Biertrinker, Unruhestifter, Tonsetzer

Aktuelle Biographien über Dichter und Komponisten

In den letzten Wochen und Monaten sind einige neue, hochinteressante Biographien erschienen. Häufig war ein rundes Jubiläum Anlass für den Zeitpunkt der Veröffentlichung. Drei Bibliotheken musste ich bemühen, bis jene Bücher auf dem Schreibtisch lagen, mit denen ich mich befassen wollte. Inzwischen sind sie durchgesehen, angelesen und auf meine persönliche Lese-Dringlichkeit abgeschätzt.

04.131917463.2

Jean Paul. * 21. März 1763 in Wunsiedel (“Wonsiedel”), + 14. November 1825 in Bayreuth

“Wenigstens den Wert hat dieses Werk, daß es ein Werkchen ist und klein genug; so daß es, hoff’ ich, jeder Leser fast schon im Buchladen schnell durchlaufen und auslesen kann, ohne es wie ein dickes erst deshalb kaufen zu müssen.” Einmal abgesehen davon, dass sich der Buchhändler bedanken wird, da die Empfehlung des Autors geeignet ist dessen ohnehin schon schmale wirtschaftliche Basis weiter zu schwächen: So schnell ist man denn doch nicht fertig mit diesen gerade einmal knapp 100 Seiten. Die zitierte Empfehlung steht in der “Vorrede” zu “Des Feldpredigers Schmelzle Reise nach Flätz” eines für Jean Paul typischen Werkes.

Nicht durch Handlungsreichtum besticht die Erzählung, sondern durch Sprachkapriolen, Abschweifungen und allerhand satirisch-humorvolles Anspielen, was jedoch für uns heutige nicht mehr ohne weiteres verständlich ist. Dass der Text “mit fortlaufenden Noten” ausgestattet ist, hilft auch nicht weiter. Denn diese Fußnoten tauchen nicht nur in einer sehr eigenwilligen numerischen Reihenfolge auf; sie sind auch in keiner Weise geeignet dem Leser die Lektüre zu erleichtert. In vollem aphoristischem Glanz stehen sie meist ganz für sich. “Den Halbgelehrten betet der Viertelsgelehrte an – diesen der Sechzehnteilsgelehrte – und so fort; – aber nicht den Ganzgelehrten der Halbgelehrte.” So heißt es etwa in der Nummer 72, ohne dass sich ein Zusammenhang mit der Hauptgeschichte erkennen ließe; dafür folgen allzugleich die Nummern 35 und 17.

Helmut Pfotenhauer leitet die Arbeitstelle Jean-Paul-Edition der Universität Würzburg und war viele Jahre Präsident der Jean-Paul-Gesellschaft. Wie kaum ein anderer ist er also berufen, den 250. Geburtstag des großen Biertrinkers und leidenschaftlichen Schreibers mit einem Standardwerk über dessen Leben, Dichten und Publizieren zu würdigen. Der Wissenschaftler schildert den mühsamen, keineswegs selbstverständlichen Weg des Johann Paul Friedrich Richter – der sich als Schriftsteller Jean Paul nannte – zu Bildung und selbstbestimmter Berufsausübung, die langen Durststrecken der Erfolglosigkeit, die fehlende Anerkennung durch die Kollegen seiner Zeit – voran das klassische Weimar um den Geheimrat. Neben den Romanen und Erzählungen geht Pfotenhauer auch ausführlich auf das umfangreiche Briefwerk ein. Er legt eine Lebens- und Werkbeschreibung von hohem Niveau vor, die aber auch für Nicht-Spezialisten sehr gut lesbar ist. Zu Überblick und Orientierung tragen dabei die Anmerkungen und eine ausführliche Zeit- und Lebens-Chronik im Anhang bei.

Lese-Dringlichkeit: Baldmöglichst, da mit diesem Werk auch einiges an literaturgeschichtlichem Wissen vermittelt wird.

