Es ist November. Und es ist Krieg. In Afrika. Im Jemen. Im Nahen Osten. In der Ukraine. Es sind Bürgerkriege. Religionskriege. Kriege um Einfluss, Macht, Machterhalt, Rohstoffe, gegen Unterdrückung, Ausbeutung und Despotismus. In Deutschland sind Kriegsgräber. Kreuze auf Rasenflächen die an unsere Kriege erinnern.
Nach jedem Krieg ein überzeugtes “Nie wieder!” Zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg lagen gerade einmal 21 Jahre. Deutschland lebt nun seit über 70 Jahren in einem friedensähnlichen Zustand. Doch dieser Zustand ist labil, das Gleichgewicht allzeit gefährdet, die Ruhe trügerisch. Wenn Geschichte mit Erfahrung zu tun hat, dann muss uns der Verstand sagen, dass der letzte Krieg in Deutschland, den meine Generation nur aus Erzählungen von Eltern und Großeltern kennt, nicht der wirklich letzte gewesen sein wird.

„Toter Soldat / Deine Feldpost im Regen der wie Feuer fällt / Toter Soldat / Und daneben der Segen der kein Wort mehr hält.“ (1)
Irgendeine Wiese, umzäunt, irgendwo in Deutschland. Holz- oder Granitkreuze mit Aufschrift: “Unbekannter Soldat”.
Ein Paul, ein Peter, ein Wilhelm oder ein Walter. Es gibt niemanden mehr, der das noch weiß. Vielleicht hat er geschrieben, wollte Schriftsteller oder Journalist werden. Ich stelle mir vor, irgendwo existieren noch Tagebücher, Kladden mit Gedichtversuchen, geheftete Blätter mit Romanentwürfen. Sicher hat er mit Tinte geschrieben, eventuell mit Bleistiften. Ob er schon eine Schreibmaschine besessen hat?
Gefallen 1918. Kurz vor Kriegsende? Waren seine Haare blond, braun oder dunkel. War er groß oder eher klein, untersetzt oder schlank. Verliebt? Der einzige Sohn oder Bruder seiner Geschwister? Wie ist er gestorben, verreckt? Nach langem Leiden oder plötzlich, bewußt oder im Delirium, mit Schmerzen oder leicht. Hat er gebetet, auf ein Leben nach dem Tod gehofft oder den Gott an den er glaubte verflucht?
„Ich hoffe, es traf dich ein sauberer Schuß? / Oder hat ein Geschoß Dir die Glieder zerfetzt / Hast du nach deiner Mutter geschrien bis zuletzt / Bist Du auf Deinen Beinstümpfen weitergerannt / Und dein Grab, birgt es mehr als ein Bein, eine Hand?“ (Hannes Wader, Es ist an der Zeit) (2)
Wie war er? War er ein Angeber und Haudrauf, der keinem Gelage, keiner Keilerei aus dem Weg ging? Oder ein stiller Stubenhocker und Leisetreter? Ein Fechter, ein Reiter, Mitglied im Schützen- oder Gesangverein?
Vielleicht war er Leser. Ein Freund der Bücher des noch jungen Thomas Mann, der Romane Theodor Fontanes, der Dramen Gerhard Hauptmanns. Als Freund der zeitgenössischen Lyrik kannte er bereits den Generations-Genossen Georg Trakl.

