Spät-Lese (4)

(Reife Bücher. Erstmals, neu oder wieder gelesen)

“Irrungen, Wirrungen” von Theodor Fontane

Warum und wozu?

Nachdem ich einige Romane von Theodor Fontane gelesen und mich etwas mit dessen Biographie beschäftigt hatte, begann ich den Roman “Ein weites Feld” von Günter Grass besser zu verstehen. Darin geht es mal offen, mal verschlüsselt, fast ausschließlich um Leben und Werk Fontanes und die Leküre erfordert entsprechende Vorkenntnisse. Früher musste ich über den ruppigen, unsensiblen, als Spiegel-Titelbild epochemachenden, allzu wörtlich illustrierten Verriss des Buches durch Marcel Reich-Ranicki schmunzeln; inzwischen weiß ich, dass der Meister wohl falsch lag. Denn “Ein weites Feld” ist ein solches und setzt eben Neigung zu und Lektüre von Fontane voraus.

Ich selbst habe die Erzählwelt von brandenburgischer Mark, Oderbruch und preußischem Berlin reichlich spät für mich entdeckt, war lange Zeit dem Vorurteil verhaftet, dass diese “alten Geschichten” zu sperrig und schwer zugänglich seien. Irgendwann las ich dann kurz hintereinander “Vor dem Sturm”, das deutschsprachige Pendant zu Tolstois “Krieg und Frieden” und Fontanes umfangreichster Roman, die Novelle „L’Adultera“, in der ich das Humor-Potential Fontanes entdeckte und die dramatisch tragische Geschichte von der armen „Grete Minde“. “Effi Briest” und “Irrungen, Wirrungen” folgten bald darauf.

Effi Briest ist nicht nur aus meiner Sicht einer der großartigsten Romane in deutscher Sprache überhaupt. Man kann Thomas Mann nur zustimmen: „Eine Romanbibliothek…, beschränkte man sie auf ein Dutzend Bände, auf zehn, auf sechs, – sie dürfte ‚Effi Briest‘ nicht vermissen lassen.“ Fontane schildert darin eines seiner traurigsten und hoffnungslosesten Frauenschicksale. Davon kann man sich bei “Irrungen, Wirrungen” ein Stück weit erholen; denn hier finden wir eine preußische Gesellschaft vor, die sich schon so weit entwickelt hat, dass sie Konflikte zwischen Mann und Frau und den verschiedenen Ständen ohne Todesfälle lösen kann.

Wer war der Autor?

Theodor Fontane wurde erst im fortgeschrittenen Lebensalter zum Roman-Schriftsteller. Am 30. Dezember 1819 kam er in Neuruppin zur Welt. Er trat in die Fußstapfen seines Vaters und wurde Apotheker. Berufliche Stationen waren Magdeburg, Leipzig, Dresden und Berlin, wo er auch den Militärdienst leistete. Nebenher entstanden Erzählungen und Gedichte, die in Zeitungen und Zeitschriften erschienen. Fontane verkehrte in literarischen Zirkeln, wie dem “Tunnel über der Spree”, dem u. a. auch Paul Heyse und Adolf von Menzel angehörten. Die eigentliche Laufbahn des hauptberuflichen Schriftstellers begann 1849 als Korrespondent der “Dresdner Zeitung”, einige Jahre davon in England.

1862 erschien der erste Band der “Wanderungen durch die Mark Brandenburg”. In den 1860er und 1870er Jahren war Fontane Berichterstatter von Kriegsschauplätzen in Dänemark, Böhmen und Frankreich, wo er als Spion verdächtigt und zeitweise inhaftiert wurde. Bis 1889 schrieb er Theaterkritiken für die “Vossische Zeitung”. Sein erster Roman “Vor dem Sturm” erschien schließlich 1878, in rascher Folge dann weitere, bis 1899 mit “Der Stechlin” die Reihe der Roman-Veröffentlichungen abgeschlossen wurde. Da war der Autor bereits tot. Fontane starb 1898 in Berlin; aus seinem Nachlass wurde 1914 noch das Fragment “Mathilde Möhring” veröffentlicht. “Irrungen, Wirrungen” kam 1888 heraus, noch vor “Effie Briest” (1895), ist aber zeitgeschichtlich später angesiedelt.

Worum geht es?

Schauplatz ist Berlin. Die 1870er Jahre. Eine Zeit der technischen und gesellschaftlichen Umbrüche. Im Mittelpunkt steht die Liebe zwischen dem gut aussehenden, mit beiden Beinen fest im harten Alltag stehenden, selbstbewussten Bürger-Mädchen Lene Nimptsch und dem feschen, familiären ebenso wie überholten ständischen Traditionen verpflichtete Offizier und Baron Botho von Rienäcker. Diese Liebe hat von Anfang an keine Zukunft, was Lene schon immer klar ist, was er aber gegen jeden Verstand nicht wahrhaben will. Nicht einmal dann, als die kluge junge Frau ihrem Geliebten genau vorhersagt, wann der Moment der Trennung für immer kommen wird.

Eine solche Beziehung durfte im Preußen des bereits dem Untergang geweihten, aber immer noch tonangebenden Adels, nicht offen gelebt und schon gar nicht institutionalisiert werden. Doch was wir hier erzählt bekommen ist nichts weniger als die Geschichte einer großartigen weiblichen Selbstbehauptung und zaghafter früher Emanzipation. Fontane schildert realistisch, fast nüchtern, zwar mit Distanz, doch nicht ohne Ironie und leisen Humor. Sehr feinsinnig und facettenreich gelungen sind Nebenfiguren, wie die Nenn-Mutter Nimptsch, ihre Plauderfreundin Frau Dörr und deren knorrig-geiziger Ehegatte. Hier zeigt sich die ganze Größe und Qualität des Erzählers Theodor Fontane.

Was sind die Höhepunkte?

Zu den Höhepunkten des Romans gehört zweifellos der Ausflug von Lene und Botho zum Ausflugslokal “Hankels Ablage” an einem See am Berliner Stadtrand, sowie die anschließend im Gasthof gemeinsam im Doppelzimmer verbrachte Nacht. So direkt wird der Leser auf ein Paarungsgeschehen zwischen den Protagonisten in anderen Werken Fontanes nicht hingewiesen. Allerdings geschieht dies hier ohne die heute selbstverständlichen Details.

Dass die Geschichte für das Liebespaar in pragmatischen Zweckehen mit anderen Partner endet, muss letztlich als positiv angesehen werden. So bleiben alle Beteiligten und auch wir Leser von allzu großem Unheil und damit verbundener Trauer (wie oben bereits angedeutet: s. Effi Briest, wo das ganz anders endet.) verschont. Und wenn sie nicht gestorben sind … Das Buch eignet sich übrigens hervorragend für glückliche, unbeschwerte (Liebes)-Paare unserer Tage zum gegenseitigen Vorlesen. (Doch wer macht so etwas noch?!)

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Die Werke Fontanes gibt es in vielen verschiedenen Ausgaben. Vom wohlfeilen Reclam-Bändchen, über Taschenbücher, bis zu festgebundenen Varianten. Zur Lektüre empfiehlt sich auf jeden Fall eine kommentierte Ausgabe. So hat man die beste Möglichkeit erzählte Zeit und deren Geist richtig erfassen und mitempfinden zu können und letztlich mehr als nur eine alte Geschichte. Für Irrungen, Wirrungen empfiehlt sich deshalb:

Fontane, Theodor: Irrungen, Wirrungen. Roman, vollst. Ausgabe mit Kommentar und Nachwort von Helmuth Nürnberger. – München: dtv, versch. Jahre. Derzeit Euro 8,90