04.131917424.2

Zum 250. Geburtstag Jean Pauls wurde auch eine überarbeitete Fassung von Günter de Bruyns “Das Leben des Jean Paul Friedrich Richter” neu aufgelegt. Dabei handelt sich um keine streng wissenschaftliche Arbeit, sondern eine etwas freier gestaltete schriftstellerische Würdigung, die Leben und Schreiben Jean Pauls in engen Zusammhang mit dessen Zeit, Gesellschaft und Lebensumständen stellt. (Eine für die DDR-Zeit nicht untypische Vorgehensweise. De Bruyn gelingt es weitestgehend auf ideologische Klischees zu verzichten.) Ich besitze eine Lizenzausgabe der “Büchergilde Gutenberg”, des 1975 im Hallensischen Mitteldeutschen Verlag erschienenen Originals, die, wie damals nicht unüblich, aus DDR-Produktion stammt und zum Zwecke der Devisenbeschaffung nur im Westen verkauft wurde. Hergestellt im druckgraphischen Großbetrieb Karl-Marx-Werk in Pößneck. Die Lektüre dieses sprachlich sehr gelungenen Werkes war gleichzeitig meine erste Begegnung mit dem solitär neben den anderen Klassikern stehenden Autor. Seine Romane und Erzählungen zu lesen fällt allerdings auch versierten Lesern nicht leicht. Der absurde Sprachwitz und die vielen zeitbezogenen Anspielungen und Spitzen behindern die Verständlichkeit und hemmen den Lesefluss.

Lese-Dringlichkeit: Gering, da eine nochmalige Leküre wohl der Fülle anderer Lesevorhaben zum Opfer fallen wird.

Bertold (“Bert”) Brecht. * 10. Februar 1998 in Augsburg, + 14. August 1956 in Ost-Berlin (DDR)

In diesen Tagen jähren sich ja zum achtzigsten Male die Bücherverbrennungen der Nationalsozialisten. Bei jenen aus heutiger Sicht unfassbaren Aktionen „wider den undeutschen Geist“ gingen im Mai 1933 Bücher von Franz Kafka, Karl Kraus, Rosa Luxemburg, Robert Musil, Joachim Ringelnatz, Bertha von Suttner und vielen anderen in Flammen auf.  Mit dabei waren auch die Werke von Bertold Brecht und Kurt Tucholsky.

“Bertold Brecht. Lebenskunst in finsteren Zeiten” von Jan Knopf ist Summe und Krönung einer wissenschaftlichen Laufbahn, die in großen Teilen dem wichtigsten deutschsprachigen Dramatiker (und viele meinen auch des größten Lyrikers) des 20. Jahrhunderts gewidmet war und ist. Der Literaturwissenschaftler hatte eine Professur an der Universität Karlsruhe und baute dort die Arbeitsstelle Bertold Brecht (ABB) auf; er gab das Brecht-Handbuch heraus und ist Mitherausgeber der Großen Berliner und Frankfurter Ausgabe.

Brecht“Das simple Leben lebe, wer da mag! / … / Was hilft da Freiheit? Es ist nicht bequem. / Nur wer im Wohstand lebt, lebt angenehm!” (“Die Ballade vom angenehmen Leben”, aus der “Dreigroschenoper”)

Das Buch von Knopf ist umfangreich, dicht und detailgetreu. Auf jeder Seite spürt man die besondere Verbundenheit des Verfassers mit diesem charismatischen, schwierigen Menschen, dem genialisch lebensprallen Künstler. Brecht habe ich mir immer so ähnlich wie Wolf Biermann vorgestellt. Kraftvoll, zugewandt, von sich überzeugt, immer zwischen sehr laut und zart leise wechselnd. Die Biographie ist in historische Abschnitte gegliedert: Von “Deutsches Kaiserreich (1898 – 1918)” bis “Deutsche Folgen (1945/47 – 1956)”. Brechts typischer Stil wird mit vielen eingefügten Zitaten gegenwärtig für den Leser. Über das Verhältnis zu seinen Frauen – häufig ja auch engste Mitarbeiterinnen – erfährt man mehr neue Einzelheiten, als dem Gesamtbild des Menschen und Dichters gut tut.

Dafür staunen wir über die Schaffenskraft dieses Berserkers, die uns Knopf im Vorwort demonstrativ auflistet:“Bertold Brecht schrieb im Laufe seines kurzen Leben 48 Stücke (Shakespeare 37), über 2300 Gedichte (Goethe, der allerdings älter wurde, über 3000), etwa 200 Erzählungen … und immerhin drei Romane.” Die Brecht-Biographie von Jan Knopf ist kein einfaches Buch. Es fordert den Leser, es seziert den Gegenstand und ich bin gespannt, ob es eine lohnende Lektüre für mich werden wird.

Lese-Dringlichkeit: Gleich nach Büchner (s. unten).

Kurt Tucholsky. * 9. Januar 1890 in Berlin, + 21. Dezember 1935 in Göteborg

Wahrlich “ein deutsches Leben”, wie es im Untertitel von Rolf Hosfelds Buch heißt. Und ein deutsches Leiden, ein Leiden durch und mit Deutschland. Tucholsky, der so hart und treffsicher formulieren konnte, dabei so empfindlich und empfindsam war, der leichtfüßigen Humor und Traurigkeit so wunderbar verbinden konnte, wie man es aus seinen autobiographisch angehauchten Erzählungen “Schloß Gripsholm” oder “Rheinsberg” kennt.

