AusLese 2018. Der erste Teil

Höchste Zeit wieder einmal hinzuschreiben was das zurückliegende Jahr an neuen Büchern und guten Geschichten auf die Auslagetische der Buchhandlungen gelegt hatte. Dafür heißt es Anlauf zu nehmen, warten bis Worte und Sätze zu sprudeln beginnen.

Wo hatte ich denn eigentlich den neuen Haas hingelegt? Und das Buch von dieser Melandri? An Maxi verliehen? Das kann nicht sein. Hier liegt es doch. Auf den CDs.

Ja. Erst einmal etwas Musik auflegen zur Einstimmung bevor es an die Tastatur geht. Vielleicht was Weihnachtliches? Last Christmas? (Siehe dazu später unten: Thomas Bauer zum Thema Verlust der Vielfalt!) Felix Meyer könnte passen. Mal eben kurz reinhören …

Wie soll’n wir kleinen Menschen nur / mit kleinen Schritten, kleinen Schuh’n / sehen dass das nicht das Paradies / sondern nur Weihnachten ist.

Weihnachtszeit auf den Straßen / wo es schneit oder zieht, / oder regnet, so dass man die Tränen nicht sieht. / Wir kleinen Menschen haben Spaß, / sehen uns die Schönheit gut an, / doch nur von Weitem hinter Glas, / weil man nicht alles haben kann.

Weihnachtszeit in den Straßen / ist der Winter so kalt. / In weit aufgeriss’nen Augen / spiegeln sich Dreck und Gewalt …

Foto: Wiebke Haag

Die AusLese 2018. Wie immer bedenkenlos subjektiv und unvollständig.

Was dann nachher so schön fliegt. Junger Dichter. Mitte der 1980er Jahre. Die Zeit als Zivi im Altersheim ist für Volker keine leichte. Er ist dort Außenseiter, möchte Dichter werden, Lyriker. Erträumt Begegnungen mit Persönlichkeiten der Literaturszene. Als ihm auf einem Kurztrip nach Paris sein bis dahin bestes Gedicht gelingt, bewirbt er sich um Teilnahme an einem Treffen für Nachwuchsschriftsteller in Berlin. Dichterwettstreit, Alltag im Altersheim, die Atmosphäre im Berlin der Vorwendezeit, reale Begegnung mit Heiner Müller und Co., erste große Liebe. Kein leichtes Alter, wenn man so um die 20 ist.

Hilmar Klute hat eine Ringelnatz-Biografie und zahlreiche Streiflichter für die Süddeutsche Zeitung verfasst. Nun ist sein erster Roman erschienen. Temporeich und dicht geschrieben. Gelungener Einblick in die Gedankenwelt eines jungen Mannes mit all seinen Ambivalenzen und ein Stück Kulturgeschichte der alten BRD. Wirkung des Buches auf mich: Fesselnd, in einem Rutsch durchgelesen.

Klute, Hilmar: Was dann nachher so schön fliegt. Roman. – Galiani, 2018. Euro 22.

Ans Meer. Die heitere Lektüre für zwischendurch und ideales kleines Geschenk für nahezu jeden Lesertyp. Die krebskranke Carla möchte noch einmal ans Meer. Sie steigt in den Linienbus von Anton. Der ist gerade nicht so gut drauf, aber zu einer mutigen Wende in Leben und Fahrtrichtung bereit. Seine Durchsage an die Fahrgäste deshalb: Wir fahren jetzt ans Meer. Warmherzige, federleichte Geschichte über das Schwere im Leben. Von dem österreichischen Autor René Freund hatte ich bereits seinen Roman Liebe unter Fischen als Sommerlektüre vorgestellt. Er schreibt unterhaltsam ohne in Kitsch und Klischees abzugleiten. Aus meiner Sicht: In jeder Lebenslage zu empfehlen. Mir persönlich sind seine Bücher zu kurz. Die Geschichte mit Carla hat lediglich 140 Seiten. (Naja, vielleicht ist sie gerade deshalb so gut.)

Freund, René: Ans Meer. Roman. – Deuticke, 2018. Euro 16.

