Brücken und Stege unserer heimelig winkligen Dreiflüssestadt, musste ich an die Frage des Users “Minhthang” denken, die ich neulich in der Wissens-Community “COSMiQ” gelesen hatte: “Kann mir jemand sagen, wo Gerbersau in Deutschland liegt?” Mir persönlich geht es, ganz gleich wo ich gerade bin, häufig so, dass ich das Gefühl habe, zwar nicht als Teilnehmer dabei, aber irgendwie dennoch mittendrin zu stecken – in Gerbersau.

Am 9. August 2012 jährt sich der Todestag des Dichters und Literatur-Nobelpreisträgers Hermann Hesse (1877 – 1962) zum 50. Mal. Aus diesem Anlass plant nicht nur die Hesse-Geburtsstadt Calw zahlreiche Aktionen und Veranstaltungen. Damit an dieser Stelle nicht schon Leser abhanden kommen, findet man den Link dorthin erst am Ende des Artikels. In den nächsten Wochen werde ich außerdem noch einmal auf diesen für Literaturfreunde bedeutenden Anlass zurückkommen.

Gerbersauer Idylle

Hesses Verhältnis zu seiner Heimatstadt war in Kindheit und Jugend voller Spannungen, der meist gemütlich genügsame Gerbersauer Geist für den phantasievoll reichbegabten Knaben nicht leicht zu ertragen, die Schulzeit über weite Strecken die reine Qual. Im “kleinen Schwarzwaldnest” war “nie ein Mensch ausgegangen, der einen Blick und eine Wirkung über das Engste hinaus gehabt hätte.” Zwar verklärte sich manches im Lauf der Jahre und Hesse selbst hat die Erinnerung an das Städtchen in seinen Werken immer wieder romantisch verpackt, dennoch war er sich darüber im Klaren, dass dort für ihn kein dauerhaft erträgliches Leben möglich gewesen wäre: “… obwohl Calw für mich nicht halb so schön wäre, wenn ich öfter als alle drei, vier Jahre hinkäme”, hat er 1915 an seine Schwester Adele geschrieben.

Auch das städtische Gemeinwesen wurde und wird nicht nur von vorbehaltlosen Bewundereren des in aller Welt geschätzten Dichters bewohnt. Desinteresse und skeptische Ablehnung waren über Generationen hinweg fester Bestandteile der Einschätzung. In dem Artikel “Hermann Hesses Gerbersau”, der 1930 in der Vossischen Zeitung, Berlin erschien, kam Hans Popp zu dem Fazit: “Die Calwer selbst lieben ihn nicht, sie begreifen ihn nicht; ohne Verständnis für seine große Liebe, die er zu ihnen im Herzen trägt, ohne Verständnis für seine große Seele stehen sie ihm gegenüber, unverstanden steht Hesse unter ihnen, er, der als erster verdienen würde, ihr größter Freund zu sein.” Da sich daran bis heute nicht so grundlegend etwas geändert hat, sind wohl die Bemühungen zum diesjährigen Jubiläumsjahr weniger der literarischen oder persönlichen Bedeutung Hesses, als vielmehr einem kommerziell touristischen Hintergrund geschuldet. Das muss das eine oder andere Ereignis und Angebot der kommenden Wochen und Monate aber keineswegs uninteressanter machen.

Der Trommler und Sprach-Wirbler Udo Lindenberg sagte in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung auf die Frage, ob er Hesse gelesen habe: “Das hat mich gepackt. Wie kann einer über mich schreiben, der mich nicht kennt? Hab’ ich gedacht. Die kleine Stadt, die bürgerliche Enge, der Stress in der Schule, die Suche nach Coolness, der Ausbruch.” Zur Erinnerung: Lindenberg stammt aus einem Gerbersau namens Gronau.

Vor einigen Jahren hat er, inspiriert von Leben und Werk Hermann Hesses, die Udo-Lindenberg-Stiftung gegründet. Diese “fördert junge Texter und Musiker durch Wettbewerbe, um neue Wege gegen das Mitmarschieren in der Masse zu suchen, provokant zu schreiben und sich nicht anzupassen an Mainstream und Casting-Wettbewerbe. Sie will nationale und internationale kulturpolitische Aktivitäten unterstützen, sowie durch die Förderung humanitärer und sozialer Projekte weltweit den Schwächeren zur Seite stehen.”

Gerbersau-on-Wye

“In manchen Augenblicken war Altes und Neues, war Schmerz und Lust, Furcht und Freude ganz wunderlich durcheinander gemischt. Bald war ich im Himmel, bald in der Hölle, meistens in beiden zugleich.” 