41342MYSH1L._“Es war ein bunter Sommertag – und wir waren sehr froh. Morgens hatten sich die Wolken rasch verzogen; nun legte sich der Wind, und große, weiße Wattebäusche leuchteten hoch am blauen Himmel, sie ließen die gute Hälfte unbedeckt und dunkelblau – und da stand die Sonne und freute sich.” (“Schloss Gripsholm”)

Rolf Hosfeld hat bereits eine sehr beachtete Karl-Marx-Biographie geschrieben. In seiner neuesten Monographie stellt er neben dessen Werken, Tucholskys geographischen, sprachlichen und geistigen Heimatverlust durch die Machtergreifung der Nazis in den Mittelpunkt. “Innerlich zerrissen, rast- und heimatlos führte er ein Leben zwischen Berlin, Paris und Schweden.” Ausführlich geht Hosfeld auch auf die Frauen ein, die in Tucholskys Leben eine wichtige Rolle spielten. Else Weil und Mary Gerold mit denen er verheiratet war und die Spuren in seinem Werk hinterließen, Lisa Matthias, die in zeitweise nach Schweden begleitete, Getrude Meyer, mit der in England war, Hedwig Müller bei der er über ein Jahr in Zürich lebte.

Von großer Bedeutung war die Beziehung zu Carl von Ossietzky, mit dem zusammen er für die “Weltbühne” arbeitete, und der sich 1932 für den berühmten Tucholsky-Satz “Soldaten sind Mörder” vor Gericht verantworten musste. Da wurde er noch freigesprochen, doch bereits im Februar 1933 sperrten ihn die neuen Machthaber ins Konzentrationslager. Am 7. März 1933 erschien die letzte Nummer der “Weltbühne”, am 10. Mai fanden die ersten großen Bücherverbrennungen statt, am 23. August wurde Kurt Tucholsky, der sich in Schweden aufhielt, von den Nationalsozialisten offiziell ausgebürgert.

Hosfelds Biographie ist eine journalistische Arbeit, die mit wissenschaftlicher Sorgfalt geschrieben wurde und sehr gut lesbar ist. Nach den zahlreichen Mord- und Gewalttaten von Rechts in den letzten Jahren, in Zeiten wieder oder immer noch salonfähiger religiöser Intoleranz und teilweise unverhohlenem Rassismus, zum Zeitpunkt eines großen Neo-Nazi-Prozesses in München, ist es mehr als naheliegend sich mit Leben und Werk dieses konsequenten Pazifisten und Antifaschisten zu beschäftigen.

Lese-Dringlichkeit: Gleich nach dem “Brecht”. Zwei großartige Schriftsteller, zwei deutsche Lebensläufe, die ein wichtiges Gegengewicht zu aktuellen Zeiterscheinungen vermitteln. Zwei Bücher, die in die Schaufenster aller Buchhandlungen der Berliner Republik gehören.

Guiseppe Verdi. * 10. Oktober 1813 in Le Roncole, nahe Parma, + 27. Januar 1901 in Mailand

Richard Wagner. * 22. Mai 1813 in Leipzig, + 13. Februar 1883 in Venedig

Zur Einstimmung auf die nächsten Abschnitte habe ich ein CD eingelegt und es wären nun eigentlich zwei Komponisten mit ihren Biographien an der Reihe, die beide vor 200 Jahren geboren wurden. Doch während ich Arien aus “La Traviata” höre, kommen mir Zweifel, ob ich nicht den verträglichen Umfang eines einigermaßen lesenswerten Blog-Artikels sprenge, wenn ich die Bücher zu Verdi und Wagner so ausführlich darstelle, wie die über meine Dichter. Zumal ich alles andere als ein Musikspezialist bin. Deshalb sei in aller Kürze darauf hingewiesen, dass die einschlägigen Titel in den Literaturangaben am Ende des Beitrags aufgeführt sind: Die Bücher von Rosselli und Schwandt (Neuauflage) zu Verdi und die Biographie von Geck über Wagner (über den im Jubiläumsjahr noch sehr viel mehr Neues erscheint).