Freund, René: Liebe unter Fischen. Roman. – Goldmann TB, 2015. Euro 8,99

Junger Mann. Bücher zu lesen ist zwar vorteilhaft für Hirn und Gemüt, verbraucht allerdings nur rund 100 Kalorien pro Lesestunde. Nicht klären konnte ich, ob das für Arno Schmidt und James Joyces gleichermaßen gilt wie für Dora Heldt oder Dan Brown. Der 13-jährige Held in Wolf Haas neuem Roman jedenfalls muss körperlich deutlich mehr tun um seinen adipösen Neigungen entgegenzuwirken. Er ist schwer verliebt und möchte entsprechend fesch daher kommen. Leider ist die Angebetete fast zehn Jahre älter und verheiratet. Mit dem Tscho. Und der hat ganz besondere Pläne mit dem jungen Mann. Coming-of-Age-Geschichte, Roadmovie, ein sehr spezielles Dreiecksverhältnis, Kalorienzählerei, überraschende Wendungen. Ein wunderbarer Roman, voller (auf den zweiten Blick!) ausgesprochen liebevoller Protagonisten. Kein Brenner-Haas, aber einmal mehr ein Buch in ganz eigener Haas-Sprache, die zu den Figuren passt wie dafür ausgedacht. Mein Eindruck: Hin und weg.

Haas, Wolf: Junger Mann. Roman. – Hoffmann und Campe, 2018. Euro 22.

Alle, außer mir. Ein Titel mit Komma, der etwas mehr Leseerfahrung und Durchhaltebereitschaft erfordert, als die bisher vorgestellten. Für mich eines der Bücher des Jahres. Als die Lehrerin Ilaria mit dem jungen Afrikaner Attilio Profeti konfrontiert wird, der behauptet ihr Bruder zu sein, entfaltet sich eine über drei Generationen erzählte Familiengeschichte und ein tiefgreifender Ausflug in die italienische Geschichte des 20. Jahrhunderts. Im Mittelpunkt stehen neben den familiären Verwicklungen und Geheimnissen des Profeti-Clans die verdrängten Kapitel der unseligen Kolonialgeschichte des bis heute innerlich zerrissenen Italien. Fast 600 Seiten, die es Leser und Leserin nicht immer leicht machen, die dafür jeden der sich darauf einlässt in ihren Bann schlagen.

Große Literatur der in Rom geborenen Autorin Francesca Melandri und wie Kritiker fast übereinstimmend konstatieren bereits ihr drittes Meisterwerk. Ihren zweiten Roman Über Meershöhe hatte ich ebenfalls in meinen Sommerlektüren kurz vorgestellt. Er eignet sich, ebenso wie das jetzt wieder neu aufgelegte erste Buch Eva schläft, bestens für ein erstes Kennenlernen der Schriftstellerin Francesca Melandri. Wer danach zu Alle, außer mir greift, wird mit einem außergewöhnlichen Leseerlebnis belohnt. Mein Eindruck: Nachhaltig. Überrascht, was die italienische Literatur der Gegenwart zu bieten hat.

Melandri, Francesca: Alle, außer mir. Roman. Aus dem Italienischen von Esther Hansen. – Wagenbach (wo sonst?), 2018. Euro 26.

Melandri, Francesca: Über Meereshöhe. Roman. Derzeit vergriffen, erscheint 2019 bei Wagenbach neu.

Melandri, Francesca:  Eva schläft. Roman. Neuauflage 2018 bei Wagenbach. Euro 15,90.

Keyserlings Geheimnis. Nach Konzert ohne Dichter ein weiterer Künstlerroman des fleißigen Klaus Modick. Bücher von Klaus Modick kann man eigentlich immer bedenkenlos kaufen, und natürlich lesen. Ich kenne keinen richtigen Missgriff von ihm. Der gute Eduard Keyserling (1855 – 1918) ist schon längst aus der ersten Reihe der Literaturgeschichte verschwunden. Einige seiner kurzen Romane und Erzählungen sind noch greifbar (Wellen, Fürstinnen). Dass er eine schillernde Figur war, ein bewegtes Leben führte und in einer Zeit lebte, in der nicht jeder Fehltritt und jedes Missgeschick der Boulevardpresse anheim fiel, bietet Modick soliden Stoff für seinen Roman. Und die Fantasie anregende Gelegenheit um auf der Basis gesicherter Fakten sein Netz aus hinzu erdachten Möglichkeiten zu knüpfen. Für mich: Literaturgeschichte in unterhaltsamer Form aufbereitet – immer willkommen.

