Der erste Teil: Themen und Momente
„Der Dichter frisch voran.“ (Joseph von Eichendorff)
Nach dem milden Winter hatte es der März leicht. Weder Strom noch Bäche mussten vom Eise befreit werden. Der Bücherhimmel über Leipzig strahlte in den ersten beiden Messetagen klar und blau, nach Kälte und Schnee im Vorjahr, diesmal der willkommene Kontrast erster milder Frühlingstage. So war die Stimmung des Publikums gehoben und erwartungsfroh. Am besten bei all jenen, die einen der zahlreich vergebenen Preise überreicht bekamen. Allen voran Sasa Stanisic mit seinem allseits hochgelobten Roman „Vor dem Fest“, als Gewinner des angesehenen und viel beklatschten „Preises der Leipziger Buchmesse“ in der Kategorie Belletristik. Am Abend vor der Messe konnte ich mich bei einer längeren Vorstellung aller fünf nominierten Autoren und ihrer Bücher davon überzeugen, dass dieser Roman und Martin Mosebachs „Blutbuchenfest“ preiswürdige literarische Qualität besitzen.
Der diesjährige „Preis der Literaturhäuser“ ging an die Schriftstellerin und Buchgestalterin Judith Schalansky, „als eine Autorin, die sich in besonderem Maße um das Gelingen von Literaturveranstaltungen verdient gemacht hat und selbst den Akt des Signierens zu einem künstlerischen Moment macht.“ Leipzig zeichnet sich ja dadurch aus, dass uns Lesern die Schriftsteller und anderen Künstler besonders nahe kommen und ungezwungen begegnen. Und so wunderte ich mich, als Judith Schalansky, im engen Gedränge der Gänge an mir vorbei kam, nur darüber, dass ich sie sofort erkannte, weil sie genau so aussah wie auf den Fotos in ihren Büchern. Ein durchaus ungewöhnliches Phänomen – man vergleiche nur einmal die Abbilder der unzähligen Crime-Ladys mit den realen Frauen.
Einen besonders interessanten und wichtigen Preis vergab einmal mehr die Kurt-Wolff-Stiftung, die damit die Erinnerung an den großen Verleger Kurt Wolff (1887 bis 1963) wach hält. Diese Auszeichnung für kleine unabhängige, besonders engagierte Verlage, erhielten der Berliner Verbrecher Verlag (Hauptpreis, mit Euro 26.000 dotiert) und der in Hamburg beheimatete Mairisch Verlag (Förderpreis, Euro 5.000). Von persönlicher Dankbarkeit geprägt war die Laudatio des in mehreren Schreib-Sparten fleißigen Dietmar Dath, waren doch dessen erste Publikationen in eben jenem Verbrecher Verlag erschienen
Im festlichen Rahmen der offiziellen Eröffnungsfeier der Buchmesse, die alljährlich viel Prominenz aus Politik und Gesellschaft im Gewandhaus versammelt, wird traditionell der „Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung“ überreicht. Er würdigt „Persönlichkeiten, die sich in Buchform um das gegenseitige Verständnis in Europa, vor allem mit den Ländern Mittel- und Osteuropas, verdient gemacht haben.“ Da überraschte es im ersten Augenblick, dass in diesem Jahr der indische Publizist und Historiker Pankaj Mishra ausgezeichnet wurde. Näher kommt man den Hintergründen wenn man erfährt, dass sein aktuelles Werk „Aus den Ruinen des Empires. Die Revolte gegen den Westen und der Wiederaufstieg Asiens“, sich aus einer nicht-westlichen Perspektive mit der kolonialen Überwältigung Asiens durch den Westen beschäftigt. In Diskussionen und Interviews hat mir der ruhige reflektive Ton dieses belesenen, bescheiden auftretenden Intellektuellen („Ich bin vor allem ein großer Leser.“) sehr gut gefallen.
Politische Themen und die damit verbundenen Gespräche und Debatten, drängten sich auf der Leipziger Buchmesse 2014 und dem begleitenden Lesefestival „Leipzig liest“ immer wieder in den Vordergrund. Das Interesse war rege und alle Veranstaltungen dieser Ausrichtung fanden großen Zulauf und aufmerksame Zuhörer. Nicht immer glücklich damit wurden vielleicht Autoren, die mit ihren frisch publizierten belletristischen Erzählformen in diesen Strudel aktueller zeitgeschichtlicher Fragen gerieten. Wie etwa die ebenfalls für den Buchpreis nominierte Katja Petrowskaja, die gerne über ihren Roman „Vielleicht Esther“, mit dem sie im Vorjahr den Bachmann-Preis gewonnen hatte, gesprochen hätte. Doch ihre Gesprächspartner nahmen zu oft die Gelegenheit wahr, die gebürtige Ukrainerin, die seit vielen Jahren in Berlin lebt und deutsch schreibt, zur aktuellen Situation in ihrem Geburtsland zu befragen. Wobei einem Moderator sogar die Peinlichkeit gelang, Petrowskaja auf ihre „Sowjetvergangenheit“ anzusprechen.