Und nur noch dies zur Ergänzung: Wagner und Verdi waren klassische Antipoden ihrer Zeit, in ihren Lebensentwürfen und den verwirklichten Kunstvorstellungen. Dazu bietet sich als alternative und sehr unterhaltsame Lektüre der Verdi-Roman von Franz Werfel an. Einer der Handlungsstränge des Buches ist der Rivalität zwischen Wagner und Verdi gewidmet und endet mit dem Tode Wagners in Venedig (!). Ein anderer dreht sich um den  Marchese Gritti, der die meisten Abende seines hundertjährigen Lebens in der Oper verbracht hat. “Der Marchese war neunundzwanzigtausenddreihundertundsiebenundachtzigmal im Theater gewesen, hatte neunhunderteinundsiebzig verschiedene Werke gehört… “ Der Roman gehört zu den schönsten, heute noch lesenswerten Büchern aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Georg Büchner. * 17. Oktober 1813 in Goddelau nahe Darmstadt, + 19. Februar 1837 in Zürich

Hermann Kurzke lehrte viele Jahre als Professor für Neuere Deutsche Literaturgeschichte in Mainz. Er ist ein bekannter und anerkannter Thomas-Mann-Spezialist, u. a. Mitherausgeber der “Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe”. Sein 1999 erschienenes und längst zum Standardwerk gewordenes Buch “Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk” setzte Maßstäbe sowohl der Biographik als auch der Werkinterpretation. Jetzt hat er sich mit großer Lust und Hingabe mit Georg Büchner beschäftigt. Kurzke, der in Mainz ein Gesangbucharchiv aufgebaut hat und dieses bis heute betreut, fand “Georg Büchner sei ein erfrischendes Kontrastmittel zum Kirchenlied.” Frisch und mitreisend ist in der Tat das vorliegende Werk “Georg Büchner. Geschichte eines Genies”.

“Den 20. ging Lenz durchs Gebirg. Die Gipfel und hohen Bergflächen im Schnee, die Täler hinunter graues Gestein, grüne Flächen, Felsen und Tannen.” Die ersten Sätze von Georg Büchners Erzählung “Lenz”, die ich bereits als Schullektüre kennenlernte. Über den tragischen Lebenslauf des Dichters Jakob Michael Reinhold Lenz habe ich später vor allem bei meiner Beschäftigung mit Goethe und seinem Umfeld mehr erfahren. Büchners Theaterstück Woyzeck konnte ich sowohl als Original-Sprechstück sehen, wie auch in der Alban Bergschen Opern-Interpretation erleben.

ln Kurzkes Buch lernt man einen neuen Büchner kennen. Einen anderen, als den, den wir bisher zu kennen glaubten: den politisch engagierten Dichter, den jungen Revoluzzer. Bei Kurzke erfahren wir, dass er selbst sich nicht in erster Linie als Dichter verstand und nicht der Aufrührer und Anzettler war, als der er vielfach dargestellt wurde. Georg Büchner studierte ja Medizin und seine eigentliche Leidenschaft waren die Naturwissenschaften. Doch der frühe Tod hat die eingeschlagene Laufbahn beendet, bevor sie richtig beginnen konnte.

Im Büchner-Buch von Hermann Kurzke werden die Werke Büchners natürlich angemessen gewürdigt. Doch der Autor macht deutlich, dass Büchner selbst seinen “Landboten” für unreif und den “Woyzeck” für unfertig hielt. Dass ihm seine Doktorarbeit über das Nervensystem der Barben wichtiger war als alles Dichten. Büchner war immer jung, unfertig. Ein Genie freilich, von dem wir aber nicht wissen können, was aus ihm im Laufe eines längeren Lebens, mit der Möglichkeit zu reifen, sich zu entwickeln, geworden wäre. “Das Verstandene ist das Tote, nur das Unverstandene lebt und lockt. Was endgültig durchschaut ist, wird abgehakt und aufgeräumt. Was noch ein Geheimnis hat, fasziniert hingegen,” schreibt Hermann Kurzke. Sein neues Buch ist eine fesselnde und fundierte Lektüre über das Geheimnis Georg Büchner.

Lese-Dringlichkeit: Ich bin mittendrin.

