“Über das Land hinaus”

Von Lenz und Niedlich, bis Sayer und Riethmüller. Irene Ferchls Zeitreise durch den literarischen Südwesten.

Am 8. Mai 1955 hielt Thomas Mann seine berühmte Rede zum 150. Todestag Friedrich Schillers. Im Großen Haus des Württembergischen Staatstheaters zu Stuttgart. Im selben Jahr wurde in Marbach am Neckar, Schillers Geburtsstadt, das Deutsche Literaturarchiv gegründet. Von 1953 bis 1968 existierte die “Hochschule für Gestaltung” in Ulm. Inge Aicher-Scholl, Otl Aicher und ihr erster Rektor Max Bill wollten so die Bauhaus-Tradtion fortführen.

“Literarisches Leben in Baden-Württemberg” ist der Untertitel des großformatigen Bandes, der mir diese Ereignisse vergegenwärtigt. Er ist bei Klöpfer & Meyer erschienen. Schwarz auf gelb signalisiert er die Landesfarben, seine inhaltlichen Grenzen sind allerdings nach allen Seiten offen, wie der Titel erkennen lässt. Begrenzen musste sich die Autorin und Herausgeberin bei der zu berücksichtigenden Zeitspanne. Sie beginnt 1950, fünf Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs und zwei Jahre vor der Entstehung des heutigen Bundeslandes, und erreicht schließlich unsere Gegenwart. So ist eine Kapiteleinteilung entstanden, die sich in sieben Dekaden gliedert.

DSCN1251

Gegründet 1828 in Leipzig. Heute in Baden-Württemberg zu Hause: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH

Natürlich lassen sich nicht alle Ereignisse, Personen, Werke einer einzigen Dekade zuordnen, die Chronologie wird oft erweitert oder durchbrochen, “denn Geschichte und Geschichten spielen sich eben niemals geordnet ab: Da gibt es Rückblicke und Rückblenden … die historischen Schichten mischen sich, fließen ineinander … “ (Irene Ferchl im Vorwort). Entsprechend bunt und vielfältig sind die Stilelement, die Formen, die für diese kaleidoskopische Vorgehensweise verwendet werden: “Essays und Romanauszüge, Gespräche und Gedichte, Erzählungen und Interviews, Porträts und Reportagen.” Der renommierte “schwäbische” Kulturwissenschaftler Hermann Bausinger hat eine Einleitung geschrieben, in dem er den Kulturraum Südwestdeutschland ungeachtet politischer Landesgrenzen definiert.

Jeder Zeitabschnitt beginnt mit einem kurzen prägnanten Text eines schreibenden Zeitgenossen und einem Zeitfenster, dass einige wichtige Meilensteine der jeweiligen Epoche in Erinnerung bringt. Das ist sehr nützlich. Denn wie mir, wird es vielen Anderen auch gehen. Hatte ich doch völlig verdrängt, dass am 4. Oktober 1983 das Stuttgarter Schriftstellerhaus eröffnete, oder dass Arnold Stadler 1999 mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet wurde. Ähnlich nützlich wie diese Synopsen ist das erstaunlich umfangreiche Namensregister von Achternbusch, Herbert bis Ziegler, Leopold.

DSCN1743

Ein Haus für die Literatur der Zukunft: Die Stadtbibliothek Ulm

Dass in einer Publikation von Irene Ferchl die schreibenden Frauen nicht zu kurz kommen, ist ebenso wenig überraschend wie erfreulich. So war ich sehr angetan, zwei der im allgemeinen Rummel des Betriebs eher als Mauerblümchen anzusehenden oberschwäbischen Marien in diesem Buch zu finden. Maria Müller-Gögler mit dem Gedicht “Kindheit” und Maria Beig mit ihrem Text “Paradies vorm Ausverkauf.” Ebenfalls Außenseiter angesichts landläufiger Vermarktungs-Klischees war sicher der in sich gekehrte Hermann Lenz und ist es der Zeitgenosse Walle Sayer mit seinen schmalen Bändchen in denen seine zarten Miniaturen erscheinen.