Modick, Klaus: Keyserlings Geheimnis. Roman. – Kiepenheuer & Witsch, 2018. Euro 20.

Über Verluste. Im September durfte ich ein neues Fremdwort lernen. Ambiguität bezeichnet alle Phänomene der Mehrdeutigkeit, der Unentscheidbarkeit und Vagheit, mit denen Menschen fortwährend konfrontiert werden. So definiert Thomas Bauer, Professor für Islamwissenschaft und Arabistik, Sprachwissenschaftler und Germanist, einen Schlüsselbegriff seines Büchleins Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt. Klingt vielleicht im ersten Moment etwas akademisch und hochtrabend, ist aber in der Tat gut lesbar und verständlich. Und eine überfällige und notwendige Lektüre.

Bauer führt uns die schleichende Reduzierung von Vielfalt und das Verschwinden des Unangepassten, Unzeitgemäßen vor Augen. An die Stelle von Artenvielfalt, konkurrierender Denkschulen, origineller Sichtweisen und Lebensentwürfen sind Schubladendenken und simpler Fundamentalismus getreten. Häufig verschleiert durch den inflationär verwendeten Begriff Authentizität. Konformismus und Gleichschaltung erzeugen, so die Überzeugung Bauers, letztlich Rassismus und Fanatismus. Bedrohliche Gleichmacherei macht er aus bis in die Kreativbezirke von Kunst, Musik, Mode.

Ganz konkrete Verluste hat Judith Schalansky in einem hinreißenden Erzählband verzeichnet. In meinem Beitrag über die Buch Wien 18 habe ich das Werk bereits vorgestellt. Es kann vielleicht als erzählerische Konkretisierung zu Thomas Bauers allgemeiner Abhandlung herangezogen werden. Lesefreude und haptischen Buchgenuss bietet es allemal.

Bauer, Thomas: Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt. – Reclam, 2018. Euro 6.

Schalansky, Judith: Verzeichnis einiger Verluste. – Suhrkamp, 2018. Euro 24.

Das Ende des Jahres ist nah. Und ich bin spät dran mit meinem literarischen Rückblick. Deshalb gibt es einen zweiten Teil schon in einigen Tagen. Dann mit Krimis.

Das Lied Weihnachtszeit in den Straßen von Felix Meyer (auf dem gleichnamigen Album von 2016) ist übrigens die deutsche Version eines französisches Chansons, das im Original einst keine geringere als Edith Piaf sang: Le noel de la Rue.

Mich Thomas Bauers Bedenken anschließend, wünsche ich mir und uns Vielfalt. Dass zum Beispiel wieder mehr populäre Musik in nichtenglischer Sprache gesungen, abgespielt und gesendet würde. Mehr Französisch, Spanisch, Italienisch, Schwedisch, Polnisch, Serbisch, Deutsch und und und. Ein frommer Wunsch – ich weiß.

Leipziger Buchmesse 2014

Der erste Teil: Themen und Momente

„Der Dichter frisch voran.“ (Joseph von Eichendorff)

Nach dem milden Winter hatte es der März leicht. Weder Strom noch Bäche mussten vom Eise befreit werden. Der Bücherhimmel über Leipzig strahlte in den ersten beiden Messetagen klar und blau, nach Kälte und Schnee im Vorjahr, diesmal der willkommene Kontrast erster milder Frühlingstage. So war die Stimmung des Publikums gehoben und erwartungsfroh. Am besten bei all jenen, die einen der zahlreich vergebenen Preise überreicht bekamen. Allen voran Sasa Stanisic mit seinem allseits hochgelobten Roman „Vor dem Fest“, als Gewinner des angesehenen und viel beklatschten „Preises der Leipziger Buchmesse“ in der Kategorie Belletristik. Am Abend vor der Messe konnte ich mich bei einer längeren Vorstellung aller fünf nominierten Autoren und ihrer Bücher davon überzeugen, dass dieser Roman und Martin Mosebachs „Blutbuchenfest“ preiswürdige literarische Qualität besitzen.

media_21223761--INTEGERDer diesjährige „Preis der Literaturhäuser“ ging an die Schriftstellerin und Buchgestalterin Judith Schalansky, „als eine Autorin, die sich in besonderem Maße um das Gelingen von Literaturveranstaltungen verdient gemacht hat und selbst den Akt des Signierens zu einem künstlerischen Moment macht.“ Leipzig zeichnet sich ja dadurch aus, dass uns Lesern die Schriftsteller und anderen Künstler besonders nahe kommen und ungezwungen begegnen. Und so wunderte ich mich, als Judith Schalansky, im engen Gedränge der Gänge an mir vorbei kam, nur darüber, dass ich sie sofort erkannte, weil sie genau so aussah wie auf den Fotos in ihren Büchern. Ein durchaus ungewöhnliches Phänomen – man vergleiche nur einmal die Abbilder der unzähligen Crime-Ladys mit den realen Frauen.