Pfotenhauer, Helmut: Jean Paul. Das Leben als Schreiben. Biographie. – Hanser, 2013. Euro 27,90

Bruyn, Günter de: Das Leben des Jean Paul Friedrich Richter. Eine Biographie. Überarb. Neufassung. S. Fischer, 2013. Euro 21,99

Knopf, Jan: Bertold Brecht. Lebenskunst in finsteren Zeiten. Biografie. Hanser, 2012. Euro 27,90

Hosfeld, Rolf: Tucholsky. Ein deutsches Leben. Biographie. – Siedler, 2012. Euro 21,99

Rosselli, John: Guiseppe Verdi – Genie der Oper. Eine Biographie. – Beck, 2013. Euro 21,95

Schwandt, Christoph: Giuseppe Verdi. Die Biographie. Aktualisierte Neuausgabe. Insel, 2013. Euro 10,99

Geck, Martin: Wagner. Biographie. – Siedler, 2012. Euro 24,99

Werfel, Franz: Verdi. Roman der Oper.  u. a. als Fischer TB, Euro 12,95

Kurzke, Hermann: Georg Büchner. Geschichte eines Genies. Beck, 2013. Euro 29,95

Thomas Mann im Mittelpunkt

„Die kürzeste Geschichte der deutschen Literatur und andere Essays“ von Hermann Kurzke

Eigentlich mag ich sie nicht besonders, diese Kompilationen, in denen Schriftsteller und Publizisten bereits einmal, meist verstreut, Veröffentlichtes, bündeln und neu herausgeben. Oft sind es teuer verkaufte Sammlungen zweiter Aufgüsse, die hauptsächlich der Wertschröpfung der simpel verführten Käufer dienen. Manchmal kommen sie auch daher wie die Supplement-Bände zur wuchtigen kommentierten Werkausgabe letzter Hand, dabei ist der Autor doch eben erst an seinem zweiten Prosaband knapp gescheitert und feiert demnächst seinen, meinetwegen, 33. Geburtstag. Nun liegt ein Band dieser Art auch von Hermann Kurzke vor. Und – um es gleich vorweg zu nehmen – er ist ganz anders. Es handelt sich um ausgesprochen originelle, lohnende und genussreiche Lektüre.

Hermann Kurzke hat Germanistik und katholische Theologie studiert; das zweite Fach sollte seine Sichtweise auf die Literatur nicht unwesentlich beeinflussen. Viele Jahre war er Professor für Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Universität Mainz; inzwischen ist er emeritiert. Er forscht und veröffentlicht über Thomas Mann, Goethe, die Romantik (Novalis), Hymnologie (Kirchenlied, politisches Lied) und das ihm bedeutsame – und deshalb in vielen Publikationen anklingende – Thema Kulturreligiosität. Kurzke ist Verfasser einer umfassenden Thomas-Mann-Biographie, die bei Erscheinen mit einigen erfrischenden Neudeutungen von Werk und Leben des Nobelpreisträgers überraschte. Das gelang ihm auch als Herausgeber von Manns „Betrachtungen eines Unpolitischen“ im Rahmen der neuen kritischen Gesamtausgabe. Dieser Band, sowie ein von Kurzke verfasster, breit angelegter Kommentarband, erschienen Ende letzten Jahres.

Sein neuestes, ansprechend als wohlfeiles Paperback gestaltetes Buch, trägt den Titel „Die kürzeste Geschichte der deutschen Literatur und andere Essays.“ Essays sind – je nach Definition – sicher auch enthalten, bei den meisten Beiträgen handelt es sich allerdings um nachgedruckte Ausätze und Artikel aus Zeitungen und Zeitschriften. Außerdem sind auch einige unveröffentlichte Arbeiten enthalten.

Im ersten Teil stellt Kurzke uns seinen ganz persönlichen Kanon der deutschen Literatur vor, dabei nicht nur Bewunderung zum Ausdruck bringend, sondern auch kritische Töne anschlagend, wenn es etwa um Autoren im „inneren Exil“ während der Nazi-Diktatur geht. Besonders hart fällt sein Urteil über den stets gefälligen, anpassungsfähigen, aber mehrbödigen Erich Kästner aus: „Kästner war ein Pharisäer.“ Im zweiten und titelgebenden Teil berichtet Hermann Kurzkes knapp über sein vorläufiges Scheitern eine deutsche Literaturgeschichte zu verfassen. Dabei dürfen wir sicher sein, dass hier das letzte Wort noch nicht gesprochen ist.

Der dritte Teil enthält Portraits historischer Persönlichkeiten, von Schriftstellern und Dichterinnen. Die zentralen und gewichtigten Beiträge sind Goethe und Novalis gewidmet; seine Auseinandersetzung mit „Thomas Mann als Lyriker“ ist einer der für Kurzke typischen, originellen Denkansätze über den großen deutschen Epiker. Vergnüglich ist auch der Aufsatz über Sophie La Roche und Nachkommen, mit dem Titel „Die unaufgeklärte Leidenschaft.“ In diesem erklärt uns Kurzke warum Mainz als Ausgangspunkt der wichtigsten klassischen Liebeshändel und –bändel betrachtet werden muss. Dabei überrascht es geneigte und kundige Leser weniger, dass uns der Weg aus dem Rheinischen alsbald nach Weimar führt.