Unterhaltsam amüsant sind die Beiträge von Peter Härtling (“Die Kehrwoche”) und Thaddäus Troll (“Der Schwabe und die Musen”). Spannend die Informationen über die Entwicklungen im Buchhandel in diesen fast 70 Jahren. Da wird zum einen an das Stuttgarter Bibliotop des Wendelin Niedlich erinnert (“Babylonische Buch-Türme und -Labyrinthe”), während Osiander-Chef Heinrich Riethmüller im Interview über die nicht immer einfache Situation seiner Branche in der Gegenwart Auskunft gibt. Er ist es, der uns Buch- und Literaturenthusiasten etwas aufatmen lässt: “Bei aller Euphorie gegenüber dem E-Book und der Digitalisierung glaube ich, dass man auch in zwanzig Jahre noch gedruckte Bücher haben wird.”

FerchlWas diese Welt der schönen Bücher und ihrer Macher im deutschen Südwesten zu bieten hatte und immer wieder anzubieten hat, macht das mit zahlreichen schwarzweißen Fotos illustrierte Buch von Irene Ferchl deutlich.

Ferchl, Irene (Hrsg.): Über das Land hinaus : literarisches Leben in Baden-Württemberg. – Klöpfer & Meyer, 2016

In Hölderlins Nähe

Ein Buch von Barbara Wiedemann erkundet Paul Celans Spuren in Württemberg und untersucht sein Verhältnis zu Deutschland.

Ende Oktober. Einer der letzten sonnigen und bunten Herbsttage. Ein Gang durch den Alten Botanischen Garten in Tübingen. Unter farbigen Baumkronen spielende Kinder mit ihren smartphonevernarrten Müttern. Junge Seiltänzer und Ballartisten auf weiten Wiesenflächen. Lesende Studentinnen und Studenten haben die Bänke besetzt. Vor der Brücke über die Ammer: Ein großer alter Herr mit langem schneeweißen Bart in Stricksocken und Ledersandalen spricht lebhaft zu einer spätsommerlich gekleideten jungen Frau mit dicker Umhängetasche und Fahrrad. Als Emeritus und Studentin stelle ich mir die Beiden vor, und dass er dabei war als Paul Celan in den 1950er und 1960er Jahren in Tübingen seine Gedichte vortrug. Vielleicht saß er neben Walter Jens, Ernst Bloch oder Hermann Lenz.

9783863510725_LBarbara Wiedemann hat ihr Celan-Buch an der Werk- und Editionsgeschichte von Celans Lyrik entlang geschrieben. Tübingen ist dabei Ausgangs- und zusammen mit Stuttgart geographischer Mittelpunkt. Die Germanistin und Romanistin Wiedemann arbeitet und schreibt seit vielen Jahren über Paul Celan. Sie ist Lehrbeauftragte an der Universität Tübingen und Herausgeberin zahlreicher Publikationen aus Celans Nachlass. Darunter der berührend poetische Briefwechsel mit der seelenverwandten Dichterfreundin Nelly Sachs und eine Dokumentation des Schriftverkehrs mit dem befreundeten Ehepaar Hanne und Hermann Lenz.

Hermann Lenz, ein Schriftsteller dem man früh das Etikett “Außenseiter” anklebte, hat Celan in seinem figurenreichen autobiographischen Roman “Ein Fremdling” in Gestalt des Dichters Jakob Stern auftreten lassen: “Jakob Stern las, und dabei flog alles Muffige beiseite… Von Stern ging eine Strahlungskraft aus; von ihm und seinen Versen… Stern war der einzige von heute, der sich sehen lassen konnte neben denen aus der alten Zeit; den Dichtern nämlich… “

1952 war der erste Gedichtband Celans in der Bundesrepublik erschienen. “Mohn und Gedächtnis”, der das berühmte Gedicht “Todesfuge” enthält. Im Juli des selben Jahres kam der Dichter zum ersten Mal nach Stuttgart, auf Einladung seines damaligen Verlags, der Deutschen Verlagsanstalt (DVA). Die Freundschaft mit dem Ehepaar Lenz begann bei einem Stuttgart-Besuch im Jahr 1954. “…bei ihnen wohnte Celan, weil der Verlag diesmal seinem Autor, an dem er inzwischen kräftig verdient hatte, zwar großzügig die Fahrkosten erstattete, sich um ein Hotelzimmer aber nicht gekümmert hatte.” Die enge Verbindung mit Hanne und Hermann Lenz blieb zwar nicht ganz ohne athmosphärische Störungen, doch sie gehörte bis zu seinem Freitod im Jahre 1970 zu den Konstanten in Celans Leben.