Einen besonders interessanten und wichtigen Preis vergab einmal mehr die Kurt-Wolff-Stiftung, die damit die Erinnerung an den großen Verleger Kurt Wolff (1887 bis 1963) wach hält. Diese Auszeichnung für kleine unabhängige, besonders engagierte Verlage, erhielten der Berliner Verbrecher Verlag (Hauptpreis, mit Euro 26.000 dotiert) und der in Hamburg beheimatete Mairisch Verlag (Förderpreis, Euro 5.000). Von persönlicher Dankbarkeit geprägt war die Laudatio des in mehreren Schreib-Sparten fleißigen Dietmar Dath, waren doch dessen erste Publikationen in eben jenem Verbrecher Verlag erschienen

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Der indische Historiker und Publizist Pankaj Mishra.

Im festlichen Rahmen der offiziellen Eröffnungsfeier der Buchmesse, die alljährlich viel Prominenz aus Politik und Gesellschaft im Gewandhaus versammelt, wird traditionell der „Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung“ überreicht. Er würdigt „Persönlichkeiten, die sich in Buchform um das gegenseitige Verständnis in Europa, vor allem mit den Ländern Mittel- und Osteuropas, verdient gemacht haben.“ Da überraschte es im ersten Augenblick, dass in diesem Jahr der indische Publizist und Historiker Pankaj Mishra ausgezeichnet wurde. Näher kommt man den Hintergründen wenn man erfährt, dass sein aktuelles Werk „Aus den Ruinen des Empires. Die Revolte gegen den Westen und der Wiederaufstieg Asiens“, sich aus einer nicht-westlichen Perspektive mit der kolonialen Überwältigung Asiens durch den Westen beschäftigt. In Diskussionen und Interviews hat mir der ruhige reflektive Ton dieses belesenen, bescheiden auftretenden Intellektuellen („Ich bin vor allem ein großer Leser.“) sehr gut gefallen.

Politische Themen und die damit verbundenen Gespräche und Debatten, drängten sich auf der Leipziger Buchmesse 2014 und dem begleitenden Lesefestival „Leipzig liest“ immer wieder in den Vordergrund. Das Interesse war rege und alle Veranstaltungen dieser Ausrichtung fanden großen Zulauf und aufmerksame Zuhörer. Nicht immer glücklich damit wurden vielleicht Autoren, die mit ihren frisch publizierten belletristischen Erzählformen in diesen Strudel aktueller zeitgeschichtlicher Fragen gerieten. Wie etwa die ebenfalls für den Buchpreis nominierte Katja Petrowskaja, die gerne über ihren Roman „Vielleicht Esther“, mit dem sie im Vorjahr den Bachmann-Preis gewonnen hatte, gesprochen hätte. Doch ihre Gesprächspartner nahmen zu oft die Gelegenheit wahr, die gebürtige Ukrainerin, die seit vielen Jahren in Berlin lebt und deutsch schreibt, zur aktuellen Situation in ihrem Geburtsland zu befragen. Wobei einem Moderator sogar die Peinlichkeit gelang, Petrowskaja auf ihre „Sowjetvergangenheit“ anzusprechen.

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Seine Signaturen waren in Leipzig gefragt: Martin Suter gehört zu den populärsten und auflagenstärksten Autoren der schweizerischen Literatur-Szene.

Ähnlich erging es den aus dem Gastland Schweiz angereisten Schriftstellern und Schriftstellerinnen. Bietet doch dieser kleine zentraleuropäische Viersprachenstaat nicht erst seit einer jüngsten Volksabstimmung immer wieder Anlass zu kontroversen Diskussionen. Und so mussten die Autoren mehr Auskunft über die Rolle der Alpenrepublik in Europa erteilen, als über ihre schriftstellerischen Erzeugnisse. Messebesucher konnten es sich derweil auf den vielen roten Bänken bequem machen, die von den Gästen über Messe und Stadt verteilt worden waren. Schweizbesucher kennen diese willkommenen Ruhe- und Sitzgelegenheiten von den hervorragend ausgeschilderten Wanderwegen, die das ganze Land durchziehen. Auch in Leipzig wurden sie dankbar angenommen, als ideale Plätze für eine kurze Erholung der strapazierten Füße oder ein erstes Prüfen der eingesammelten Prospekte, Kataloge und Leseproben.

