Rumänien von mir aus gesehen

Notizen zum diesjährigen Gastland der Leipziger Buchmesse

Den con=libri-Beitrag über die Leipziger Buchmesse 2018 hatte ich mit dem ansteckenden Optimismus des rumänischen Schriftstellers und Politikers Varujan Vosganian was die Zukunft des gedruckten Buches betrifft beendet. Dabei ist es um Buch und Lesen in seinem Land alles andere als gut bestellt, wie Kenner der Situation berichten. Es wird wenig Belletristik gelesen. Die Zahl der Buchkäufer ist gering und rückläufig. Gute Buchhandlungen gibt es nur in großen Städten, die logistischen Strukturen im Buchvertrieb sind unzureichend. Umso erstaunlicher mit welcher Vielfalt schreibender Persönlichkeiten Rumänien als Schwerpunktland auf der diesjährigen Messe vertreten war.

Als Aufbau-Taschenbuch ist jetzt Varujan Vosganians großer Roman Buch des Flüsterns neu erschienen, der generationenübergreifend vom Schicksal des armenischen Bevölkerungsteils in Rumänien erzählt. Die rumänische Originalausgabe stammt von 2009, eine erste deutsche Ausgabe aus dem Jahr 2013. Vordergründig eine Geschichte von Verfolgung, Ermordung und Vertreibung, entfaltet es seinen Reiz für den Leser über die Protagonisten. Vosganian erzählt vielstimmig und weit ausholend von Menschen die mit viel Glück den Säuberungen in der Türkei entkommen sind und in der Provinzstadt Focsani eine neue Heimat gefunden haben. Das Buch steht in der Tradition großer europäischer Familienromane, die von Einzelschicksalen aus mehreren Generationen erzählen und gleichzeitig ein ganzes Geschichtspanorama aufblättern. Die farbig-realistische Sprache machen die über 500 Seiten zu einem prägenden Leseerlebnis, was zu einem nicht geringen Teil der einfühlsamen Übertragung ins Deutsche durch Ernest Wichner zu verdanken ist.

Foto: Wiebke Haag

Meine Kenntnisse über Rumänien waren und sind eher mangelhaft. Die Vorstellungen von den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen im Land wurden von Klischees westlicher Berichterstattung geprägt. Von seinen Schriftstellern und Schriftstellerinnen und ihren Werken hatte ich bisher allenfalls am Rande erfahren.

Obwohl wie der Nachbarstaat Bulgarien inzwischen seit vielen Jahren Mitglied der Europäischen Union, kommt die ganze Region in unseren Medien nur selten vor und dann meist in negativen Zusammenhängen. Korruption, Misswirtschaft und Armut werden thematisiert, die Menschen mit ihrer Kultur, ihren Traditionen, ihren Sorgen und Freuden bleiben uns fremd. Zu sehr sind wir mit uns selbst, mit Brexit, Wachstumsraten und Autoabgasen beschäftigt. Eingelullt von Hollywood, Netflix und Co. hat es Neues, Fremdes, Unbekanntes aus diesen Teilen Europas immer schwer im westfixierten Deutschland anzukommen. In jener Kulturnation die schon den eigenen Osten nur verschwommen wahrnimmt.

Die Leipziger Buchmesse 2018 sollte eine der politischen Themen werden, hatte Messe-Chef Oliver Zille gefordert. Vorrangig ging es dabei um die zunehmende Stärke rechter Strömungen im Osten Deutschlands, um den angemessenen Umgang mit radikalen Verlagen, darum wie es um die Meinungsfreiheit bestellt ist und um die Diskussionskultur bei verhärteten Fronten. Aber es ging auch um Europa und die Rolle des Gastlandes im europäischen Kontext, ein aktuelles Thema, über das vielschichtig und kontrovers diskutiert wurde. Ich persönlich habe dabei einen Lernprozess durchgemacht. Dazu gleich. Zunächst weitere literarische Eindrücke.

Mich fasziniert literarisches Erzählen von Mitgliedern kultureller Minderheiten. Besonders Autoren und Autorinnen die in zwei und mehr Ländern leben oder lebten, die in mehr als einer Sprache zu Hause sind oder aus einer neuen Heimat über ihre Herkunft schreiben. Da wird man im Zusammenhang mit Rumänien reichlich fündig. In einem Artikel der Siebenbürgischen Zeitung vom 8. April finden sich markante Beispiele: Norman Manea aus New York, Dana Grigorcea und Cătălin Dorian Florescu aus der Schweiz, Matei Vişniec aus Frankreich, Carmen Francesca Banciu aus Berlin und die vielen Autoren und Übersetzer von Bukarest über Budapest und Wien bis Berlin.