YAKUMO DIGITAL CAMERA

Tübingen besuchte Paul Celan zum ersten Mal am 3. Februar 1955. Diese “Pilgerfahrt zu Hölderlin” führte ihn an das Grab im alten Stadtfriedhof und in den “‘Turm” am Neckar. 1955 erschien unter dem Titel “Von Schwelle zu Schwelle” ein weiterer Gedichtband. Seine erste Lesung in Tübingen fand am 3. Juni 1957 statt. Im Hörsaal 9 der „Neuen Aula“ der Universität, eingeladen und veranstaltet von der Buchhandlung Gastl. Vor einigen Monaten ist bei Klöpfer & Meyer ein wunderbares Buch mit dem Titel “Gastlwelt” erschienen. Eine “Hommage an eine alte Buchhandlung” mit Beiträgen dankbarer Kunden und Freunde. In ihrem Kapitel erzählt Barbara Wiedemann die Geschichte von Celans erster Lesung in Tübingen.

1959 erschien “Sprachgitter” und 1960 wurde Paul Celan mit dem Büchnerpreis ausgezeichnet. Er reiste stets mit gemischten Gefühlen nach Deutschland. (Antijüdische Hass-Parolen an Häuserwänden waren keine Seltenheit.) Sehr deutlich nahm er den immer noch präsenten Antisemitismus im Land wahr und beklagte die mangelnde Aufarbeitung der Nazizeit im Deutschland nach 1945. Die Schriftsteller-Kollegen nahm er davon nicht aus. Als 1959 Heinrich Bölls “Billard um halb zehn” erschien sah er in diesem Werk ebenfalls entsprechende Tendenzen und es entspann sich eine Kontroverse zwischen den Schriftstellern.

In ihrem Buch geht Barbara Wiedemann auch noch einmal ausführlich auf die sogenannte “Goll-Affäre” ein. Die Witwe des Dichters Ivan Goll erhob gegen Celan Plagiatsvorwürfe. Obwohl sich die Unterstellungen als haltlos erwiesen, war Paul Celan tief getroffen. Aber “…viele deutsche Gesprächspartner rieten Celan vor allem dazu, seine Empfindlichkeiten doch möglichst abzustellen!” Während also die breite literarische Öffentlichkeit abwiegelte, stand Hermann Lenz dem Freund mit klaren Worten bei: “Solche Infamien sind auf die Dauer sehr gefährlich, denn eine Lüge, die immer wieder ausgesprochen wird, kann zuletzt doch noch geglaubt werden.”

DSCN0699

Die erste Lesung Paul Celans in Tübingen fand am 3. Juni 1957 in der „Neuen Aula“ der Universität statt.

“Ein Faible für Tübingen“. Paul Celan in Württemberg. Deutschland und Paul Celan, lauten etwas umständlich Titel und Untertitel von Barbara Wiedemanns Buch. Sie drücken aber sehr genau aus worum es der Autorin geht. Ausgehend von den zahlreichen Besuchen Paul Celans in Schwaben wird die komplizierte Beziehung eines deutschsprachigen Dichters, der kein Deutscher war, zum Land der Dichter und Denker – lange eines der Nazis und Henker – beleuchtet und akribisch aufgearbeitet. Wiedemann hat dazu zahlreiche neue Quellen erschlossen und Aussagen von Zeitzeugen einbezogen. So ist ein materialreiches Werk entstanden, das nicht immer flüssig zu lesen ist. Umfangreiche Quellen- und Literaturangaben, sowie das Register, regen zudem leicht zu Abschweifungen an. Für alle die sich mit Paul Celan beschäftigen, die sich für die literarische Szene in Württemberg und die geistige Verfassung Nachkriegsdeutschlands interessieren, ist es allerdings ein Meilenstein mit Handbuchcharakter.