Seine Signaturen waren in Leipzig gefragt: Martin Suter gehört zu den populärsten und auflagenstärksten Autoren der schweizerischen Literatur-Szene.
Ähnlich erging es den aus dem Gastland Schweiz angereisten Schriftstellern und Schriftstellerinnen. Bietet doch dieser kleine zentraleuropäische Viersprachenstaat nicht erst seit einer jüngsten Volksabstimmung immer wieder Anlass zu kontroversen Diskussionen. Und so mussten die Autoren mehr Auskunft über die Rolle der Alpenrepublik in Europa erteilen, als über ihre schriftstellerischen Erzeugnisse. Messebesucher konnten es sich derweil auf den vielen roten Bänken bequem machen, die von den Gästen über Messe und Stadt verteilt worden waren. Schweizbesucher kennen diese willkommenen Ruhe- und Sitzgelegenheiten von den hervorragend ausgeschilderten Wanderwegen, die das ganze Land durchziehen. Auch in Leipzig wurden sie dankbar angenommen, als ideale Plätze für eine kurze Erholung der strapazierten Füße oder ein erstes Prüfen der eingesammelten Prospekte, Kataloge und Leseproben.
Neokolonialistische Kraftmeierei des Ober-Russen Putin. Säbelrasseln einer ukrainischen Regierung, die kein Wählermandat besitzt. Eine deutsche Ministerin, die einer neuen Vorwärtsverteidigung das Wort redet (Stichwort: „Stärkung der Nato an den Ostgrenzen“). Der Blick zurück ins 20. Jahrhundert sollte eigentlich gegen jede Sehnsucht nach militärischen Auseinandersetzungen in Europa immunisieren. Vor einhundert Jahren begann der Erste Weltkrieg, Auftakt zu einem Jahrhundert der Vernichtung, Verwüstung und nicht mehr rückgängig zu machenden Entkultivierung Mitteleuropas. Auch an diesem Thema und den Büchern dazu kam man in Leipzig nicht vorbei.
Zwei Titel sind es, die ich mir aus dem unüberschaubar breiten Angebot herauspicken würde: Herfried Münklers „Der große Krieg: Die Welt 1914 bis 1918“, weil hier weit über das Militärische und Politische hinaus geblickt wird und weil ich den Autor als besonders gut lesbar schätzen gelernt habe (zuletzt: „Die Deutschen und ihre Mythen“). Sowie Hermann Vinkes „Der Erste Weltkrieg: Vom Attentat in Sarajewo bis zum Friedensschluss von Versailles.“ Für die zahlreichen Fotos, Karten und Grafiken zeichnet Ludvik Galzer-Naudé verantwortlich. Vinke gelingt es wieder ein komplexes und schwieriges Thema in äußerst ansprechender Weise für ein jüngeres Publikum aufzubereiten. Ich wünsche gerade diesem Buch eine große Leserschaft in allen Altersklassen.
Zurück zur Poesie. Und damit zur „Leseinsel Junger Verlage“. Für mich immer einer der wichtigsten und spannendsten Anlaufstellen im Messe-Tohuwabohu. Verlage wie Volland & Quist (Kurt Wolff-Förderpreis 2010), Mairisch (s. oben) und Satyr zählen hier zu den betreibenden Kräften. Bei Mairisch erschien der Debutroman von Lisa Kreißler. Auf dem Podium der Lesebühne las sie eine längere Passage aus „Blitzbirke“. Eine Liebesgeschichte mit phantastischen Elementen und altgermanischen Einsprengseln, in der die Autorin stilistisch kleinere Experimente wagt, während ansonsten durchweg – bei aller Qualität – auch von Nachwuchsautoren sehr konventionell erzählt wird.
Nora Gomringers Lyrik hingegen ist eine ganz eigene Welt, die sich nicht in gängige formale Kategorien einordnen lässt. Diese Dichterin missachtet virtuos die Grenzen von Wort und Melodie, Rap und Slam, Deklamation und Proklamation. A-capella-Interpretationen ihrer Texte durch das Dresdner Ensemble „Wortart“ zählten für mich zu den eindrucksvollsten Momenten des heurigen Leipziger Büchermärz. Die CD auf der man das hören kann trägt den schönen Titel „Wie sag ich Wunder“. Den vollen Genuss bieten allerdings nur die Live-Auftritte. Hier gibt es Hörproben und die Tour-Termine!
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In Kürze gibt es auf con = libri den zweiten Teil meiner Eindrücke von der diesjährigen Leipziger Buchmesse.