Alles hat ein Ende.

Auch die längste Erzählung ist irgendwann zu Ende, die längste Netflix-Serie hat einen letzten Teil, beim Lesen selbst des dicksten aller Romane taucht schließlich der hintere Umschlag auf, und es soll sogar Besessene geben, die Prousts Verlorene Zeit von allem Anfang bis zum bitteren Ende gelesen haben. 

Tage, Wochen, Monate sind ebenso endlich wie ein jedes Jahr. Der magersüchtige Abreißkalender an der Küchenwand zeigt es Ende Dezember unmissverständlich. 

Menschliches Leben ist ohne die Erfahrung von Verlust nicht vorstellbar. Jede und jeder erfährt vor dem eigenen Ende das Verschwinden von Mitmenschen, vertrauten Orten, Gegenständen oder Konventionen, mitunter sogar der eigensten Erinnerungen. Seit Menschen denken, versuchen Schriftsteller unser Denken und Handeln, unsere Orte, die Eigenheiten der jeweiligen Epoche, erzählerisch gestaltet zu bewahren und weiter zu geben.

In ihrem großartigen Verzeichnis einiger Verluste schreibt Judith Schalansky resümierend, dass das Entstehen ihres  Buches von dem Begehren angetrieben (wurde), etwas überleben zu lassen, Vergangenes zu vergegenwärtigen, Vergessenes zu beschwören … 

Nicht nur Kalender werden dünner. Derzeit wird deutlich, auf welch schwachem Fundament unsere Wohlstandswelt erbaut ist. Die Nachschubströme beginnen zu versickern und versiegen. Vom Rohöl wissen wir es seit Jahrzehnten. Neu hinzu kommen weitere Bodenschätze und Substanzen, seltene Erden, Metalle, Halbmetalle und Elemente, selbst scheinbar Selbstverständliches wie Sand, Kies oder Wasser wird rarer, teurer sowieso und in der Konsequenz umkämpfter. 

Es fehlen plötzlich Materialien und Produkte, die für eine vernetzte smarte Zukunft unabdingbar sind. Ihre Knappheit, das absehbare Ausbleiben, gefährdet die Herstellung und damit den Einsatz von elektronischen Rechnern und digitalen Systemen aller Art, den Einsatz künstlicher Intelligenz nicht weniger wie selbstlernende Systeme, den Betrieb gigantischer Cloud-Cluster oder die gerade entwickelten autonom fahrenden Automobile.

Gerade einmal 500 Jahre ist es her, dass Martin Luther mit seiner Übertragung des Neuen Testaments zur Schaffung einer einheitlichen deutschen Schriftsprache beitrug. Ganz nebenbei, allerdings nicht ohne Absicht, war damit die Geheimnistuerei der Pfaffen zu Ende, die mit ihrem Latein eine inhaltliche Teilhabe ihrer Gemeinden ausschlossen. Breiten Schichten wurde das Lesenlernen ermöglicht und Bildungschancen eröffnet. Ein einzigartiger Emanzipationsprozess breiter Schichten begann.

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts gerät diese Entwicklung offenbar ins Stocken. Lesebereitschaft und -vermögen gehen nachweislich zurück. Immer mehr Menschen haben Probleme mit dem Verständnis längerer Texte und komplexer Zusammenhänge. Gleichzeitig kaufen und lesen immer weniger Menschen Bücher, Zeitschriften und Zeitungen.

Macht nichts! – hört man rufen – gibt eh viel zu viele! 

Es sieht ganz so aus, dass sich das derzeit ändert. Neben den eben erwähnten, aus banalen materiellen Gründen. Die Abwärtsspirale ist längst aktiv. Um Bücher zu produzieren wird Papier benötigt. Für viele Bücher viel Papier. Papier wird nicht zuletzt aus Altpapier gewonnen. Altpapier wird rar, weil die gedruckten Zeitungen immer dünner werden undoder zu Digitalausgaben mutieren. Wenn Bücher und gedruckte Zeitschriften weniger werden, wird weniger Papier makuliert, also zu Altpapier. So beißt sich die Schlange in den sprichwörtlichen Schwanz und allen Arten von Druckwerken läutet in absehbarer Zukunft möglicherweise das Sterbeglöckchen.

Die Folge könnte die endgültige Flucht ins Digitale sein. Doch siehe oben: Thema Rohstoffe. So verschwinden nach und nach auch Laptop und Server, Pad und Pod, Cloud und Sound. Und natürlich hat dann das sich bis neulich lustig ausbreitende E-Book ebenfalls keine Zukunft mehr. Bücher analog oder digital, gedruckt oder gespeichert, verschwinden. Sie werden zu musealen Ausstellungsstücken, nähren, soweit es besondere Ausgaben oder Exemplare sind, ein Weilchen noch die wenigen verbliebenen Antiquare, erzielen als wertvolle Einzelstücke gelegentlich beachtliche Erlöse auf Versteigerungen.