“Niemandsrose” war 1963 der vierte und letzte Gedichtband Celans der zu seinen Lebzeiten in Deutschland erschien. Posthum kamen 1970 noch “Lichtzwang” und 1971 “Schneepart” heraus. Im Rahmen einer Tagung der Hölderlin-Gesellschaft in Stuttgart fand am 21. März 1970 die letzte öffentliche Lesung Paul Celans statt. Eine weitere sollte eigentlich noch im selben Jahr in Ulm stattfinden. Inge Aicher-Scholl, die Schwester der von den Nazis hingerichteten Studenten Hans- und Sophie Scholl, hatte eingeladen. Er ließ wissen, dass er gerne kommen würde und dass ein genauer Termin noch gefunden werden müsse. “Vermutlich in der Nacht vom 19. auf den 20. April hat Celan das Leben eines Überlebenden nicht mehr ertragen können. Inge Aicher Scholls Antwort vom 17. April wurde ungeöffnet aufgefunden.”

DSCN0702

Als ich an jenem Spätnachmittag Ende Oktober Tübingen wieder verließ, hatte ich tatsächlich große Teile des Buches vor Ort gelesen. Auf Bänken am Neckar und im Alten Botanischen Garten, bei Kaffee und Eis in der Altstadt. Im Schaufenster von Gastl entdeckte ich auf dem Rückweg einen Band mit Gedichten über Tübingen. Bevor ich ihn an der Kasse bezahlte, sah ich mich noch ein wenig zwischen den bücherprallen Regalen des engen, ganz seinem eigenlichen Zweck dienenden Ladens um, der für das geistige Leben Tübingens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine wichtige Rolle spielte. Dass in dem erworbenen Buch neben bekannten Namen wie Gustav Schwab, Isolde Kurz, Robert Gernhardt und natürlich Friedrich Hölderlin, weniger bekannten wie Irmgard Perfahl oder Dietrich Uffhausen, auch Paul Celan vertreten ist, kann nicht überraschen. Ausgewählt wurde sein Gedicht “Tübingen, Jänner”.

(Mit Ausnahme der Sätze aus Hermann Lenz Roman “Ein Fremdling” stammen alle Zitate aus Wiedemann, “Ein Faible für Tübingen.”)

Wiedemann, Barbara: “Ein Faible für Tübingen”. Paul Celan in Württemberg. Deutschland und Paul Celan. – Tübingen: Klöpfer & Meyer, 2013

Wiedemann, Barbara (Hrsg.): Paul Celan – Nelly Sachs. Briefwechsel. – Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1993

Wiedemann Barbara; Lenz, Hanne (Hrsg.): Paul Celan – Hanne und Hermann Lenz. Briefwechsel. Mit den Briefen von Gisèle Celan-Lestrange. – Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2001

Lenz, Hermann: Ein Fremdling. Roman. – Insel Verlag, 1983

Rademacher, Heinz (Hrsg.): Gastlwelt. Hommage an eine “alte” Buchhandlung. – Klöpfer & Meyer, 2013

Borowsky, Kay; Werner, Barbara (Hrsg.): …und stochern weiter durchs Aquarell… Tübingen im Gedicht. (Mit e. Vorwort von Inge und Walter Jens), 2. Aufl. – Tübingen und Berlin: edition j. j. heckenhauer, 2004

Herbst-Lese 2012: Silke Knäpper und Fee Katrin Kanzler

Über zwei Dreiecks-Geschichten von “Ulmer” Autorinnen

Die literarische Szene der kleinen Großstadt Ulm an der Donau und der umliegenden Region ist überschaubar, dennoch durchaus lebendig und vielfältig. Es gibt den lyrischen Rapper, den fleißig schreibenden Buchhändler und eine aktive Autorengruppe. Die “Flugfische” treten mit einem frischen Cross Over aus Sprachkunst, Musik und Tanz vor ein ambitioniertes Publikum; “Wörterflug” verbindet Literatur mit moderner Musik. Der monatliche Poetry Slam füllt regelmäßig einen großen Saal. Und aus dem Dämmer seiner Kammer, in der nur das Äpfelchen glüht, liefert der eine oder andere Blogger mal Hinter- und mal Vordergründiges.

