Herbst-Lese 2012: Martin Suter und Wolf Haas

In ihren neuen Romanen unterhalten uns zwei Erfolgsautoren hintergründig und gekonnt: Der Schweizer spielt dabei mit dem Phänomen Zeit, sein österreichischer Kollege mit der Mutter aller menschlichen Missverständisse – der Sprache.

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Thomas Taler hat vor einem Jahr seine langjährige Lebensgefährtin verloren. Sie wurde erschossen. Ein erster Verdacht fiel auf den älteren Nachbarn von der anderen Straßenseite. Er ist Witwer und geht in seinem gepflegten Garten etwas seltsamen Tätigkeiten nach. Doch es blieb beim Verdacht. Dem Einzelgänger und Sonderling konnte nichts nachgewiesen werden. Außerdem leidet der alte Mann an Parkinson und ist nicht mehr in der Lage mit einer Waffe zu zielen. Ein Mißtrauen bleibt allerdings, und die beiden Männer beobachten und belauern sich.

Schließlich kommt es – nicht ganz freiwillig – doch zu einer Annäherung dieser kammerspielartig verstrickten Hauptfiguren. Die Männer entdecken, dass sie ein ähnliches Verlust-Schicksal teilen und von einem gemeinsamen Wunsch besessen sind. Sie würden am liebsten Geschehenes, ihnen Widerfahrenes, rückgängig machen. Für die Realisierung wäre nichts weniger erforderlich als ein Eingriff in den Ablauf dessen, was man gemeinhin Zeit nennt. Herr Knupp hat sich den Theorien von wissenschaftlichen Außenseitern verschrieben, die die Existenz von Zeit leugnen. Er plant ein ambitioniertes Projekt und es gelingt ihm Thomas Taler als Mitstreiter zu gewinnen.

Martin Suter gehört zu den meistgelesenen deutschsprachigen Unterhaltungs-Schriftstellern. In seinen besten Büchern gelingt ihm immer etwas mehr, als nur den Leser mit handwerklich gut gemachter Kurzweil zufrieden zu stellen. Sie behandeln in origineller, manchmal überraschender Weise, ein zentrales Thema, das sachlich und erzählerisch gekonnt vertieft wird. In “Der letzte Weynfeldt” gewährte der Autor den Lesern Einblicke in die Welt des Kunsthandels; im Roman “Ein perfekter Freund” ging es um Fragen von Identität und Moral; und in “Small World” gelang es Suter die Problematik der Alzheimer-Erkrankung stilvoll, mit Fingerspitzengefühl und gleichzeitig fesselnd zu verarbeiten.

Die männlichen Hauptfiguren in den Romanen des Schweizers, der überwiegend in Guatemala und Spanien lebt, sind wirklich keine Helden. Eher durchschnittlich, unsicher, mit sich selbst nicht zufrieden, gelingt ihnen wenig, beruflicher Erfolg und Ambitionen halten sich entsprechend  in Grenzen. Sie sind oft so etwas wie der Gegenpol zu jenen bürgerlichen Karrieristen und Erfolgsmenschen, mit denen sie sich, um ihr Leben zu bestreiten und zu bestehen, Tag für Tag auseinandersetzen müssen, an denen sie leiden oder scheitern.

In seinem Roman “Die Zeit, die Zeit”, gelingt es Suter erneut, ein faszinierendes Grundthema mit einer phantasievollen Geschichte zu verweben. Nachdenklich verfolgt man die Auseinandersetzung mit der zentralen Frage des Buches, ob so etwas wie die Zeit überhaupt real existiert oder nur aus Vorstellung und Wirken des Menschen entsteht. Ist Zeit nur eine Illusion, die wir durch die ständigen und unaufhaltsamen Veränderungen empfinden? Pflanzen wachsen, Menschen altern, um uns herum ist nicht endendes Werden, Wandeln und Vergehen. Aber ist das wirklich Zeit?

Lesen Sie in diesem spannenden Buch auf gar keinen Fall den Schluss zuerst, wie Sie es sonst vielleicht gerne machen. Sie würden sich nicht nur um viel Lesevergnügen bringen, sie wären vielleicht auch verwirrt. Dieses Buch hat ein wirklich überraschendes Ende. Aber ist das Ende wirklich eine Überraschung? Und vor allem: Ist das Ende wirklich das Ende?