Szenenwechsel. Ein kurzer Ausflug in das Jahr 2122. 

Elektronische Geräte wurden letztmals um 2040 produziert, sie sind längst unbrauchbar, siffen auf Spezialdeponien, die auf Atomendlagern errichtet wurden, vor sich hin. Bücher werden schon lange nicht mehr produziert und sind entsprechend rar, viele Zeitgenossen haben in ihrem ganzen Leben kein einziges Exemplar zu Gesicht bekommen. Wenn irgendwo eines auftaucht, wissen die meisten nicht mehr was das eigentlich ist und was man damit anfangen kann. Die Lesekompetenz der Bevölkerung tendiert gegen Null, sie reicht oft nur mehr, um die ohnehin vertrauten Schilder mit Orts- und Straßennamen zu entziffern. 

Doch Menschen brauchen Geschichten. Und wenn auch seit langem nicht mehr gedruckt wird, so ist an Erzählstoff keineswegs Mangel. Am beliebtesten sind Geschichten aus der Vergangenheit. Von inzwischen verschwundenen Tannenwäldern, von Automobilen, die mit etwas angetrieben wurden, das man Benzin nannte, von Schulen, in die alle Kinder gehen mussten, von warmen Sommern und kalten Wintern. Die Erzählungen verbreiten sich jetzt wieder mündlich. In Erzählkreisen, an Seeufern, an Lagerfeuern und bei Wind und Regen in den klammen Stuben.

So wie im brandenburgischen Örtchen Wittenhagen, inmitten des Feldberger Seenlandes gelegen. Auch hier können die Bewohner nicht mehr oder nur noch schlecht lesen. Mit Ausnahme jener sehr alten Frau. Sie wohnt in einer ehemaligen Bauernkate am Ortsrand; alle nennen sie nur Grethe. Klein ist sie, geht gebückt und hat das schüttere graue Haar zu einem Dutt geflochten. Vor Jahrzehnten kam sie aus der Stechliner Gegend nach Wittenhagen. Sie hat damals ein gutes Dutzend zerlesener Bücher mitgebracht, die bis heute in ihrer Wohnstube im Regal über der Eckbank stehen. Kinder lieben die Alte sehr, weil sie besonders viele aufregende, manchmal gruselige und manchmal lustige Geschichten kennt. Am liebsten hören sie, was die Alte Märchen nennt.

Hin und wieder liest sie sogar in einem Kreis von erwachsenen Bewohnern vor. Häufig aus einem bestimmten, besonders seitenreichen Buch. Es stammt von einer Dichterin, die, so berichtet Grethe, im 21. Jahrhundert selbst in Brandenburg lebte und noch richtige Bücher schrieb und drucken ließ. Sie soll gerade deshalb sehr berühmt gewesen sein. Ihr Name war Juli und das Buch, aus dem Grethe mit leicht brüchiger Stimmer liest, trägt den seltsamen Titel Unterleuten

Grethe geht jeden Tag mehrmals mit ihrem Hund vors Haus. Es ist ein Spitz mit weißem Fell, eine Hündin, also eigentlich eine Spitzin. Das Tier hört auf den Namen Effy. Nach jedem Spaziergang steht Grethe in der Haustür und ruft: Komm, Effy, komm. 

Nun, vielleicht sieht die Zukunft ganz anders aus. Wer will das schon wissen? Vielleicht wird ausgerechnet das gedruckte Buch all die Durststrecken, die Zeiten strengen Mangels und dauernder Lieferschwierigkeiten, einigermaßen unbeschadet überstehen. 

Eine andere Möglichkeit wäre, es wird so, wie Judith Schalansky es sich vorstellen möchte: Und für wenige kostbare Momente erschien mir während der langjährigen Arbeit an diesem Buch die Vorstellung, dass das Vergehen unvermeidlich ist, genauso tröstlich wie das Bild seiner in den Regalen verstaubenden Exemplare

Zu Ende geht ein Jahr: 2021. 

Es war ein ziemlich pandemisches Jahr. Wir warten auf ein neues. Das mit der Nummer 2022. Es hält hoffentlich mehr bereit als Virenvarianten und neue Kalender. 

Vielleicht sogar ein neues Buch von Juli Zeh.

Das Nußbaumblatt

Ein Juligedicht von Louis Fürnberg. Mit Notizen zum Dichter.