Natürlich ist diese Aufzählung in jeder Hinsicht unvollständig.

In Ulm begannen übrigens – bei jeweils sehr unterschiedlichen Ausgangslagen – die Schriftstellerkarrieren von inzwischen weitbekannten Persönlichkeiten wie Andreas Eschbach, Amelie Fried oder Ulrich Ritzel. Rar waren bisher längere Erzählwerke von Autoren oder Autorinnen die ihren aktuellen Lebensmittelpunkt in der Münsterstadt, bzw. dem sprichwörtlichen “um Ulm herum” haben. Das hat sich in den letzten Monaten geändert.

Gleich zwei jüngere Schriftstellerinnen, die in Sichtweite des vielbestiegenen Kirchturms leben und schreiben, konnten ihr Roman-Debut veröffentlichen: Silke Knäpper und Fee Katrin Kanzler. Erfreulicherweise wurden sie dabei von den Häusern Klöpfer und Meyer, bzw. Frankfurter Verlagsanstalt unterstützt. Zwei Verlagen also, die für besondere Qualitätsmaßstäbe bekannt sind. Beide Frauen haben Sprachen studiert und gehen einem Brotberuf als Lehrkräfte an Gymnasien nach. Für ihre bisherigen, meist kleineren schriftstellerichen Arbeiten, wurden sie schon verschiedentlich ausgezeichnet. Silke Knäpper ist zudem Mitglied der bereits erwähnten “Flugfische”; Fee Kathrin Kanzler betreibt die mystisch märchenhafte Web-Site “fairy-club”.

Bei ganz deutlichen Unterschieden im Stil, weisen die zwei vorgelegten Romane allerhand Gemeinsamkeiten auf. Es sind Dreiecksgeschichten in deren Mittelpunkt Musikschaffende stehen. In beiden Büchern spielt auch die Musik selbst eine wichtige Rolle. Neben der Haupthandlung geht es jeweils um eine tragische Geschwister-Liebe und daraus resultierende Schuldgefühle, Verlustängste und Sinnkrisen.

Knäpper, Silke: Im November blüht kein Raps. – Klöpfer & Meyer, 2012

Paul streicht und zupft den Bass. Der “Held” in Silke Knäppers Roman tut dies hauptberuflich im Orchester des Ulmer Theaters (Stutznitzen Sie ruhig, Herr Indendant! – Aber die Freiheit nehme ich mir.) Paul ist verheiratet, hat eine Zweitfrau namens Hanne und eine zweite Wohnung in die er sich zu atemholenden Sein ohne Frauen zurückzieht.

Während er im Ensemble meist problemlos den richtigen Ton findet, ist sein Privatleben schon längst aus dem Takt geraten. Auch traumatische Kindheitserfahrungen wirken erschwerend nach. Die Härte des Vaters. Dessen musikalische Früh-Erziehung, die das Kind als Schleiferei erlebte. Ein Emanzipationsversuch durch Instrumentenwechsel brachte kaum seelische Entlastung. Neben Paul spielt in “Im November blüht kein Raps “ die Stadt Ulm eine zweite Hauptrolle. Liebhaber verfahrener Beziehungsgeschichten werden das Buch ohnehin gerne zur Hand nehmen, Ulm-Liebhaber und -Kenner auf jeden Fall Freude daran haben. Denn es gibt viel zu entdecken.

41WIN-5+DAL._AA160_Die Buchhandlung Wiltschek und Bauer etwa, deren reale Vorbilder und ihre Inhaber sehr populär bei den Buchliebhabern der Stadt sind. Eine der allerersten italienischen Gaststätten in der alten Reichsstadt, ist seit Jahrzehnten als Pizzeria “Bella Napoli” bekannt und geschätzt. Die ehemalige Lebkuchenfabrik auf der anderen Donauseite im bayerischen Neu-Ulm, in der Paul seinen Zweitwohnsitz unterhält, steht derzeit kurz vor dem Abriss und wird bald einer Wohnanlage der gehobenen Preisklasse mit exklusiven Blicken auf Donau und Bilderbuchkulisse Ulms weichen. Schließlich das Reihenhaus am Kuhberg, das Kult-Cafè Omar in der Oststadt, das Kongress-Zentrum und immer wieder das städtische Theater, einschließlich mancher Blicke hinter dessen Kulissen.

