“Es begab sich aber zu der Zeit …”

Gedanken über das Erzählen aus naheliegendem Anlass.

Nun feiern wir also wieder jene kleine Geschichte, die seit 2000 Jahren große Teile der Menschheit weniger in Kirchen denn in einen wochenlangen Konsumrausch treibt. Bewohner des christlichen Erdkreises stürmen die Handelshäuser, erwerben gefällte Nadelbäume, installieren Engels- und Sternenschmuck, singen Choräle und sentimentale Weisen. Eine uralte Geschichte löst dies aus. Sie gehört zu den ältesten, die sich Menschen immer und immer wieder erzählen. Immer dann wenn das Jahr auf dem Kalender nur noch wenige Tage hat. 

Da es nun schon viele unternommen haben, einen Bericht von den Ereignissen zu verfassen … (Evangelium nach Lukas, Vorrede)

Es waren vier Chronisten, inzwischen als Evangelisten bekannt, die mehrere Generationen nach dem eigentlichen Geschehen, nachdem die Geschichte bereits in vielen Variationen von Mund zu Mund gegangen war, erstmals schriftliche Aufzeichnungen anfertigten, die uns als Überlieferungen erhalten blieben. In vier durchaus von einander abweichenden Versionen.

Dies ist ihr Kern: Eine hochschwangere, sehr junge Frau und ihr Partner, Zimmermann von Beruf, folgten im römisch besetzten Palästina einer Aufforderung des Kaisers Augustus, sich zwecks Volkszählung in ihren Heimatort Bethlehem zu begeben. Als das Paar dort eintraf, musste es feststellen, dass alle Herbergen bereits belegt waren. In einem schlichten Stall wurde ihnen schließlich Obdach gewährt. Die Verhältnisse waren einfach: Futterkrippe für Tiere, Stroh, ein Ochse, ein Esel; später kamen Hirten vom Felde hinzu. Ein gesunder Junge kam zur Welt; die Futterkrippe ward zu seiner ersten Wiege.

Der Knabe wuchs zu einem recht eigenwilligen (kritischen) jungen Mann heran, der seine jüdischen Glaubensbrüder und -schwestern mit Prophezeiungen, Weisheiten und Reformvorschlägen unterhielt, dessen systemkritische Haltung jedoch von den Obrigkeiten mit Skepsis betrachtet wurde. Er verscherzte es sich mit der jüdischen Geistlichkeit gleichermaßen wie mit den Organen der Besatzungsmacht. Letztere verurteilte den aufrührerischen Geist zum Tode am Kreuz. 

Das Kreuz und der Gekreuzigte wurden alsbald zu den Hauptsymbolen seiner sich rasch vergrößernden Anhängerschaft. Aus dem Kind im Stall war ein Religionsgründer geworden, der einige bedenkenswerte Verhaltensregeln hinterließ. Und hätten seine Nachfolger durch die unruhigen Jahrhunderte hinweg seine Maximen etwas ernster genommen, wäre die heutige Welt möglicherweise ein kleines Stück friedfertiger und unversehrter.

Es gibt viele solcher uralter Erzählungen, die Zeiten, Kriege und Kulturen überlebt haben und heute immer noch in aller Munde sind, die niedergeschrieben werden, in immer neuen Varianten, die als Bücher gedruckt erscheinen, in Theatern aufgeführt oder verfilmt werden. Geschichten aus tausendundeiner Nacht, von den Irrfahrten eines Odysseus, den Abenteuern des unbeholfenen Don Quijote, von Eulenspiegeleien, Geschichten über Wundertaten und Utopien. Unsterbliche Erzählstoffe, inzwischen gerne als Narrative bezeichnet. Bis heute immer wieder hervorgeholt, dabei verändert, ausgeschmückt oder übersteigert.

Alte Menschen erzählen gerne vom eigenen Leben, von Vergangenheiten, die sie für wert halten dass Nachfolgende davon erfahren, von Erlebnissen, Schrecken, Tiefpunkten, die sie dauerhaft belasten und von den schönen Höhepunkten eines langen Lebens, die unvergessen geblieben sind. Sie sprechen über Krieg und Vertreibung, Not und Krankheit, von Geburten und Todesfällen, kleinen Freuden und großen Enttäuschungen. Ihr Erzählen hat oft therapeutischen Charakter oder die Form einer Beichte.

Kinder möchten erzählt bekommen. Sie lieben Geschichten, die man ihnen vorliest oder aus dem Stegreif erzählt. Da darf es einfallsreich bis absurd zugehen. Unheimlich oder lustig. Über Außerirdische und Aliens, Prinzen und Prinzessinnen, sprechende Tiere, Zeitreisende, Gestalten aus der Vergangenheit wie Piraten oder Höhlenmenschen. Grenzen setzen nur die Phantasie der Erzähler und Erzählerinnen, der Autorinnen und Autoren. Kinder fordern heraus, indem sie mit ihrem Denken scheinbar Unveränderbares in Frage stellen. Durch Konventionen beschränkte Unsagbarkeiten einfach aussprechen.