Es gab Zeiten, da wollte ich ganz gerne wie Harry Haller sein. Allein mit mir, der Musik Mozarts, dem nie leer werdenden Glas Rotwein, zu nichts und niemandem verpflichtet, als Verrückter da und dort freien Eintritt genießend; hin und wieder würde mich genau so das eine oder andere Gerbersauer Mädel unheimlich cool finden und nicht nur zum Tanze bitten; ich würde Traktate schreiben und sie anschließend in den Wind werfen; meine Kammer wäre kahl und damit mein Leben ohne belastenden Unrat; so lebte ich für und für, Tag um Tag, Jahr um Jahr, für meine Gleichzeitigen längst zur Legende geworden. – Im realen Leben hingegen war ich lediglich bemüht kein Serenus Zeitblom zu werden.

Bis zum hier angesprochenen Jubiläum, dem Todestag Hermann Hesses im August, ist es noch einige Zeit hin. Ein anderer bemerkenswerter Jahrestag liegt hingegen bereits unmittelbar vor uns. Am 24. März wird Martin Walser 85 Jahre alt. Ist es wirklich schon wieder fünf Jahre her, dass er direkt vor mir über einen Leipziger Zebrastreifen ging? Begleitet von Kameramann und Pressefrau. Am Abend hat er gelesen. Vor vielen Menschen, die ihm kräftig applaudierten und ihn hochleben ließen. Damals konnte man nicht ahnen – und entsprechende Prognosen wären gewagt gewesen – dass Walser kurz vor seinem 85. Geburtstag wieder zur Frühjahrs-Buchmesse kommen würde.

Gerbersau am See

Martin Walser lebt seit Jahrzehnten in Gerbersau am Bodensee. Einmal – vor einigen Jahren – wollten die Menschen in diesem Landstrich dem Dichter und Zeitgenossen ein Denkmal spendieren. Ein fleißiger, vielerorts vertretener Künstler, bekannt für seine ebenso plastischen wie leicht hinterfotzigen Arbeiten, führte von den Honoratioren abgenickte Entwürfe gekonnt und an zentraler Stelle aus. Der Mensch und Schriftsteller Walser war nicht angetan, hingegen gewillt, den Bildhauer und seine Intentionen gründlich misszuverstehen. Das war eigentlich nicht schön und direkt so kleingeistig, wie es den ganzen Gerbersauern im Ländle des Schriftstellers gern unterstellt wird.

Dabei hätten Walser Kunstsinn und etwas Toleranz ganz gut gestanden, schließlich war er selbst schon öfters Opfer gravierender Missverständnisse. Wie damals in der Paulskirche von Gerbersau am Main. Oder erst kürzlich mit seinen Glaubensthemen-Büchern „Mein Jenseits“ und „Muttersohn“, als man ihn prompt in die religiöse Erweckungs-Schublade stecken wollte. – (Zu beiden Titeln sind auf = conlibri = seinerzeit Rezensionen erschienen; diese sind jetzt noch einmal auf der Seite „da capo“ zu finden.) – Nein, zum tief Gläubigen, zum kritiklos Glaubenden, zum Hoffenden auf das Jenseits ist er nicht geworden. Er macht uns nur klar, dass uns ohne Glauben Vieles fehlen würde. Wozu die zahlreichen, gedankenlos selbstverständlichen, meist vom ursprünglich religiösen Ursprung gelösten, künstlerischen, alltags-kulturellen und musikalischen Glaubenszeugnisse gehören. Und nicht zu vergessen – Walser betont das unermüdlich -, schließlich sei auch die Liebe reine Glaubenssache.

Leipzig-Gerbersau

Ab Donnerstag ist wieder Buchmesse in Leipzig. Martin Walser wird dort sein. Er wird u. a. seinen Essay „Über Rechtfertigung, eine Versuchung“ vorstellen, in dem er die Verarmung beklagt, die wir durch das Fehlen eines Bedürfnisses nach Rechtfertigung erfahren. Seine Zeugen dafür sind Kafka und Augustinus, Luther, Calvin und Max Weber, Nietzsche und Karl Barth. Außerdem kommt unter dem Titel „Meine Lebensreisen“ noch eine schmale, überteuerte Resteverwertung auf den Markt. Ein bisschen viel hat er ja schon drauflosgeschrieben in den letzten fünf Jahren und seine Verlage ein klein wenig zuviel drauflosveröffentlicht.

Auch ich werde wieder an der Weißen Elster, in den Messehallen und bei einigen der vielen Veranstaltungen an kontrastreichen Örtlichkeiten der spannenden Stadt unterwegs sein. Und irgendwann danach für = conlibri = ein paar Zeilen darüber schreiben. Über meine Erlebnisse und Begegnungen mit Menschen und Büchern in Leipzig, rund um die Buchmesse und das große Lesefest “Leipzig liest”.