Silke Knäpper schreibt knapp, schnörkellos und präzise. Die Geschichte wird nie langweilig, der Leser folgt dem Geschehen von Anfang an mit Spannung. Die Autorin hat ihre eigene Tonart gefunden. Eigene, originelle Motive sind es hingegen nicht immer auf die sie zurückgreift. Meist werden bewährte, in der neueren deutschen Literatur vielfach verwendete Vorlagen genutzt. Der Zweite Weltkriegt taucht auf; die daraus entstandenen Vertreibungsprobleme werden behandelt, Wurzeln der Familie im Osten ge- und besucht. (Wer wissen will, wie eine junge Autorin über Vertreibung und deren ambivalenten Aspekte schreiben kann, der greift besser zum Roman “Katzenberge” von Sabrina Janesch.) Schließlich fließen auch noch der Jugoslawienkrieg und eine demente Mutter in den Erzählfluss ein. Doch all diese Themen, die schon an anderer Stelle reichlich und oft stimmiger behandelt wurden, werden nur angerissen. Denn das Buch von Silke Knäpper ist nach gut 180 Seiten in 28 Kapiteln und einem Epilog zu Ende. Auch Paul? Lesen Sie selbst!

Die in Ulm erscheinende Südwest-Presse urteilte: “…auf den Lokalbezug ist diese Prosa keinesfalls zu reduzieren, der Roman hat erstaunliche literarische Qualität, findet gewiss überregionale Beachtung.” Das ist der Autorin genau so zu wünschen, wie der Mut, beim nächsten Versuch noch etwas eigensinniger zu werden.

***

Kanzler, Fee Katrin: Die Schüchternheit der Pflaume. – Frankfurter Verlagsanstalt, 2012

Du kennst die mehlige Schicht, die eine frische Pflaume hat. Was sie matt macht und blassblau statt dunkel, diese dünne Schicht, dieses Anstandspuder überm tiefen Violett, die Schüchternheit der Pflaume. Wenn du die Pflaume anfasst, reibt sich diese Schicht ab, und die Pflaumenhaut beginnt zu glänzen.”

Der Bassmann, der sie bei ihren Auftritten instrumental begleitet, nennt sie “Missy”, ihr Vermieter Borg spricht sie mit “Prinzessin” an. Für uns Leser bleibt sie namenlos. Sie ist nicht nur Schlafwandlerin; sie folgt auch gerne Göttern. Die Liedermacherin lebt in einer etwas eigenartigen Form von Wohngemeinschaft. Im leicht märchenhaften Haus, das die Bewohner “Goldlaube” nennen. Sie fühlt sich gleichermaßen zum Künstler-Freund Fender hingezogen, wie zum bürgerlich-maskulinen Blau. Und im Hintergrund ist immer die niemals endende intime Verbundenheit mit dem toten Zwillingsbruder. Die junge Frau schwankt und schwenkt zwischen den beiden Männern eben so hin und her, wie zwischen verschiedenen musikalischen Ausdruckformen und erotischen Stimmungen.

51pwAcSDitL._AA160_Fee Kathrin Kanzler schreibt in einer hochpoetischen Sprache. Sie hat lange gefeilt an den Sätzen, den Formulierungen, den Bildern, dem Rhythmus, erzählt sie in Interviews. Lyrische Ausdrucksformen überwiegen bei ihr, ohne dass auf Beschreibungsgenauigkeit verzichtet wird. Es ist sehr viel Wille zur Form, zur Melodie, viel Ambition, erkennbar. Da dies die Lesbarkeit nicht ausdrücklich erleichtert und nicht jeder Leser bereit ist sich auf diesen hohen Ton einzulassen, hat sie zwischendurch für Abwechslung, für gelegentliche Tempowechsel gesorgt. Wenn etwa ein terroristischer Sprengstoff-Anschlag städtisches Leben durcheinanderwirbelt und wichtige Verkehrsadern von einer Sekunde auf die andere zerstört. Ein Abschnitt im Buch, der recht unerwartet kommt und vielleicht etwas mutwillig plaziert wirkt.