Teil vier bringt vorgeblich „Persönliches“, wobei zu berücksichtigen ist, wie vielschichtig die Dimensionen des Privaten und Persönlichen in der Literatur und der sie behandelnden Wissenschaft zu beurteilen sind. Dennoch genießen wir leicht erheitert die humorvolle Glosse „Kilchberg, Alte Landstraße 39; Sommer 1976“, in der eine denkwürdige Begegnung des jungen Literaturwissenschaftlers mit Katia, Golo und Michael Mann geschildert wird: „Es war skurril, beklemmend, ja gespenstisch.“ Im fünften und letzten Abschnitt des Buches ist dann Vermischtes versammelt. Beiträge über Kurzkes Kirchenlied-Forschung (Empfehlenswert der Beitrag: „Kirchenlied und Psychoanalyse“) und erneut über, selbstverständlich wiederum aus anderer Sichtweise, Novalis und Thomas Mann.

Wie ordnet der Autor und Wissenschaftler Hermann Kurzke nach 67 Lebens-, und man darf vermuten, fast ebenso vielen Lese-Jahren, seine Erfahrungen und Erkenntnisse? Er nennt seine Großen beim Namen: Brecht, Kafka, Novalis und Heine, Hamsun und Dostojewski, Goethe und Mann. Er kommt zu überraschenden Urteilen und Einsichten. Die veränderten Blickwinkel auf Thomas Mann wurden bereits angesprochen. Man staunt aber auch, wenn man zum Beispiel erfährt, was Kurzke dem Werk Martin Walsers abgewinnen kann. Erstmals erfahre ich hier, dass ich mit meiner Doppel-Zuneigung Mann/Walser nicht allein stehe. Auch meine Vermutung, dass Walser in kurzen Formen besser ist, bei einigen seiner umfangreichen Romane jedoch einfach zu viel Worte verbraucht, wird von Kurzke bestätigt.

Ich staune noch mehr, als ich über den späten Goethe-Roman Walsers, an dem ich persönlich heftig gezweifelt hatte, lese: „Walser hat ein großes Buch geschrieben, vielleicht sogar das beste seines ganzen Lebens.“ Bei Themen wie Glaubensnotwendigkeit und Glaubensunmöglichkeit sind sich Walser und Kurzke meiner Einschätzung nach ohnehin gedanklich sehr nahe. (Weiterführend dazu: Hermann Kurzke, Jacques Wirion: «Unglaubensgespräch. Vom Nutzen und Nachteil der Religion für das Leben». Und Martin Walser neue Novelle „Mein Jenseits“.) Der positive Blick auf den Mann vom Bodensee, schließt nicht aus, dass Hermann Kurzke auch dessen Gegenspieler, den Frankfurter Kritiker und ebenfalls intimen Thomas-Mann-Kenner Marcel Reich-Ranicki verehrt. Eine beeindruckend unabhängige Urteilsbereitschaft.

Kritik, Bewunderung, Analyse und Urteil münden schließlich in den einen finalen Superlativ: „Der Joseph-Roman (von Th. Mann) ist und bleibt das größte Ereignis meines ganzen Lektürelebens. Sein Zauber erneuert sich bei jedem Wiederlesen.“

Zur Zeit macht sich Hermann Kurzke in der Öffentlichkeit etwas rar, hält sich mit Vorträgen, Lesungen, Diskussionsteilnahmen sichtlich zurück. Er sei nicht mehr so oft wahrzunehmen, erfahren wir, weil er zwei neue Publikationen in Arbeit hat. Wir wollen deshalb auch nicht weiter stören und freuen uns auf Neues.

Kurzke, Hermann: Die kürzeste Geschichte der deutschen Literatur und andere Essays. C. H. Beck, 2010. Euro 14,95

Betrachtungen eines Unpolitischen

Thomas Manns „Betrachtungen“ und ihre Betrachter

„Die Kultur der Vergangenheit kann man nur durch ein streng historisches Herangehen verstehen, nur dann, wenn man sie mit dem ihr entsprechenden Maße misst. Einen einheitlichen Maßstab, dem man alle Zivilisationen und Epochen unterordnen könnte, gibt es nicht, da kein Mensch existiert, der in allen Epochen der gleiche ist.“ (1)

Im Rahmen der „Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe“ der Werke Thomas Manns sind jetzt die „Betrachtungen eines Unpolitischen“ erschienen. Zusammen mit dem Kommentarband, für den der Germanist und Thomas-Mann-Spezialist Hermann Kurzke verantwortlich zeichnet.