Zum Hesse-Jahr findet man hier Infos die weiterhelfen: Gerbersau/Calw/Hesse/Juliäum

Das Verhältnis Hesses zu Calw wird in diesem ergiebigen Buch gründlich aufgearbeitet:

Schnierle-Lutz, Herbert: Hermann Hesse und seine Heimatstadt Calw. Chronologie eines wechselvollen Verhältnisses. – Calw : Stadtarchiv, 2011. Euro 15

Endlich gibt es auch wieder eine aktuelle Biographie:

Schwilk, Heimo: Hermann Hesse. Das Leben des Glasperlenspielers. – München : Piper, 2012. Euro 22,99

Das Neueste von Martin Walser:

Walser, Martin: Über Rechtfertigung, eine Versuchung: Zeugen und Zeugnisse. – Reinbek : Rowohlt, 2012. Euro 14,95

Walser, Martin: Meine Lebensreisen. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Thomas Schmid. – Hamburg : Corso, 2012. Euro 24,90

Calw und Hesse machen es möglich

Volker Braun und Walter Kappacher, Helga Schütz und Judith Kuckart – in einem Band

„Die schönste Stadt ist Calw an der Nagold“. Dreissig Texte der Calwer Hermann-Hesse-Stipendiaten. Mit einem Vorwort von Andreas Narr. Herausgegeben von Friedrich Pfäfflin. In diesen Wochen erschienen bei Klöpfer und Meyer, Tübingen.

Hermann Hesse musste seine Heimatstadt erst verlassen, um sie danach ein ganzes Dichterleben lang romantisch verklären und ihr mit schönen Worten nachtrauern zu können.

„Zwischen Bremen und Neapel, zwischen Wien und Singapore habe ich manche hübsche Stadt gesehen, Städte am Meer und Städte hoch auf Bergen, und aus manchem Brunnen habe ich als Pilger einen Trunk getan, aus dem mir später das süße Gift des Heimwehs wurde. Die schönste Stadt von allen aber, die ich kenne, ist Calw an der Nagold, ein kleines, altes, schwäbisches Schwarzwaldstädtchen.“ So schreibt Hesse 1918 in „Heimat“.

In der Realität war Calw, das als Gerbersau in Hesses Werk vielfach beschrieben wurde, am Ende des 19. und noch weit in das 20. Jahrhundert hinein, ein winkliges Städtchen mit wenigen tausend Einwohnern, eingeklemmt zwischen steile Waldhügel, hinter denen früh die Sonne sinkt. In den engen Gassen, zwischen schiefen Häusern, lebten Menschen mit sehr begrenzten Vorstellungs-, aber energischen schwäbischen Schaffenskräften, ganz im Geiste eines Kunst und Sinnlichkeit verleugnenden Pietismus. So taten sich nicht nur die liebevollen, aber überforderten Eltern schwer mit dem heftig pupertierenden, früh zu dichterischer Laufbahn entschlossenen Hermann. Ganz Calw war empört, als der Sohn eines Missionars mit 16 Jahren, nach schwieriger Schullaufbahn, mehrere Monate mit scheinbar nichts als Lesen und durch die Gegend spazieren verbrachte – also rumhing, wie man heute sagen würde. Für die im produktiven Tagwerk stehenden Menschen lediglich nutzloser Müßiggang und nach damaliger Wert- und Glaubensskala nahe an der Sünde. Noch mehr entrüsteteten sich große Teile des kleinen Gemeinwesens, als der Knabe es wagte, die in der örtlichen Bücherei nicht vorhandenen Werke des „undeutschen“ Heinrich Heine von außerhalb zu erwerben und zu verschlingen.

Hermann Hesse (1905). Portrait von Ernst Würtenberger (1868-1934)

Hermann Hesse musste also Calw und Elternhaus den Rücken kehren, um den ihm gemäßen Weg einschlagen zu können. Er musste das „schwäbische Schwarzwaldstädtchen“ hinter sich lassen, um später von der „schönsten Stadt von allen“ schreiben und schwärmen zu können. Die Stadt Calw hat Hesse erst spät, in den jüngsten Jahrzehnten, für sich entdeckt. Heute wird er umso eifriger zur Image-Aufbesserung einer etwas biederen Kommune und als touristischer Magnet benutzt.

Seit 15 Jahren lädt die Calwer Hermann-Hesse-Stiftung jedes Jahr zwei bis drei zeitgenössische Autoren ein, mit einem Stipendium und freier Unterkunft ausgestattet, drei Monate in der Hesse-Stadt zu verbringen. Erbeten wird dafür ein „Calwer Manuskript“, ein Tagebuch, ein Bericht, eine Skizze, Prosa oder Lyrik, die während des Aufenthalts entstehen sollten. Erstmals versammelt nun ein umfangreicher Band solche – dem schwarzwälder Reizklima entsprungenen – Arbeiten von 30 Schriftstellern und Schriftstellerinnen, die dieser Einladung gefolgt sind.