Bei aller Sprachmacht, poetischer Virtuosität und dem durchaus vorhandenen epischen Talent, ist das Buch ein paar Seiten zu lang geraten. (“He, Blogger! Was willste eigentlich? Das eine Buch ist dir zu lang, das andere zu kurz. Wie kann man’s dir denn recht machen?”) Dem Leser droht- auf der wort- und bildgewaltigen Strecke irgendwann die Luft auszugehen und er schleppt sich möglicherweise etwas mühsam bis zum Ende auf Seite 318. Allerdings bekommt er auf dem Weg dorthin sehr schöne Kapitel-Überschriften geboten: “Mandelseife.” “Blaue Zunge.” “Salamanderfinger.” “Apfelkerngeschmack.”

Fee Kathrin Kanzler und ihr erster Roman sind schon eine zartwuchtige Entdeckung. Eine neue, ganz eigene, sehr sinnliche Stimme klingt hier an. So sah es auch Björn Hajer in DIE WELT: “Mit seiner feinstofflichen Gestaltwerdung ist dieser Erstling eine beachtliche, vielstimmige Partitur, in der auf reizvolle Weise große neben kleinen Gedanken stehen.” Jetzt darf man gespannt sein, ob diesem ersten erzählerischen Höhepunkt, weitere folgen werden.

Sudeleien: Mitte September 2011

Endlich Herbst!

Beim Sovormichhindenken: “Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß. / Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren, / und auf den Fluren laß die Winde los.” Rainer Maria Rilke hat die Verse im Stile eines Gebets geschrieben. Das war vor 110 Jahren. Das Gedicht heißt “Herbsttag” und wird auch heute noch gerne gelesen oder vorgetragen.

Der Aufbau-Verlag schrieb mir vor zwei Wochen: “Sehr geehrter Herr Haag, der Sommer neigt sich dem Ende entgegen, die Tag werden kürzer. Doch uns Leser kann das nicht schrecken – denn es bedeutet gemütliche Spätsommerabende im Lieblingssessel mit neuen, spannenden Büchern.” “Naaaja”, würde dazu ein ehemaliger Großkritiker aus Frankfurt am Main mit skeptisch faltiger Grimasse nuscheln, “das wollen wir doch erst einmal sehen.”

Ja, inzwischen ist der Sommer wohl wirklich am Ende. Schade eigentlich. So müssen wir nun wieder für lange Monate auf Liebgewonnenes verzichten. Auf üppige Weiblichkeit in knapper Ha-und-em-Badeware. Auf angegraut schwergewichtige Männlichkeit in Zeh-und-ah-Shorts, braunen Socken und Outdoor-Fussbesohlung. Auf allerhand exotische Eissorten wie “Smarties”, “Prosecco” oder “Kockovääh”.

Dafür kehrt das eine oder andere zurück, das wir viel zu lange entbehren mussten. Der Kaffee im Freien mit von Heizstrahlern erhitzten Gesichtern und vereister Rückenpartie. Dauerbenieselung von oben. Spätes Morgendunkel und frühes Abenddämmer. Frischer Gegenwind (s.oben). Bunte Blätter reichlich fallend. Die vielfach um Hals und Kinn geschlungenen Endlos-Häkel-Schals. Und – fast schon zu hören am Zeithorizont – das süßliche Gebimmel konsumfordernder, nicht endenwollender Weihnachtsmärkte.

