Hölderlin in Hauptwil

Jetzt aber, drin im Gebirg

Die Schweizer Gemeinde Hauptwil liegt im Kanton Thurgau zwischen Bodensee und Säntis-Massiv, westlich von Sankt Gallen. Den Mittelpunkt bildet ein kleiner Weiher, an dessen Ufer sich eine Badeanstalt befindet, die an heißen Sommertagen von den wenigen Kindern und Jugendlichen im Ort genutzt wird. Es ist eine ruhige, eher unscheinbare Siedlung. Für heutige Reisende gibt es eigentlich wenig Grund hier länger zu verweilen. Doch für Literaturfreunde lohnt sich ein Besuch, vielleicht als kleiner Abstecher während eines Urlaubs oder Wandertags im Appenzell oder dem nahen Toggenburg.

Im Januar 1801 erreichte der Dichter und Gelehrte Friedrich Hölderlin von Stuttgart kommend, nach langer Reise durch das tief verschneite Oberschwaben, über den westlichen Bodensee und schließlich von Konstanz her, die Ortschaft Hauptwil. Den größten Teil des Weges hatte er zu Fuß zurückgelegt. Er trat eine Stelle als Hofmeister bei der Familie Gonzenbach an; seine Aufgabe bestand darin, die dreizehn- und vierzehnjährigen Töchter Augusta Dorothea und Barbara Julia zu unterrichten.

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In Hauptwil wurde er freundlich aufgenommen, wohnte in einem Zimmer zum Garten. Er fand sich rasch zurecht und war nicht unglücklich, wie er der Mutter im Brief mitteilte: Ich kann in der Tat nicht anders sagen, nach der Überzeugung, die ich mir seit 10 Tagen geben konnte, als dass die zahlreiche Familie, in der ich lebe, aus solchen Menschen besteht, unter denen man mit zufriedener Seele leben muß, so viel unschuldiger Frohsinn ist unter den jüngeren, und so ein gesunder Verstand, und edle Gutheit unter den Älteren.

Das Gehalt betrug 300 Gulden im Jahr, bei freier Kost und Logis. Die Familie Gonzenbach beherrschte den kleinen Ort. Das obere Schloss bewohnte eine ältere Linie; das untere Schloss, das sogenannte Kaufhaus, heute als Wohnhaus genutzt, die Familie des Kaufherrn Anton Gonzenbach. Bei diesem Aufenthalt in der Schweiz lernte Hölderlin die Landschaft des Alpenraums kennen und war von ihr so fasziniert, dass sich das später in hymnischer Dichtung niederschlug. Allerdings dauerte der Thurgauer Aufenthalt nicht lange. Bereits Mitte April trennte man sich wieder. In bestem Einvernehmen und voller Respekt – wie das Haus Gonzenbach versicherte.

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Über den raschen Abschied aus Hauptwil gibt es verschiedene Spekulationen und Interpretationen. Es wurden amouröse Verwicklungen unterstellt oder politische Differenzen mit dem Dienstherrn vermutet. Doch am wahrscheinlichsten ist, dass sich Anzeichen geistiger Erkrankung bei Hölderlin bemerkbar machten.

Bei einem Spaziergang durch das gegenwärtige Hauptwil kann man feststellen, dass die Gemeinde pfleglich mit der Erinnerung an den Hölderlin-Aufenthalt umgeht. Am ehemaligen Wohnhaus der Familie Gonzenbach ist eine Erinnerungstafel angebracht. Es gibt einen Hölderlin-Weg. Und im Oberen Schloss, dessen Seitenflügel heute ein Altersheim beherbergt, wurde ein Erdgeschoss-Raum zu einem kleinen Hölderlin-Museum umgestaltet. Es ist eine schlichte, sachlich und gleichzeitig liebevoll gestaltete Einrichtung. An den Wänden erzählen einheitliche Tafeln von dem Ereignis und ein wenig über das Drumherum. Die Tür steht meist offen. Der Raum ist den ganzen Tag über frei zugänglich.

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Von Hauptwil gelangt man in einer halben Stunde Autofahrt nach Sankt Gallen und damit in das quirlige, umtriebige City-Leben einer großen Kleinstadt. In der Mitte der Stadt liegt der Klosterkomplex. Dort lebte bis im Jahre 912 der Mönch Notker, auch genannt der Stammler, einer der ersten großen Dichter und Gelehrten des deutschen Sprachraums. In der Sankt Galler Stiftbibliothek werden über 900 wertvolle Handschriften verwahrt.