Das Nußbaumblatt

Heut hat der Wind ein welkes Nußbaumblatt
in unsern schmalen, kalten Hof getragen,
der nichts als eine hohe Mauer hat.

Da haben wir die Hände ausgestreckt
danach, die schweigend wir den Hof durchschritten;
was so ein Blatt für Sommerwünsche weckt.

Und einer fing´s in seiner hohlen Hand
und hielt es zart und zärtlich an die Wange,
ein Nußbaumblatt, von Juliglut verbrannt;

und reicht es dem, der hinter ihm ging stumm …
der küßte es, und so im Weitergange
ging es, ein welkes Blatt, geküßt reihum.

In einem der bekanntesten Lieder der im Osten und Westen unserer Republik gleichermaßen beliebten Deutschrock-Formation Puhdys kommt zu rhythmischem Gitarrenklang ein Lebenswunsch zum Ausdruck: Alt wie ein Baum möchte ich werden, so wie der Dichter es beschreibt. 

Welcher Dichter ist da eigentlich gemeint? Nach ihm fragt kaum jemand. Er hieß Louis Fürnberg und die Puhdys beziehen sich auf sein Gedicht Alt möcht’ ich werden, das so beginnt:

Alt möcht’ ich werden wie ein alter Baum, / mit Jahresringen längst nicht mehr zu zählen …

Als Louis Fürnberg 1909 in Iglau geboren wurde, wäre die Vorstellung dass sich sein Lebenskreis eines Tages in Weimar schließen würde wohl völlig abwegig erschienen. Iglau, die Bergstadt an der Grenze von Böhmen und Mähren zählte um diese Zeit beachtliche 28.000 Einwohner. Etwa 22.000 davon hatten Deutsch als Muttersprache. Die jüdische Fabrikantenfamilie Fürnberg zog nach Karlsbad um, wo Louis Kindheit und Jugend verbrachte und das Gymnasium besuchte. Anschließend ging er in Prag auf die deutsche Handelsakademie und wurde 1928 Mitglied der (deutschen!) kommunistischen Partei. Erste Gedichte erschienen in deutschsprachigen Zeitungen. 1937 heiratete er die aus Wien stammende Lotte Wertheimer.

Die Machtergreifung Hitlers in Deutschland und der Einmarsch seiner Armee in Prag im März 1939 warf das junge Paar aus vorhersehbarer Lebensbahn. Die Flucht nach Polen scheiterte. Lotte wurde bereits nach zwei Monaten aus der Haft entlassen und floh nach London. Louis blieb inhaftiert und wurde mehrfach gefoltert. Der Familie gelang es schließlich ihn freizukaufen. Über Italien und Jugoslawien flohen Lotte und Louis nach Palästina. Die meisten Mitglieder ihrer Familien fielen dem Holocaust zum Opfer.

Zurück in Prag arbeitete Louis Fürnberg ab 1946 zunächst als Journalist und war von 1949 bis 1952 Kulturattaché der tschechoslowakischen Botschaft in Ost-Berlin. Das politische Klima in seiner Heimat wurde zunehmend von antisemitischen und nationalistischen Tendenzen geprägt. Aus Louis Fürnberg musste Lubomir Fyrnberg werden. Im Rahmen seiner Tätigkeit für die Botschaft kam er 1949 zum ersten Mal nach Weimar und nahm an den Feierlichkeiten zu Goethes 100. Geburtstag teil. Thomas Mann hielt seine berühmte Ansprache im Goethejahr 1949 und widerstand den Versuchen beider deutscher Staaten den damals noch im amerikanischen Exil lebenden Nobelpreisträger für sich zu vereinnahmen. 

Der Feingeist, Dichter und Goetheverehrer Louis Fürnberg hingegen war in seinem heimlichen geistigen Zentrum angekommen. Dass diese geistig-literarische Heimat in einem Staatswesen lag das den Weimarer Idealen, seiner Tradition und seinen ehedem hier wirkenden Repräsentanten, von Wieland bis Goethe, Hohn sprach, ist aus heutiger Sicht leicht zu erkennen. Fürnberg und viele andere jedoch fühlten sich damals im richtigen Deutschland, hofften auf eine gerechte Zukunft in sozialistischer Gesellschaft. Mit seinem literarischen Wirken setzte sich ja nicht nur Fürnberg für diese Utopie ein. Auch Kollegen wie Brecht, Huchel, Hermlin, und vor allem der zum Funktionär avancierte Johannes R. Becher, waren mit Teilen ihres Schaffens auf Linie.