Am liebsten sind mir Buchhandlungen mit nem Cafè drin. Dort saß ich neulich und las in dem Büchlein, das ich soeben erworben hatte. Andreas Maiers Kolumnenband “Onkel J.” Bevor sie von Suhrkamp hier zu schmalem Werk versammelt wurden, erschienen die kleinen Perlen in der österreichischen Literatur-Zeitung “Volltext”. Die kann man sehr gut ins Caféhaus mitnehmen. Zum Thema Herbst stand in des Wetterauer Dichters geistvoll sprunghaften Kurz-Essays eigentlich nichts drin. Aber neben dem Begriff “Umgehungsstraße” wird ein Getränk namens “Äppelwoi” häufig erwähnt. Und reife Äpfel riechen ja schon ziemlich kräftig nach Herbst.

Der oder die vor mir da saß, wo ich jetzt saß, hatte Schokolade nicht gegessen, sondern auf der nun von mir genutzten Sitzfläche verteilt. Ich merkte es erst als die Vollmilch-Schmiererei via Hosenbein und rechte Hand auf Andreas Maiers Glanzstückchen “Neulich las ich den Taugenichts” auftauchten.

Kann sich noch jemand an vorletztes Jahr erinnern? Möchte man nicht wirklich, wa? Im Spätsommer, Frühherbst war Wahlzeit. Vierundzwanzig Monate später wissen wir, was wir damals angerichtet haben, als wir die Wahl hatten und würden gerne wieder wählen. Aber bestimmt nicht wiederwählen. Jedenfalls boomen jetzt Wirtschafts-Thriller, die seltsamerweise alle im Sachbuch-Regal stehen. Untergangsszenarien und Weltrettungskonzepte sind besonders begehrt: “Geld oder Leben: Eine Reise durch den Wirtschaftswahnsinn”, “Markt ohne Moral: Das Versagen der internationalen Finanzelite”, “Das Ende der Weltwirtschaft und ihre Zukunft”.

Ich lese am liebsten jahreszeitlich antizyklisch. Also im Herbst “Frühlingserwachen” (Streichen Sie das. Ist nicht wirklich ein Frühlings-Buch.). Im Sommer Fontanes großes Winter-Epos “Vor dem Sturm”. Und in winterwarmer Stube, aus der unser melancholischer Blick durch Eisblumen in wolkig weißen Winterzauber fällt, Sachen wie… Naja, kennt man alles. Aber bitte keinen Hemingway! Obwohls da oft heiß ist oder zumindest hergeht. Aber für mich auf keinen Fall Hemingway. Da kann ihn Gourmet Ortheil noch so doll finden. So lauthalse Kerligkeit die mit Gewehren fuchtelt, auf afrikanisches Großwild schießt und auch so schreibt, mag ich einfach nicht. Auch nicht midnight. In Paris.

Apropos melancholisch. Schwermut, Trauer, Melancholie, aber auch so eine unbestimmte heitere Endzeit-Stimmung sind ja Gefühlsregungen, die gerne mit dem Herbst in Zusammenhang gebracht werden. Und Nachdenklichkeit. Viel verspreche ich mir von Heidemarie Bennent-Vahles “Glück kommt vom Denken. Die Kunst, das eigene Leben in die Hand zu nehmen.” Hoffentlich ist es so philosophisch wie Titel und erste Rezensenten andeuten und nicht so ratgebermäßig wie der Untertitel klingt.

Ob ich diesen Herbst überhaupt dazu komme, Titel aus dem Hause Aufbau (s. oben) zu lesen, ist eher fraglich. Die Kartei-Kärtchen mit interessanten, vielversprechenden Neu-Erscheinungen des Sommers und des Herbstes vermehren sich rasant. Und die eine oder andere steht schon neben dem Schreibtisch im Regal. Von zwei Büchern kann ich dabei Finger und Augen kaum noch lassen. Wenig erstaunlich, da sie bei meinen Tübinger Lieblingen von Klöpfer & Meyer erschienen sind. Viel will ich heute nicht verraten – werde demnächst ausführlicher darüber berichten. Nur so viel: Es geht um Hölderlin und es geht um Hegel. Aber wohl aus ganz anderer Perspektive und in anderer Form als in den gewohnt und meist gemiedenen Ernst-Schwarten.

Aber erst einmal gibt es ein paar Bilder und Sätze zu Goethe. In Kürze. Hier.

=