Hölderlin in Hauptwil

Jetzt aber, drin im Gebirg

Die Schweizer Gemeinde Hauptwil liegt im Kanton Thurgau zwischen Bodensee und Säntis-Massiv, westlich von Sankt Gallen. Den Mittelpunkt bildet ein kleiner Weiher, an dessen Ufer sich eine Badeanstalt befindet, die an heißen Sommertagen von den wenigen Kindern und Jugendlichen im Ort genutzt wird. Es ist eine ruhige, eher unscheinbare Siedlung. Für heutige Reisende gibt es eigentlich wenig Grund hier länger zu verweilen. Doch für Literaturfreunde lohnt sich ein Besuch, vielleicht als kleiner Abstecher während eines Urlaubs oder Wandertags im Appenzell oder dem nahen Toggenburg.

Im Januar 1801 erreichte der Dichter und Gelehrte Friedrich Hölderlin von Stuttgart kommend, nach langer Reise durch das tief verschneite Oberschwaben, über den westlichen Bodensee und schließlich von Konstanz her, die Ortschaft Hauptwil. Den größten Teil des Weges hatte er zu Fuß zurückgelegt. Er trat eine Stelle als Hofmeister bei der Familie Gonzenbach an; seine Aufgabe bestand darin, die dreizehn- und vierzehnjährigen Töchter Augusta Dorothea und Barbara Julia zu unterrichten.

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In Hauptwil wurde er freundlich aufgenommen, wohnte in einem Zimmer zum Garten. Er fand sich rasch zurecht und war nicht unglücklich, wie er der Mutter im Brief mitteilte: Ich kann in der Tat nicht anders sagen, nach der Überzeugung, die ich mir seit 10 Tagen geben konnte, als dass die zahlreiche Familie, in der ich lebe, aus solchen Menschen besteht, unter denen man mit zufriedener Seele leben muß, so viel unschuldiger Frohsinn ist unter den jüngeren, und so ein gesunder Verstand, und edle Gutheit unter den Älteren.

Das Gehalt betrug 300 Gulden im Jahr, bei freier Kost und Logis. Die Familie Gonzenbach beherrschte den kleinen Ort. Das obere Schloss bewohnte eine ältere Linie; das untere Schloss, das sogenannte Kaufhaus, heute als Wohnhaus genutzt, die Familie des Kaufherrn Anton Gonzenbach. Bei diesem Aufenthalt in der Schweiz lernte Hölderlin die Landschaft des Alpenraums kennen und war von ihr so fasziniert, dass sich das später in hymnischer Dichtung niederschlug. Allerdings dauerte der Thurgauer Aufenthalt nicht lange. Bereits Mitte April trennte man sich wieder. In bestem Einvernehmen und voller Respekt – wie das Haus Gonzenbach versicherte.

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Über den raschen Abschied aus Hauptwil gibt es verschiedene Spekulationen und Interpretationen. Es wurden amouröse Verwicklungen unterstellt oder politische Differenzen mit dem Dienstherrn vermutet. Doch am wahrscheinlichsten ist, dass sich Anzeichen geistiger Erkrankung bei Hölderlin bemerkbar machten.

Bei einem Spaziergang durch das gegenwärtige Hauptwil kann man feststellen, dass die Gemeinde pfleglich mit der Erinnerung an den Hölderlin-Aufenthalt umgeht. Am ehemaligen Wohnhaus der Familie Gonzenbach ist eine Erinnerungstafel angebracht. Es gibt einen Hölderlin-Weg. Und im Oberen Schloss, dessen Seitenflügel heute ein Altersheim beherbergt, wurde ein Erdgeschoss-Raum zu einem kleinen Hölderlin-Museum umgestaltet. Es ist eine schlichte, sachlich und gleichzeitig liebevoll gestaltete Einrichtung. An den Wänden erzählen einheitliche Tafeln von dem Ereignis und ein wenig über das Drumherum. Die Tür steht meist offen. Der Raum ist den ganzen Tag über frei zugänglich.

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Von Hauptwil gelangt man in einer halben Stunde Autofahrt nach Sankt Gallen und damit in das quirlige, umtriebige City-Leben einer großen Kleinstadt. In der Mitte der Stadt liegt der Klosterkomplex. In der Stiftbibliothek werden 900 wertvolle Handschriften verwahrt. Im Kloster lebte bis im Jahre 912 der Mönch Notker, auch genannt der Stammler, einer der ersten großen Dichter und Gelehrten des deutschen Sprachraums.