Dana Grigorcea (links) und Cătălin Dorian Florescu (rechts)

Cătălin Dorian Florescu erzählt in Jacob beschließt zu lieben ein ebenso abenteuerliches wie exemplarisches Schicksal. Das Leben des Jacob Obertin aus dem schwäbischen Dorf Triebswetter im rumänischen Banat und seiner Angehörigen, Freunde und Zugehörigen ist überschattet von Flucht und Verrat, von Liebe und Freundschaft unter zeitweise unmenschlichen Bedingungen. Im Rumänien der 1920er- bis 1950er-Jahre spielt sich, auf engsten Raum konzentriert, die ganze Zufälligkeit und Wechselhaftigkeit europäischer Geschichte ab. Opfer sind stets die einfachen Menschen, die eigentlich nur ihre alltägliche Existenz bestreiten möchten, in einer Gegend, die ja bis heute nicht zur Ruhe gekommen ist.

Von den Büchern die mir im Umfeld des Rumänien-Schwerpunkts der diesjährigen Leipziger Buchmesse begegnet sind hat mich am intensivsten Die sieben Leben des Felix Kannmacher von Jan Konneffke beeindruckt. Ein Buch das ich, wie man sagt, mit heißen Ohren gelesen habe. Und ich war erstaunt, dass dieses bereits 2011 erschienene Werk eine insgesamt doch eher bescheidene Resonanz und Rezeption gefunden hat. Für mich einer der besten deutschsprachigen Romane des jungen Jahrhunderts. Wenn ich es auf einen Begriff bringen sollte: Blechtrommel-Format! Der aus Darmstadt stammende Autor ist mit einer Rumänin verheiratet und lebt nach längerem Aufenthalt in Rom seit etlichen Jahren in Wien und Bukarest.

Felix Kannmacher war einst auf dem Weg ein angesehener Pianist zu werden als ihm in Berlin SA-Männer seine Finger zertrümmern. Ab 1934 lebt er unter dem Namen Johann Gottwald in Bukarest unter der Obhut des gefeierten Klaviervirtuosen Victor Marcu. Er ist so etwas wie die Kinderfrau für dessen Tochter Victoria, für die er unter anderem als wild fabulierender Geschichtenerzähler unverzichtbar wird. Während die Regime wechseln, Krieg und Chaos kommen und gehen, wächst Victoria heran und zwischen ihr und dem ehemaligen Erzieher (man hatte sich zwischenzeitlich aus den Augen verloren) entwickelt sich eine zarte Zuneigung, aus der fast so etwas geworden wäre wie Liebe, wenn es die Zeitläufte und Umstände denn zugelassen hätten.

Felix Kannmacher ist ein mitreißender Roman über Deutschland und Rumänien, über Menschlichkeit und Unmenschlichkeit, Liebe und Haß, Not und Verrat. Eine pralle Erzählung, sinnlich, komisch und tieftraurig, realistisch in seinen Detailschilderungen, voll eigenwilliger Charaktere, die leiden und lieben, sehnen und scheitern. Unbedingt lesen!

Und damit zurück zu meiner veränderten Einstellung zu den südöstlichen EU-Staaten. War ich bisher skeptisch, wenn es um die EU-Mitgliedschaft von Rumänien oder Bulgarien ging – wirtschaftliche Probleme und innere Verfasstheit der Länder sprachen m. E. dagegen – hörte ich auf den Foren der Buchmesse glaubwürdige und überzeugende Stimmen, die klar machten warum diese Staaten dazu gehören müssen. Neben geostrategischen Überlegungen, die nahelegen sie in die bestehenden Bündnisse einzubinden um zu verhindern dass sie anderen Einflüssen oder gar Okkupatoren zum leichten Ziel werden, ist vor allem das Selbstverständnis großer Bevölkerungsteile von Bedeutung, die sich als Europäer verstehen und fühlen. In die EU setzen diese Menschen große Hoffnungen. Wir dürfen sie nicht im Stich lassen.

Sowohl in Rumänien als auch in Bulgarien leben starke ethnische und religiöse Minderheiten. Das desaströse Beispiel des ehemaligen Jugoslawien dient als Warnung was passieren kann, wenn man für deren Einbindung und Partizipation keine befriedigende Lösung findet. Wir wollen im Fall von Rumänien nicht gleich von Pulverfass reden, doch Stimmen wie Iris Wolff haben mehrfach darauf hingewiesen, dass Rumänien alles andere als eine multiethnische Idylle ist.