Suter, Martin: Die Zeit, die Zeit. Roman. – Diogenes, 2012. Euro 21,90

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Das fängt ja gut an:

“‘Verrate mir bitte nicht deinen Namen’, sagte Benjamin Lee Baumgartner zu der freundlich aus ihrem kleinen Imbisscontainer auf ihn herabblickenden Burgerverkäuferin. ‘Ich finde, wenn man den Namen von einem Menschen weiß ist der Zauber schon zerstört.’”

Wolf Haas und sein Verlag kennen sich aus im Geschäft. Der Verkaufserfolg eines neuen Buches fängt nicht erst mit den ersten Sätzen an, sondern bereits mit dem Titel. “Verteidigung der Missionarsstellung”, heißt deshalb der, nach für die Leser viel zu langer Wartezeit, endlich erschienene “neue Haas”. Wolf Haas bekommt es zwar hin, dass in der Erzählung auch das im Titel anklingende Thema kurz gestreift wird; einen Gegenentwurf zu den derzeit unausweichlichen “Shades of Grey” hat er jedoch keineswegs vorgelegt. Schließlich haben wir Leser mehr verdient als die spätpubertären, spracharmen Grauszonen einer E. L. James.

Ist dieser Roman nur ein Road-Movie, das in den legendären Westen der Vereinigten Staaten entführt? Oder doch eine lange und weite Zeitreise mit ungewissem Ziel? Mehr als um Raum und Zeit geht es in dem Roman um Spielarten von Sprache, ihre Wirkung und ihr immer etwas problematisches Verhältnis zur Realität. Was ist Begriff, was Erfahrung? Was ist a priori in dieser Welt und wofür haben wir überhaupt Worte? Welchen Begriffen und Ausagen können wir trauen? Und wenn doch das Gegenteil richtig ist? Wolf Haas hat sich im Vorfeld dieses Buches u. a. mit dem polnischen Logiker und Mathematiker Alfred Tarski, sowie dem Linguisten Benjamin Whorf beschäftigt und lässt seine gewonnenen Erkenntnisse geschickt in die wendungsreiche Geschichte einfließen. Das gelingt ihm glänzend und ohne die Dramatik des laufenden Geschehens zu beeinträchtigen. Dem Leser kommt das dann weder Polnisch noch Spanisch, sondern reichlich Chinesisch vor.

Während Haas so unnachahmlich leichthin und scheinbar mühelos erzählt, uns damit die möglicherweise gar nicht existierende Zeit auf amüsante Art vertreibt, inszeniert er gleichzeitig Sprache in einer ganz einmaligen und eigenartigen Weise. Dazu ist das Buch mehrmals mit typographischen Spielereien durchsetzt, die auf den ersten Blick fast albern wirken. Doch was uns vor der Lektüre vielleicht als Seiten-Schinderei vorkommt, will uns nach der Lektüre ebenso notwendig wie selbstverständlich erscheinen. Ebenso zwingend, wie die Regie-Anweisungen in eckigen Klammern, mit denen er uns weismachen will, er habe uns allzu ausschweifende epische Passagen erspart.

An dieser Stelle ist es erforderlich, das hier zu besprechende Objekt legt das nahe, einen Zeitraum einzufügen…
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Ende des Zeitraums.

Und die Handlung? Ja, die Handlung… Ist die überhaupt wichtig? Das soll gefälligst jeder selbst herausfinden. Eine Kernaussage, die diese Erzählung in mehreren Variationen ausbreitet, ist gar nicht sehr neu: Nur die Liebe zählt. Und – wie bereits angesprochen – die Sprache. Wenn da nur nicht die Seuchen wären. Diese weltbedrohenden Pandemien. Schließlich, endlich (endlich in diesem Zusammenhang eigentlich Stopp-Wort) und nicht zu vergessen, das Phänomen Zeit. “Ich liebe Déjà-vu-Erlebnisse.”, sagt die schöne holländische Übersetzerin zu Benjamin Lee Baumgartner, der zur väterlichen Hälfte (möglicherweise) von Hopi-Indianern, einer Untergruppe der Navajo, abstammt, die bekanntlich keine Zeit kennen. “Man hat das Gefühl, dass man durch die Zeit fällt.”

So schnell bin ich schon lange nicht mehr durch ein Buch gefallen.

Haas, Wolf: Verteidigung der Missionarsstellung. Roman. – Hoffmann und Campe, 2012. Euro 19,90   (Wichtiger Hinweis: Das Buch hat leider nur 238 Seiten!)