Neokolonialistische Kraftmeierei des Ober-Russen Putin. Säbelrasseln einer ukrainischen Regierung, die kein Wählermandat besitzt. Eine deutsche Ministerin, die einer neuen Vorwärtsverteidigung das Wort redet (Stichwort: „Stärkung der Nato an den Ostgrenzen“). Der Blick zurück ins 20. Jahrhundert sollte eigentlich gegen jede Sehnsucht nach militärischen Auseinandersetzungen in Europa immunisieren. Vor einhundert Jahren begann der Erste Weltkrieg, Auftakt zu einem Jahrhundert der Vernichtung, Verwüstung und nicht mehr rückgängig zu machenden Entkultivierung Mitteleuropas. Auch an diesem Thema und den Büchern dazu kam man in Leipzig nicht vorbei.

5143CeB2mNL._Zwei Titel sind es, die ich mir aus dem unüberschaubar breiten Angebot herauspicken würde: Herfried Münklers „Der große Krieg: Die Welt 1914 bis 1918“, weil hier weit über das Militärische und Politische hinaus geblickt wird und weil ich den Autor als besonders gut lesbar schätzen gelernt habe (zuletzt: „Die Deutschen und ihre Mythen“). Sowie Hermann Vinkes „Der Erste Weltkrieg: Vom Attentat in Sarajewo bis zum Friedensschluss von Versailles.“ Für die zahlreichen Fotos, Karten und Grafiken zeichnet Ludvik Galzer-Naudé verantwortlich. Vinke gelingt es wieder ein komplexes und schwieriges Thema in äußerst ansprechender Weise für ein jüngeres Publikum aufzubereiten. Ich wünsche gerade diesem Buch eine große Leserschaft in allen Altersklassen.

Zurück zur Poesie. Und damit zur „Leseinsel Junger Verlage“. Für mich immer einer der wichtigsten und spannendsten Anlaufstellen im Messe-Tohuwabohu. Verlage wie Volland & Quist (Kurt Wolff-Förderpreis 2010), Mairisch (s. oben) und Satyr zählen hier zu den betreibenden Kräften. Bei Mairisch erschien der Debutroman von Lisa Kreißler. Auf dem Podium der Lesebühne las sie eine längere Passage aus „Blitzbirke“. Eine Liebesgeschichte mit phantastischen Elementen und altgermanischen Einsprengseln, in der die Autorin stilistisch kleinere Experimente wagt, während ansonsten durchweg – bei aller Qualität – auch von Nachwuchsautoren sehr konventionell erzählt wird.

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Nora Gomringer und das „Wortart Ensemble“.

Nora Gomringers Lyrik hingegen ist eine ganz eigene Welt, die sich nicht in gängige formale Kategorien einordnen lässt. Diese Dichterin missachtet virtuos die Grenzen von Wort und Melodie, Rap und Slam, Deklamation und Proklamation. A-capella-Interpretationen ihrer Texte durch das Dresdner Ensemble „Wortart“ zählten für mich zu den eindrucksvollsten Momenten des heurigen Leipziger Büchermärz. Die CD auf der man das hören kann trägt den schönen Titel „Wie sag ich Wunder“. Den vollen Genuss bieten allerdings nur die Live-Auftritte. Hier gibt es Hörproben und die Tour-Termine!

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In Kürze gibt es auf con = libri den zweiten Teil meiner Eindrücke von der diesjährigen Leipziger Buchmesse.

Feste lesen!

Bei Kerzenschimmer, Zimtgebäck und Malventee. In Wollsocken unter der Leselampe. Mit Büchern durch den Winter.

“Es ist etwas Besonderes um Menschen, die am gedruckten Wort Interesse haben. Sie sind eine eigene Spezies: kundig, freundlich, wißbegierig – einfach menschlich.” Dieser Satz stammt von Nathan Pine, der, als er im Dezember 1982 neunzigjährig in New York verstarb, 77 Jahre als Buchhändler gearbeitet hatte.