Navid Kermani und Mircea Cărtărescu forderten die zahlreichen Zuhörer, die zu ihrer gemeinsamen Veranstaltung in Leipzig gekommen waren, auf, sich nicht nur als Bürger des eigenen Staates zu verstehen, sondern gleichzeitig als Bürger Europas. Den beiden geht es weniger um die EU an sich, als vielmehr um einen gemeinsamen Begriff von Europa auf der Basis der Gedanken der Aufklärung. Der in Köln lebende Navid Kermani warnte gleichzeitig: Ich möchte mir nicht vorstellen müssen, was aus Rumänien geworden wäre, wenn es nicht in die EU aufgenommen worden wäre.

Mircea Cărtărescu (2. von links), Navid Kermani (rechts)

Das rumänische Kulturministerium hat eine Broschüre herausgegeben die Neuerscheinungen rumänischer Literatur in deutscher Übersetzung vorstellt. Wenn man Glück hat findet man die eine oder andere Buchhandlung die das informative weiterführende Heft bereit hält. Ansonsten kann man hier um Zusendung bitten:

https://zoom-in-romania.ro/kontakt/

Das Goethe-Institut bietet einen deutsch-rumänischen Literaturblog an, dort findet man z. B. einen Rückblick auf die diesjährige Leipziger Buchmesse und die Aktivitäten des Gastlandes:

http://blog.goethe.de/dlite/

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Und das sind die Daten der von mir erwähnten Bücher:

Vosganian, Varujan: Buch des Flüsterns. – btb, 2018 (Original 2009 u. d. Titel: Cartea soaptelor)

Florescu, Cătălin Dorian: Jacob beschließt zu lieben. – dtv, 2012

Koneffke, Jan: Die sieben Leben des Felix Kannmacher. – DuMont Taschenbuch, 2012

Leipziger Buchmesse 2011 – eine erste Nachlese

„Wir lieben Leipzig!“

Mit diesem Ausruf beendete dtv-Chef Wolfgang Balk die diesjährige Lesenacht seines Verlags im akademixer-Keller und sprach damit sicher nicht nur den Anwesenden aus dem Herzen, sondern den meisten Besuchern von Buchmesse und “Leipzig liest”.

Am Sonntag ging die diesjährige Leipziger Buchmesse zu Ende; nach erneutem Besucherzuwachs nähert sich dieser Frühjahrshöhepunkt wohl endgültig seiner Kapazitätsgrenze. Der Wunsch nach einem Fachbesuchertag wurde deshalb von zahlreichen Buchhändlern und Bibliothekaren, Verlags- und Medienleuten immer wieder geäußert.

Voll. Voller. Leipziger Buchmesse. Gedränge also, und Geschiebe in allen Hallen und Gängen, an Ständen und vor Foren und Bühnen. Kein Durchkommen und dennoch allerorten buntes, oft fröhliches Treiben. Aber auch ernsthafte Diskussionen und hintergründige Gespräche. Medienrummel zudem. Bei =CONLIBRI= nun einige Eindrücke von – überwiegend – literarischen Aspekten des viertägigen Ereignisses. Eine klitzekleine Auswahl nur, zudem ganz den persönlichen Lieben und Vorlieben des bloggenden Besuchers folgend.

Setz. Clemens Johann Setz bekam den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Belletristik für seinen Erzählband “Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes.” Das war durchaus überraschend und unterstreicht einmal mehr die mögliche Eigendynamik solcher Preisträger-Findungsprozesse. Nun mag der gewollt originell und verstörend wirkende Titel des Buches ebenso etwas abschrecken wie die dargestellten Gewalt- und Pornowelten; mangelndes Schreib-Talent kann man dem 28-jährigen Autor jedoch nicht unterstellen. In bester östereichischer Jungautoren-Tradition – erinnert sei etwa an Handke oder Bernhard – gab er sich in den Tagen vor der Auszeichnung betont raubeinig, pointenreich provozierend, und verzichtete auch nicht darauf kräftige Seitenhiebe an Kolleginnen und Kollegen des schreibenden Gewerbes zu verteilen. Das änderte sich, als dann der Preisträger von Termin zu Termin gereicht wurde. Er lobte sogar ausdrücklich Wolfgang Herrndorf und dessen Roman “Tschick”, den er mit großem Vergnügen gelesen habe und dessen Verfasser den Preis ebenso verdient hätte. Wolfgang Herrndorf hatte wie Arno Geiger (“Der alte König in seinem Exil”) zu den Favoriten gezählt; er konnte wegen seiner tragischen Erkrankung nicht nach Leipzig kommen.