Die „Betrachtungen“ sind ein Werk über das viel gesprochen und diskutiert, in dem viel herumgelesen wurde und wird, das aber nur Wenige vollständig gelesen haben. Macht nichts. Wichtig ist, zu wissen, dass dieses Buch, wie kein anderes Thomas Manns, vielfach missverstanden wurde, dass die meisten Zu- und Einordnungen Polemik und Vorurteil sind, Haltungen, Formeln, die sich verselbständigt haben. Denn es wurde eigentlich nicht für ein Leser-Publikum geschrieben. Der Autor schrieb sie in erster Linie für sich. Er zog eine Zwischenbilanz seiner bisherigen Laufbahn und verabschiedete das bürgerliche Zeitalter. Machte sich frei für ein neues Denken und einen neuen Weg als Künstler und Bürger einer veränderten Welt.

Erstaunlich, dass gerade dieses Werk immer noch so sehr interessiert und zu Diskussionen und Besprechungen reichlich Anlass liefert. Wie es jetzt wieder nach dem Erscheinen der neuen kritischen Ausgabe beobachtet werden kann. Etwa am Beispiel einer ausführlichen Rezension in der alternativ-liberalen TAGESZEITUNG (taz), verfasst von Michael Rutschky und erschienen in der Ausgabe vom 4. Januar. Hier steht, womit fest zu rechnen war. Rutschky erörtert ausführlich den Bruderzwist und Thomas Manns konfliktreiche Auseinandersetzungen mit Wesen und Art deutscher Nation, Kultur, insbesondere Sprache und Literatur.

Es ist kein unfreundlicher Artikel, aber auch einer der verbreitete Fehleinschätzungen nicht zu vermeiden versteht. „Was den Leser auf die Dauer am Grübeln des Unpolitischen abstößt“, schreibt Rutschky in einer Art Resümee, „das ist…der perfomatorische Selbstwiderspruch.“ Rutschky zieht Parallelen zu Günter Grass, die völlig deplaziert sind und weder Mann noch Grass gerecht werden und kommt schließlich bei der Feststellung an: „Thomas Mann träumte sich seinerzeit ein Deutschland als literarische Erfindung gegen den Rest der Welt zusammen. Das Äquivalent heute ist Peter Handkes Jugoslawien.“

Ja, hätte es nur damals schon die TAZ gegeben und hätte Thomas Mann sie gelesen!

Rutschky nennt Hermann Kurzke als maßgeblichen Interpreten der „Betrachtungen“ und lobt dessen Kommentarband. Doch wirklich auseinandergesetzt hat er sich mit dessen Erkenntnissen nicht, denn Rutschky übersieht, dass es eben Kurzke war, der uns in den letzten Jahren eine ganz andere Sichtweise auf die „Betrachtungen“ nahe gelegt hat.

Der, wie sein Gegenstand stets ironische, und damit auch die nötige Distanz wahrende, oft feinsinnig spöttelnde Hermann Kurzke, hat wesentlich zu frischer Lesart und neuer Interpretation der „Betrachtungen“ beigetragen und damit Maßstäbe gesetzt, die zu berücksichtigen sind, wenn man sich mit diesem Werk heute auseinandersetzt. Nachlesen konnte man das schon seit Jahren in seiner Thomas-Mann-Biographie (2), bestätigt und bekräftigt hat er es u. a. in launischem Referat auf der Herbst-Tagung der Deutschen Thomas-Mann-Gesellschaft 2008 in Weimar.

Die „Betrachtungen“ sind hier vor allem eine demonstrative und nach außen gerichtete Gegenposition zum Bruder, der Konflikt zwischen den Geschwistern schwelte in der Zeit der Niederschrift auf seinem Höhepunkt. Außerdem dürfen Form und Zielrichtung nicht verwechselt werden: „Dass der rhetorische Gestus der Betrachtungen der des Bekenntnis ist, davon darf man sich nicht irritieren lassen; es ist eben nur der rhetorische Gestus.“ (2). Das heißt, dass Mann in den Betrachtungen bewusst zelebriert. Die ganze Wahrheit steht nur in den Tagebüchern und kam erst nach dem Tod des Autors an die Öffentlichkeit. War es also Absicht, wie Kurzke vermutet, dass er die Tagebücher der Jahre 1918 – 1921 nicht wie andere frühe Jahrgänge verbrannte?