Lange Lesen

Zum Beispiel mit Jan Brandt und seinem “Gegen die Welt” (Dumont. Euro 22,99). Der aus Leer stammende Jungautor und Journalist macht seine Heimatregion Ostfriesland zur literarischen Landschaft. Die Geschichte beginnt Mitte der Siebzigerjahre und erzählt wird auf fast 1000 Seiten die Geschichte des Daniel Kuper, der gerne zwischen Stühle und geistige Fronten gerät und in dessen Leben es nicht immer mit rechten Dingen zu geht. “Rebellisch und bewegend, wahnsinnig und witzig”, fand Söhnke Wortmann das Buch.

“Der wahrhaftige Volkskontrolleur” von Andrej Kurkow (Haymon. Euro 22,90) hat leider nur schlappe 500 Seiten. Man hätte gerne mehr gehabt von diesen absurden, skurrilen und doch der Realität so nahen Episoden und Ereignissen, die in Russland angesiedelt sind. Kurkow selbst stammt aus der Ukraine und ist spätestens seit seinem “Picknick auf dem Eis” auch bei uns bestens bekannt. Ob Russland oder Ukraine – nicht auszuschließen, dass der Alltag in beiden Staaten derzeit große Ähnlichkeit mit Kurkows Romanen hat. In seinem neuen Buch geht es um einen eher harmlosen Zeitgenossen, der unerwartet in das groteske Amt eines Volkskontrolleurs gewählt wird. Das bleibt nicht folgenlos.

Wer den diesjährigen Gewinner des deutschen Buchpreises noch nicht gelesen hat, sollte die Feiertage dazu nutzen. “In Zeiten des abnehmenden Lichts” (Rowohlt. 19,95) reisen wir mit Eugen Ruge. Und es sind sehr deutsche Zeiten. Eine breit angelegter Familienroman, der ganz aus östlicher, also DDR-Perspektive erzählt wird. Der Autor war bereits 57 Jahre alt, als sein Erstling dieses Jahr erschien und für den die eigene Familiengeschichte reichlich Stoff lieferte. Einer der Höhepunkt, wie in so manch gutem Generationen-Roman, ist ein Weihnachtskapitel. Rasant und amüsant wie hier linienharte Stalinisten den Spagat versuchen zwischen völligem Ignorieren und gelassenem Hinnehmen dieser christlich-heidnischen Traditionsveranstaltung.

Wer lieber etwas lesen möchte, das mit unseren aktuellen Problemen zu tun hat, ist bei einem anderen Buch richtig, das ebenfalls ein wundervolles, vor allem nahrhaftes Weihnachtskapitel zu bieten hat. Hauptsächlich geht es jedoch um Spekulation, Warentermin-Geschäfte, geschäftlichen Niedergang, die Krise des Kapitalismus, die Unzufriedenheit breiter Bevölkerungsschichten und um Probleme mit der nachwachsenden Generation. Das Buch ist dick, gut und erschien erstmals vor 110 Jahren: “Buddenbrooks” von Thomas Mann. (S. Fischer. Gebunden Euro 14, als TB Euro 9,95)

Besonderes Lesen

Judith Schalansky erfüllt mir viele Wünsche. Sie hat ihr neuestes Werk traumhaft schön gestaltet, selbst gesetzt, Material, Schrift und Farben ausgewählt. In der Hand hält man mit “Der Hals der Giraffe” (Suhrkamp. Euro 21,90) ein ganzheitlich erfahrbares Sinnes- und Lese-Erlebnis, das die vielfach begabte Schriftstellerin schelmisch einen Bildungsroman nennt. Es ist zeitlich vor und nach der deutschen Wende angesiedelt und handelt von einer Lehrerin, die Naturwissenschaften unterrichtet und deren Verstand Gefühlsregungen ablehnt. Eine grausame und gleichzeitig bemitleidenswerte Figur, für die man als Leser seltsamerweise alsbald echte Sympathie entwickelt. Ein faszinierender Beweis, was Literatur anrichten kann.