Bank. Zu meinen ganz persönlichen Favoritinnen gehört schon seit einiger Zeit die Schriftstellerin Zsuzsa Bank, deren Debüt-Roman “Der Schwimmer” vor einigen Jahren großen Eindruck auf mich gemacht hat. Insbesondere die sprachlichen Fähigkeiten der Autorin, die aus einer ungarischen Familie stammt, aber von Anfang an in Deutsch schrieb, sind bemerkenswert. Man muss sich in den letzten Jahren immer wieder wundern, wie viele Schriftstellerinnen und Schriftsteller die deutsche Literatur bereichern, die in eine andere Sprache hineingeboren wurden. Auch im neuen Roman “Die hellen Tage” findet Bank wieder zu ihrem weichen, melodiösen Sprach-Rhythmus. Erzählt wird die Geschichte dreier Familien und die zahlreichen Zerreißproben ausgesetzte Dreiecksbeziehung von Seri, Karl und Aja. Das Buch spielt u. a. in einem phantasievoll farbigen Zirkus-Milieu. „“Die hellen Tage“ sind für mich das schönste Buch des Frühjahrs 2011″, sagte Christine Westermann im WDR.

Florescu. Auch die Muttersprache von Catalin Dorian Florescu war nicht Deutsch sondern Rumänisch. Heute lebt er als deutschsprachiger Autor in der Schweiz. Bereits seine letzten beiden Romane “Zaira” und “Der blinde Masseur” fanden große Beachtung und zahlreiche Leser. In Leipzig stellte er sein Buch “Jacob beschließt zu lieben” vor. Es ist die abenteuerliche Lebensgeschichte des Jacob Obertin aus dem schwäbischen Dorf Triebswetter im rumänischen Banat, samt seiner Vorfahren. Florescu erzählt farbig und flott. Anekdotenreich und sinnlich schildert er Sitten und Gebräuche, Glauben und Aberglauben des europäischen Südosten. Manchmal hat man beim Lesen das Gefühl Schnaps und Knoblauch zu riechen. Der Autor berichtete, dass er sich immer wieder einige Zeit in Rumänien aufhält um neue Eindrücke, Stoffe und Geschichten zu sammeln. Für ihn ist Europa im übrigen eine einzige große Migrationsgeschichte.

Catalin Dorian Florescu zu Gast bei 3sat

Sofa. Polstermöbel allerorten. Traditionsreich, zentral positioniert und menschenreich umlagert, das blaue Sofa. Aufgestellt von Bertelsmann, Deutschlandradio Kultur und ZDF, nimmt hier alles Platz was einen Namen hat oder sich einen machen möchte. Nicht alle Gäste sind dabei von wirklich literarischem Rang wie Karen Duve, Margriet de Moor oder Melinda Nadj Abonji. Die meisten sind einfach populäre Figuren oder Darsteller unserer immer stärker ausfasernden Medien-Landschaft. Ein Joachim Krol ist ebenso dabei, wie die unvermeidliche Veronica Ferres, Gutmensch Todenhöfer und Leidfigur Walter Kohl, Radler Täve Schur oder die Übergröße Jörg Thadeusz. Tiefschwarz hingegen ist die Sitzgelegenheit für die Komik- und Manga-Fraktion; rot das Möbel auf dem Stand des Universitätsradios “Mephisto 97.6” – ein bemerkenswerter Messeteilnehmer, über den in einigen Tagen in einer zweiten Nachlese einige Sätze zu lesen sein werden. Ein Sofa befand sich auch im zweiten Stockwerk der innenstädtischen, lauschigen Connewitzer Verlagsbuchhandlung und hier saß dann am Abend nach getaner Messe-Schicht noch einmal der Eine oder die Andere in angenehm intimen Rahmen, las, plauderte, gab bereitwillig Auskunft und signierte vor eher kleinem, aber sehr geneigtem Publikum.

Leipziger Tage sind kurz. Sie sind im Nu vorüber. Und wenn sie zu Ende gehen, hat man immer das Gefühl etwas verpasst zu haben. Doch auch der Kondition buch- und literaturaffiner Geister sind Grenzen gesetzt. Die Füße schwitzen, schwellen und schmerzen. Höchste Zeit also die letzte Station des dann schon fortgeschrittenen Abends anzusteuern. Ein finaler, müder Meinungsaustausch im Sitzen, bei Bier, Wein, spätem Würzfleisch, in „Volkshaus“, „Südbrause“, „Cafè Puschkin“ oder einer der zahlreichen Kneipen und Restaurants auf dem hochfrequentierten Drallewatsch, dann fällt der Vorhang und manche Frage bleibt bekanntlich offen.

Eine zweite Nachlese folgt in wenigen Tagen.