1954 übersiedelte das Ehepaar Fürnberg mit ihren beiden Kindern nach Weimar. Wohnadresse wurde die Rainer-Maria-Rilke-Straße 17. Eine berufliche und damit materielle Basis für die Familie fand Louis als stellvertretender Leiter der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur. 1955 wurde er Mitglied der Deutschen Akademie der Künste. Noch im selben Jahr erlitt er einen schweren Herzinfarkt von dem er sich nie wieder richtig erholte. Der Dichter, der schon als junger Mann schwer an Lungentuberkulose erkrankt war, starb schließlich am 24. Juni 1957. Er wurde 48 Jahre alt. Ein großer Trauerzug begleitete den Sarg durch ein dichtes Spalier Weimarer Bürger zum Ehrengräberfeld des Historischen Friedhofs.

Was ich singe, sing ich den Genossen. / Ihre Träume gehen durch mein Lied. 

Louis Fürnberg 1949. Quelle: Bundesarchiv Bild 183-S81891

Louis Fürnberg verstand sich als politischer Dichter. Er zählte zu den von den Führungskadern geschätzten, weil nützlichen, benutzbaren Staatsdichtern. Bis in breite Schichten der Bevölkerung war er bekannt und beliebt. Insbesondere Teile seiner Lyrik, die manchmal fast hymnische Züge hatte, zeugen von fester kommunistischer Gesinnung, der er ein Leben lang treu blieb. Seine Gedichte wurden immer wieder vertont. Es entstanden eingängige, leicht singbare Lieder die besonders in Schulen und Jugendorganisationen sehr populär wurden.

Neben unzähligen Gedichten schrieb Fürnberg Erzählungen und Romane. Zu seinen bekannteren Prosaarbeiten zählt die Novelle Begegnung in Weimar, in der er seiner Verehrung für das klassische Weimar und seine Goethe-Bewunderung zum Ausdruck bringt. Sie erzählt von einem Treffen des polnischen Dichters Adam Mickiewiczs mit Johann Wolfgang von Goethe. Die über weite Strecken in Dialogform gestaltete Geschichte deutet das erzählerisch-gestalterische Potenzial des Autors an, ist inhaltlich letztlich zu speziell und elitär.

Nach dem Tod des systemtreuen Dichters betreute die Witwe Lotte Fürnberg das Werk ihres Mannes. Sie gab seine Gesammelten Werke heraus, die in sechs Bänden in den Jahren 1964 bis 1973 erschienen. Die langjährige Freundschaft mit Arnold Zweig dokumentiert der 1978 publizierte Briefwechsel. Louis Fürnberg wurde von seinem Umfeld als freundlicher, bescheidener Mensch charakterisiert. Sein großer Gerechtigkeitssinn und seine Sympathie für die Vernachlässigten und zu kurz Gekommenen führten dazu dass er sich für einen Weg entschied der zwar viel Hoffnung, doch letztlich keine Lösung für die Probleme der Welt bot.

In Weimar entstand ein Louis-Fürnberg-Archiv, das Lotte Fürnberg bis zu ihrem Tod, im Alter von 92 Jahren im Januar 2004, betreute. Ruhm und Bekanntheit des Schriftstellers wurden auch nach dem Ende des DDR-Staats hauptsächlich in Weimar und Thüringen eifrig gepflegt. Als 2009 der 100. Geburtstag anstand, gab es eine Gedenkveranstaltung im Weimarer Stadtschloss. Alena, Tochter der Fürnbergs, trug Gedichte des Vaters vor und Wulf Kirsten hielt die Laudatio. In einem Gebäude der KZ-Gedenkstätte Buchenwald, wenige Kilometer außerhalb der Klassikerstadt gelegen, wurde Louis Fürnbergs Arbeitszimmer originalgetreu rekonstruiert. Es kann nach Anmeldung besichtigt werden.

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Fürnberg, Louis: Gesammelte Werke in sechs Bänden. – Berlin und Weimar, 1964 – 1973

Fürnberg, Louis; Zweig, Arnold: Der Briefwechsel zwischen Louis Fürnberg und Arnold Zweig : Dokumente e. Freundschaft. – Berlin und Weimar, 1978

Fürnberg, Louis: Die Begegnung in Weimar. 2. Aufl. – Berlin und Weimar, 1969

Emmerich, Wolfgang: Kleine Literaturgeschichte der DDR. – erw. Aufl., Berlin, 2009

Das Blättchen. Zweiwochenschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft. – Berlin : Verl. d. Blättchens (Online-Ausgabe) (22) 2019. https://das-blaettchen.de/schlagwort/louis-fuernberg