Schwierigkeiten: Im März 1918 hatte Thomas Mann die Arbeit am Manuskript abgeschlossen. Der Termin für den Druck war noch unklar, da es … durch den 1. Weltkrieg Probleme mit der Papierzuteilung gab. Erst am 11. November schwiegen nach über vier Jahren Krieg in Europa die Waffen.

Die „Betrachtungen“ sind auch „ein Experimentieren mit verschiedenen Positionen. Die Monarchie, die Sozialdemokratie, die Räterepublik, der Kommunismus und allerlei radikalkonservative Bestrebungen: wir finden Äußerungen für und wider alles.“ (2)

Natürlich war Thomas Mann ein Konservativer, er entstammte dem Patriziat einer ständisch verfassten Stadt-Republik, die Teil eines monarchistischen Staatswesens war. Konservative sind zunächst einmal loyal gegenüber den herrschenden Verhältnissen. Doch mit der Morgen-Dämmerung einer faschistischen Herrschaft hatte diese Loyalität für Thomas Mann ein Ende. Er war sich über die Konsequenzen für alle Konservativen, vor allem aber für alle Künstler, und er definierte ja jede Form von Außenseitertum als Künstlertum, schon früh im Klaren. Er erkannte die „Barbaren“ bereits, während weite Kreise, auch und gerade deutscher Intellektueller, noch große Hoffnungen in die neuen Herren setzten.

Seine „Betrachtungen“, die schließlich im Oktober 1918 in einer Auflage von 6000 Exemplaren erscheinen konnten, halfen ihm die großen Zeitströmungen und Konflikte seiner Generation zu verstehen, so wurde er urteilsfähig für das was Ende der 20er-Jahre als die Zukunft Deutschlands sichtbar wurde.

Lebensumstände: Im Sommer 1918 hält sich die Familie in ländlicher Abgeschiedenheit in der Nähe des oberbayerischen Tegernsees auf. „Wie erwartet war die Reise höllisch“, schreibt er an Ernst Bertram. Der Alltag ist von Geldentwertung und Verpflegungsschwierigkeiten geprägt. „Ich ernähre mich vorwiegend von Honig.“ (Brief an Paul Amann) Frühjahr 1919: Revolution in München. Ermordung des bayerischen Ministerpräsidenten Kurt Eisner und Einsetzung einer Räteregierung. Verschonung der Villa der Familie Mann in München-Bogenhausen vor Plünderung dank Ernst Toller.

Wenn man über die Betrachtungen schreibt, muss auch der Begriff des Opportunismus eine Rolle spielen. Denn diesem hat sich der Autor immer entzogen und in seinen „Betrachtungen“ vergewissert er sich dieser Haltung. Sie sind deshalb auch Pamphlet gegen alle Mitmacher und Mitlacher, Mitschwätzer und Mitläufer, gegen alle Ja-Sager und Nach-Sager.

Wie der Schriftsteller Thomas Mann verweigern auch die meisten seiner Hauptfiguren das Anpassen aus Zugehörigkeits-Verlangen. Tonio Kröger und Felix Krull, sein Erwählter und sein Adrian Leverkühn, ja bereits der kleine Hanno Buddenbrook zu Beginn des 20. Jahrhunderts, sind Anti-Opportunisten, Non-Konformisten – Künstler! Sie bezahlen dafür einen hohen Preis. Sie stehen einsam unter Blauäugigen, um sie ist faustische Kälte. Unter diesem Aspekt sollte man die Betrachtungen unbedingt auch sehen und man sollte auf eine Einordnung in politische Block-Klischees verzichten. Am allerwenigsten ist es möglich Begriffe und Definitionen unserer Gegenwart oder jüngsten Vergangenheit zu verwenden. Die 68er-Maßstäbe und Post-68er-Erfahrungen des Michael Rutschky taugen dafür ganz gewiss wenig.

„Die menschliche Gesellschaft befindet sich in einer ständigen Bewegung, Veränderung und Entwicklung, und in verschiedenen Epochen sowie unterschiedlichen Kulturen erfassen und erkennen die Menschen die Welt auf ihre Art.“ (1)

Thomas Mann: Grosse Kommentierte Frankfurter Ausgabe / Betrachtungen eines Unpolitischen. Text und Kommentar in einer Kassette. Hrsg. von Hermann Kurke. – Frankfurt am Main, 2009

(1)   Gurjewitsch, Aaron J.: Das Weltbild des mittelalterlichen Menschen. – Dresden, 1978 (hier zitiert: 5. Auflage. München, 1997)

(2)   Kurzke, Hermann: Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk. Eine Biographie. – München, 1999