Gedichte, Lieder, Erzählungen über gefallene Soldaten, den Schrecken der Kriege, all das Grauen, das bewaffnete Konflikte erzeugen, können so ergreifend schön sein. Und es gibt Songs die protestieren, aufrühren, auffordern zum Wiederstand, Hintergründe benennen und Schuldige. Die warnen, rufen, flüstern und trauern. Wie die des aktuellen Literatur-Nobelpreisträgers, der häufig abstreitet dass er irgendetwas mit Politik am so gern getragenen Hut hat. Doch viele seiner Texte haben klare unmissverständliche Aussagen:
„Come you masters of war / You that build all the guns / You that build the death planes / You that build all the bombs / You that hide behind walls / You that hide behind desks / I just want you to know / can see through your masks.“ (3)
Sein Klassiker “Blowing in the wind” erklingt zusammen mit Pete Seegers “Sag mir wo die Blumen sind” (“Where have all the Flowers gone”) seit über 50 Jahren auf nahezu jeder Friedensdemo und Lichterkette. Angeregt zu seinem Song wurde Seeger durch das aus Litauen stammende “Zogen einst fünf wilde Schwäne”, das 1918 vor dem Hintergrund des großflächigen Vernichtungskrieges, den sie später den Ersten Weltkrieg nennen würden, von dem Volkskundler Kurt Plenzat aufgezeichnet wurde und in dem eine Strophe so geht:
“Zogen einst fünf junge Burschen / stolz und kühn zum Kampf hinaus. / Sing, sing, was geschah? / Keiner kehrt nach Haus.”
Georg Trakl, den ich meinem unbekannten Soldaten gerne als Lektüre unterstellen würde, kam 1887 in Salzburg zur Welt. Seinen Kampf hatte er von Anfang an verloren. Dazu bedurfte es keines Krieges. Schulprobleme, frühe Drogenabhängigkeit, vergebliche Versuche sich beruflich und bürgerlich zu etablieren, 1914 fandt er im Sanitätsdienst Verwendung. Es war das schwere Leben eines Lebensuntauglichen, der an seiner Zeit und seinen Mitmenschen litt. Anfang Oktober 1914 wurde er in ein Militärhospital in Krakau eingewiesen, wo er am 3. November an einer Überdosis Kokain starb. Ob Versehen oder Suizid bleibt unklar.
Hinterlassen hat Trakl wenig. Vieles blieb Fragment. Seine Gedichte haben einen einzigartigen Klang. Stark von düsteren Farben und Bildern sind sie durchdrungen, voll Sprachkraft und Gestaltungswillen, doch meist ohne Hoffnung und Zuversicht.
„Am Abend tönen die herbstlichen Wälder / Von tödlichen Waffen, die goldnen Ebenen / Und blauen Seen, darüber die Sonne / Düstrer hinrollt; umfängt die Nacht / Sterbende Krieger, die wilde Klage / Ihrer zerbrochenen Münder.“ (Der Anfang von Georg Trakls Gedicht “Grodek”) (4)
Zum Kontrast noch einmal der tapfere, inzwischen alt, jedoch nie mutlos gewordene Liedermacher. Mit einer Zuversicht, der anzuschließen, mir nicht recht gelingen will:
„Doch finden sich mehr und mehr Menschen bereit / Diesen Krieg zu verhindern, es ist an der Zeit.“ (2)
***
(1) “Ihre Kinder”, 1971. “Ihre Kinder” war eine Rockband der späten 1960er und frühen 1970er Jahre; sie zählte zu den Pionieren deutschsprachiger Rockmusik und war Vorbild für Udo Lindenberg, Marius Müller-Westernhagen u. a.
(2) Das von Hannes Wader gesungene “Es ist an der Zeit“ ist die deutschsprachige Version von Eric Bogles „No man’s Land“.
(3) Bob Dylan: „Masters Of War“. – Übertragung ins Deutsche: Kommt, ihr Herren des Krieges / Ihr, die ihr die Kanonen baut / Ihr, die ihr die Kampfflugzeuge baut / Ihr, die ihr all die Bomben baut /Ihr, die ihr euch hinter Mauern versteckt / Ihr, die ihr euch hinter Schreibtischen versteckt / Ich möchte nur, dass ihr wisst / Ich kann durch eure Masken sehen.
(4) Trakl, Georg: Das dichterische Werk, 14. Aufl. – DTV, 1995 (dtv klassik)
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