Spät-Lese (3)

(Reife Bücher. Erstmals, neu oder wieder gelesen.)

„Hölderlin“ von Peter Härtling

Warum jetzt?

Auf “Hölderlin. Eine Winterreise” von Thomas Knubben hatte ich mich gefreut seit ich die Vorankündigung des Verlages kannte. Das Buch erschien im August bei Klöpfer & Meyer; einem Verlag dem ich eigentlich nur Gutes unterstelle. Diesmal wurde ich enttäuscht. Das ist kein Hölderlin-Buch. Das ist ein Knubben-Buch. Es schildert nicht wirklich die Tragödie Hölderlins letzter großer Reise nach Bordeux und unter Umwegen zurück in die Heimat. Knubben hängt sich an den aktuellen Wanderbuch-Boom an. Da müssen Hölderlin-Zitate herhalten, wo dem Autor der erzählerische Faden verloren geht. Da werden Harald Schmidt, Bob Dylan, Patmos, Anne und Patrick Poirier und viele Andere zitiert ohne dass es dafür gute Gründe gibt.

Eigentlich hatte ich auf Seite vierundzwanzig genug. Knubben zitiert dort Harald Schmidt, der sich einmal den Spaß machte, Hölderlin als Familiendichter zu bezeichnen, den man locker zwischendurch am Strand lesen könne. Arglos fällt er dem Zyniker zum Opfer und gesteht: “Ich habe es versucht, an den Gestaden des Mittelmeeres, es geht vorzüglich.”

Daraufhin habe ich mehr oder weniger lustlos noch etwas hin- und hergeblättert, einige Passagen kreuz- und quergelesen, gegrübelt und die abgestürzte biographische Versuchsanordnung dann leichten Herzens beiseite gelegt. Anschließend der Griff ins Regal – zum „Klassiker“. Der als Roman deklarierten Hölderlin-Biographie von Peter Härtling.

Dieses Buch besitze ich in einer Ausgabe der Büchergilde Gutenberg von 1978 (das Original ist 1976 bei Luchterhand erschienen). Sie wurde von Jürgen Seuss gestaltet, aus der Korpus Bodini gesetzt, auf schwäbischem Scheufelen-Papier bei Hoffmann in Mainz gedruckt und von Lachemaier in Reutlingen gebunden. Das Buch ist frisch wie am ersten Tag. Sein Inhalt auch.

Zugegeben, das mag eine sehr persönliche Erkenntnis sein. Emotional. Das Werk hat mich, als ich es vor Jahren erstmals las, begeistert, in mehrfachem Sinne mitgenommen und zu einer anhaltenden Beschäftigung mit dem württembergischen Dichter angestiftet. In meinem Bekanntenkreis wurde viel darüber diskutiert. Und der eine oder die andere las ergänzend und erweiternd die umfangreiche wissenschaftliche Monographie von Pierre Bertaux, der sich erdreistete den Konsens über Hölderlins geistige Erkrankung in Frage zu stellen.

Der Autor

Peter Härtling wurde 1933 in Chemnitz geboren. Die ersten Lebens- und Schuljahre verbrachte er in Sachsen, bevor ihn Kriegswirren und Vertreibungswellen ins Neckarstädtchen Nürtingen spülten. Dort verbrachte er, wie Friedrich Hölderlin etwa 150 Jahre vor ihm, wichtige und prägende Jahre. Härtling ist heute Ehrenbürger von Nürtingen.

Nach einer Ausbildung und Tätigkeiten als Journalist begleitete er mehrere Positionen beim tradtionsreichen Verlag S. Fischer in Frankfurt, und widmete sich ab 1974 ganz dem literarischen Schreiben. Der engagierte evangelische Christ lebt mit seiner Familie seit vielen Jahren im Nordbadischen.

Im Laufe der Jahrzehnte entstand ein umfangreiches und vielfältiges Werk. Gedichte, Theaterstücke, vor allem aber viel gelesene Romane, zu deren Höhepunkten die biographischen Erzählungen gehören. Über Nikolaus Lenau, Robert Schumann, Wilhelm Waiblinger, E.T.A. Hoffmann und andere.