“Wunsiedel” (Wunderhorn. Euro 18,90) ist ein kleines Städtchen im nördlichen Franken, nahe der Grenze zu Tschechien. Nicht jeder kennt es. Im Sommer finden dort auf Deutschlands ältester Freilicht- und Naturbühne die Luisenburg-Festspiele statt. Wunsiedel ist der Geburtsort des ebenso originellen, wie zu wenig geschätzten Dichters Jean Paul. Beides spielt in dem schmalen Band von Michael Buselmaier eine zentrale Rolle. Der Autor, der wenig und selten veröffentlicht, lässt seinen Protagonisten zweimal in die Provinz reisen. Das reicht um den Leser über dessen Leben zu unterrichten. Lektüre für Menschen, die sich bei Handke, Hermann Lenz oder Kappacher nicht langweilen.

“Die Herrlichkeit des Lebens” (Kiepenheuer & Witsch. Euro 18,99) ist ein wirklich doppelbödiger Titel für das neue Buch von Michael Kumpfmüller und inhaltlich ein starker Kontrast zu seinem vielbeachteten “Hampels Fluchten”. Geht es darin doch um die letzte Liebe, das elende Siechtum und das frühe Sterben des Franz Kafka. Irgendwo zwischen jeder Menge Elend und Aussichtslosigkeit glimmt der Funke eines kleinen Glücks, das fast alles erträglich macht. Eindrucksvoll und einfühlsam erzählt. Franz Kafka, der deutschsprachige Jude aus Prag, einer der größten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, starb am 3. Juni 1924. Er wurde nur 41 Jahre alt.

Preiswert lesen

Eine ebensfalls längst vergangene jüdische Welt und Kultur lernen wir in Peter Manseaus “Bibliothek der unerfüllten Träume” (dtv. Euro 9,90) kennen. Ein junger amerikanischer Autor mit praller osteuropäischer Erzähllust. In den Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts wandert Itsik Malpesch aus dem bessarabischen Kischinau nach New York aus. Sein Leben ist von zwei großen Lieben geprägt. Zur Literatur und zur Metzgerstochter Sascha Bimko. Malpesch denkt und dichtet in einem ausgestorbenen jiddischen Dialekt. Am Ende seines Lebens ist er der einzige der diesen noch beherrscht.

Hanns-Josef Ortheils  “Die Erfindung des Lebens” (btb. Euro 11,99) ist wieder etwas für Leute, die gerne länger am selben Buch lesen. Fast 600 Seiten umfasst dieser stark autobiographische und kaum verschlüsselte Roman des in Köln und im Westerwald verwurzelten, heute in Stuttgart lebenden Schriftstellers, Nachdenkers und Genießers. Wie der Autor, erlebt die Hauptfigur des Romans, eine Mutter, die nach zahlreichen Schicksalschlägen nicht mehr spricht. Und so bleibt auch das Kind zunächst stumm. Der Vater und die Musik öffnen den Jungen schließlich für die Welt der Sprache. Er wird Schriftsteller. Eine Geschichte, fast zu schön, wüßte man nicht, dass sie im Kern wahr ist.

Viele sagen: Das ist der hinreisenste Liebesroman der letzten Jahre. Und die Geschichte ist bereits in unseren Kinos angekommen. Doch man sollte keinesfalls auf das Buch verzichten. “Zwei an einem Tag” (Heyne. Euro 9,99) von David Nicholls. Sie sind zwanzig als sie sich kennenlernen, aber eine gemeinsame Zukunft werden sie nicht haben. Getrennt durch Jahr und Tag, verpassen und begegnen sich immer wieder. Solide Erzählkunst, Humor und ein wenig Tragik, dazu ein Schuss britische Ironie – das macht zumindest die Leser glücklich.

Und zum guten Schluss noch: Das herrliche “Das war ich nicht” (Goldmann. Euro 8,99) des deutsch-isländischen Hamburgers Kristof Magnusson gibt es inzwischen auch als Taschenbuch. Drei Menschen, die vorher nichts voneinander wussten, geraten in abenteuerliche Wechselbeziehungen und eine Bank bricht zusammen. Rasant und amüsant. Mit für deutsche Romane ungewöhnlich flotten Dialogen.

Nun machen wir uns also auf zum Buchhändler unseres Vertrauens, Friedrich Nietzsches Satz immer im Hinterkopf: “Ein Buch, das man liebt, darf man nicht leihen, sondern muss es besitzen.”

Die Fotos dieses Beitrags sind von Wiebke Haag. Sie entstanden in dem walisischen Buchdorf Hay-on-Wye.