Das Buch eignet sich sicher nicht als durch- und leichtgängiger Lese-Stoff, zu unterschiedlich sind in Form und Inhalt, in Gestaltung und Ausdruck, die hier versammelten Texte. Doch hat man die reizvolle Möglichkeit von vielleicht schon bekannten Namen Unbekanntes, eventuell sogar Überraschendes zu lesen oder auch die eine oder andere Neu-Entdeckung zu machen und sich zu weiterer Beschäftigung mit einem Schriftsteller verführen zu lassen.

Dazu einige Andeutungen, wie breit das Spektrum des vorliegenden Materials ist.

Im ersten Beitrag empfindet Volker Braun Calw als Bühnenkulisse und spricht das problematische Verhältnis Hesses zu seinem Herkunftsort an. Klaus Günzel schlägt in einer längeren Abhandlung einen, bei Hesse naheliegenden, Bogen zur Romantik, sucht aber auch auf intensiv sensorische Weise die Verbindung zu den Dichtergrößen des württembergischen Kernlandes: „Zunächst aus rein literarischem Interesse bestellte ich einen Schwarzriesling aus Hölderlins Geburtsort Lauffen, sodann einen Schillerwein aus Marbach am Necker, endlich, um auch der schwäbischen Romantik zu huldigen, einen erfrischenden Kerner aus Weinsberg…“ Dass diese süffigen Schoppen, den literarischen Geist nicht nur anregen, konnte der Autor bald feststellen: „In der ‚Ratsstube‘ am Marktplatz saß ich einsam und löffelte meine Flädlesuppe, die … dem Getränke-Ansturm keine standhafte Grundlage bot.“

Gewohnt detailgenau und einfühlsam schildert Walter Kappacher seine „Tage in Calw“, einer der literarischen Höhepunkte der Anthologie. Dabei holt er weit aus: „Ich tauchte wieder ein in das Tübingen um 1820 und wünschte der Vierte im Bunde, dabeizusein, wenn Waiblinger und Mörike den verstörten Hölderlin in seinem Erkerzimmer abholen, wäre gerne mit ihnen zu dem Gartenhäuschen in den Weinbergen spaziert.“ Auch hier also die Remineszenz an die an Höhepunkten reiche württembergische Literaturgeschichte. Sehr schnell holt den österreichischen Hermann-Lenz- und Georg-Büchner-Preisträger jedoch die nur schwach kulturdurchwehte Atmosphäre des Provinzstädtchens ein: „Haben die Calwer je zur Kenntnis genommen, daß da in ihrer Stadt einer von auswärts sitzt und schreibt?“ Und über seine Rolle notiert er ernüchtert: „Man wünsche, der Stadtschreiber nehme teil am kulturellen Leben der Stadt, hieß es in der Einladung. Bisher habe ich nicht viel bemerkt von einem kulturellen Leben.“

Die in Frankreich geborene Josiane Alfonsi lebt und arbeitet in Tübingen. Sie schreibt Lyrik in deutscher und französischer Sprache. Ihr „Präludium für Herrmann Hesse“ und weitere Gedichte, als Ergebnis der Calwer Eindrücke, sind deshalb in beiden Sprachen abgedruckt. Ebenfalls lyrisch geht Hans-Michael Speier die Aufgabe an. Er dichtet hintersinnig: „so sauber alles / seidendüfte am marktplatz / stämme schwanken lapidar / am geldleuchtenden ufer“.

Auch die bekannte Germanistin und Goethe-Spezialistin Sigrid Damm hat den Weg nach Calw gefunden. Ihr längerer Werkstattbericht „Ein heißer Sommer“ gibt einen interessanten Einblick in die Gedanken- und Schaffenswelt der beliebten Autorin.

Es sind noch der ostdeutsche Philosoph und Schriftsteller Jens Sparschuh, der Südtiroler Joseph Zoderer, die Autorinnen Ursula Krechel und Angela Krauß, sowie die Eine und der Andere mehr vertreten. Facettenreich und spannend ist diese Veröffentlichung. Mit einer Hinführung von Andreas Narr und einem kundigen Nachwort von Friedrich Pfäfflin, der auch als Herausgeber zeichnet. Die Autoren und ihre Werke werden in einem Anhang recht ausführlich vorgestellt. Uns liegt damit eine Anthologie vor, die aus einem Anlass entstand, der zusammenführte, was sonst so nie zusammengekommen wäre. Eine Lektüre, die man gerne mehr als einmal in die Hand nimmt.