Härtling hat auch sehr viel für Kinder und Jugendliche geschrieben. Titel wie “Krücke”, “Fränze”, “Ben liebt Anna” wurden sehr populär. Der Schriftsteller erhielt zahlreiche Auszeichnungen. Bemerkenswert ist, dass bereits zu seinen Lebzeiten dreizehn Schulen in Deutschland nach ihm benannt sind.

Sein neuestes Buch ist wieder ein Erzählwerk das rund um biographische Bruchstücke einer künstlerischen Persönlichkeit entstanden ist. “Liebste Fenschel!: Das Leben der Fanny Hensel-Mendelssohn in Etüden und Intermezzi”, kam in diesem Frühjahr heraus.

Werk und Inhalt

“…ich schreibe keine Biographie. Ich schreibe vielleicht eine Annäherung.” Was ist es wirklich? Roman? Bericht? Wissenschaftliche Abhandlung? Von allem etwas? Härtling hat sich mit Werk und Sekundärliteratur von und zu Hölderlin jedenfalls gründlich beschäftigt, um uns, seinen Lesern, erzählen zu können. Erzählen von Leben, Denken und Dichten des Friedrich Hölderlin, geboren am 20. März 1770, von seinen Freunden Hölder genannt. Von Kindheit und Jugend in Lauffen, Nürtingen, Denkendorf und Maulbronn. Von den Tübinger Jahren. Vom Studium im evangelischen Stift, der theologischen Kaderschmiede Württembergs. Den Wanderjahren. Der langen Suche nach Wegen und Zielen. Der Beerdigung im Juni 1843  auf dem alten Friedhof in Tübingen, der heute mitten in der Stadt liegt. “Christoph Schwab spricht. Der Liederkranz singt zwei Choräle.”

So lernen wir den begabten Gymnasiasten und Studenten kennen, den Dichter und Zeitgenossen Schillers, Goethes und Napoleons, den schmerzlich Liebenden, den Rastlosen, der erst zur Ruhe kommt, als der Geist eigene Wege geht. Wir erfahren vom Republikaner und frühen Demokraten Hölderlin, dem Verächter der Despoten, dem Freund des klassischen (idealisierten) Griechenlands. Peter Härtling zu seiner Vorgehensweise: “Ich erfinde Gestalten, die es gegeben hat. Ich schreibe ein Drehbuch zu einem Kostümfilm. Längst ist er mir vertraut. Ich projiziere, nachdem ich in seinen Briefen und Gedichten gelesen habe, meine Gefühle auf seine Handlungen.”

Höhepunkte

Fasziniert haben mich Persönlichkeiten, die wir rund um Hölderlin kennenlernen. Den schwäbelnden Hegel, den superschlauen Schelling, die Großen von Weimar und Jena, den Freund Sinclair und die Pflegeleute Ernst und Charlotte Zimmer. Und dann natürlich die Frauen. Louise Nast, Elise Lebret, schließlich die Liebe des Lebens, Susett Gontard, seine “Diotima”. Wie uns Härtling mit Umständen und Lebensverhältnissen vertraut macht, uns eintauchen lässt in die historische Kulisse, sein intensiver Erzählstil. Das geht unter die Haut.

Tübingen, das dreckige kleine Nest. Die dunkle, stille, mühsame Zeit. Die Vergangenheit ist nicht zu verherrlichen. Wir können uns in Menschen, die vor zwei Jahrhunderten lebten, nicht mehr wirklich hineinversetzen. Ihre Vorstellungen, ihr Weltbild, nicht mehr nachvollziehen. Es bleibt beim Versuch der Annäherung. Aus fernen Jahren kommen Hölderlins Werke zu uns. Mit ihren Geheimnissen und ihrer Sprachmacht. Mit ihren großen Bildern und dem idealistischen Weltentwurf erreichen und ergreifen sie uns bis heute.

Härtling, Peter: Hölderlin. Ein Roman. – Darmstadt : Luchterhand, 1976 (aktuelle Taschenbuchausgabe bei dtv. Euro 12,90)

Härtling, Peter: Liebste Fenchel!: Das Leben der Fanny Hensel-Mendelssohn in Etüden und Intermezzi. – Köln : Kiepenheuer & Witsch, 2011. Euro 19,99

Bertaux, Pierre: Friedrich Hölderlin. – Frankfurt : Suhrkamp, 1978 (nur antiquarisch oder in Bibliotheken)