Eigentlich gibt es keinen Menschen, der nichts zu erzählen hätte. Doch nicht jeder hat eine Sprache dafür zur Verfügung. Die einen können nicht sprechen, nicht frei reden, nicht erzählen – andere können nicht zuhören. Nach den Kinderjahren werden harmonische Momente zwischen Sender und Empfänger seltener. Das Erzählen, die Gespräche werden immer mehr, immer häufiger von Dogmen beherrscht, von stur verteidigten Standpunkten. Andere Werdegänge, Prägungen, Bildungswege erschweren das gegenseitige Verstehen. 

Wer nicht (mehr) erzählen, zuhören, lesen kann, flüchtet gerne in Alibitätigkeiten, rechtfertigt nur allzu gern allerhand Geschäftigkeit und schützt Zeitmangel vor. Gesellschaftlich akzeptiert wird vorrangig der Nachweis unmittelbarer Nützlichkeit oder Erwerbskraft.

Bücher, literarische ebenso wie gute Sachbücher, sind nichts anderes als konserviertes Erzählen. Nicht zufällig ist autofiktionales Schreiben fester Bestandteil des literarischen Kanons. Eine betagte Vertreterin dieses Genres wurde in diesem Jahr mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Wem deren Bücher möglicherweise zu dünn geraten sind, der greife zu einem Ove Knausgaard, einem Hanns-Josef Ortheil, zu Ulla Hahn, Tove Ditlevsen, Cathérine Millet, Gerhard Henschel und Hermann Lenz.

Weihnachten ist eine Zeit des Erzählens. Jene uralte Geschichte, in Kirchen vorgetragen. Familiäre Stoffe und Anekdoten, die an Festschmaustafeln die Runde machen. Jüngst Geschehenes, frisch aufbereitet: Skandale, Ärgernisse, Erstaunliches, neu Entdecktes.

Erzählen ist fast immer erinnern. An Gelingen und Mißlingen, an Vorfahren und Gefährten, Kinder und Enkel, Reisen und Naturgewalten, Begegnungen und Ängste. Die Tage an und um Weihnachten gehören zu den wenigen verbliebenen Anlässen für Generationen übergreifendes Zusammensein. Für mündlichen Austausch, Erzählen und Zuhören. Es ist jene Zeit, in der die Stuben voller Narrative sind.

Nicht nur Walser

Bei Gmeiner ist ein umfangreicher Text- und Bildband zur Literatur in Oberschwaben seit 1945 erschienen.

Die vordere Umschlagseite zeigt auf einer Schwarzweiß-Fotografie Maria Menz im Gespräch mit Martin Walser. Die beiden verdeutlichen in beispielhafter Weise das weite Spektrum der oberschwäbischen Literaturszene im 20. Jahrhundert. Hier einer der bekanntesten deutschsprachigen Autoren, vielgelesen, vielgefragt, von dem ein umfangreiches Werk unterschiedlicher Gattungen vorliegt, das verfilmt wurde, übersetzt, das Kontroversen auslöste und seinen Verfasser zum omnipräsenten Zeitgenossen werden ließ. Im März dieses Jahres wurde er 90 Jahre alt, tourt und schreibt derweil unverdrossen.

Dort die katholische Frau, aus einem dörflichen Umfeld, die ihre Begabung vorwiegend in Form mystisch durchwebter religiöser Lyrik und Dialektdichtung umsetzte, der man die Ausübung ihrer Neigung und Begabung nicht durchgehen lassen wollte, die sich dennoch berufen fühlte und vielfältige Widerstände in Kauf nahm. In jungen Jahren entkam sie für kurze Zeit der heimatlichen Enge. Als Krankenschwester konnte sie sich im großstädtischen Leipzig nicht behaupten, verbrachte schließlich als Außenseiterin ein langes Leben in ländlicher Abgeschiedenheit. Durch Walsers Zuspruch und Unterstützung erfuhr sie bescheidene und späte Anerkennung und ruht seit 1996, bereits fast wieder vergessen, auf dem Friedhof von Oberessendorf bei Biberach.

Literatur in Oberschwaben seit 1945 ist ein über 300 Seiten starker Sammelband mit Aufsätzen ausgewiesener Kenner der Region und ihres literarischen Lebens. So sind unter anderem Peter Blickle, Oswald Burger, Ulrike Längle und Peter Renz mit Beiträgen vertreten. Jeder Aufsatz ist in sich abgeschlossen und kann separat gelesen werden. Kleinere Redundanzen ließen sich so nicht ganz vermeiden. Der Gmeiner Verlag hat das Werk in Zusammenarbeit mit der Gesellschaft Oberschwaben editiert, zur Finanzierung des ambitionierten Vorhabens leisteten die Oberschwäbischen Energiewerke einen erheblichen Beitrag.

Manfred Bosch leitet den Band mit seinem Überblick ein. Nicht zufällig trägt der Aufsatz den Titel Oberschwaben als literarische Landschaft nach 1945. Eng verbunden sind die Schriftstellerinnen und Schriftsteller zwischen Donau und Bodensee mit ihrer natürlichen und zivilisatorischen Umwelt, den Hügeln und Tälern, Seen und Flüssen, den kleinen und etwas größeren Städten. Nicht selten findet sich diese Verbundenheit im Werk wieder. Sei es das Leben am großen See bei Walser oder das bäuerlich Existenzielle bei Maria Beig, bis hin zur literarischen Umformung architektonischer und religiöser Besonderheiten bei Arnold Stadler.

Natürlich sind die bekanntesten Namen prominent vertreten. Ernst Jünger, Maria Beig oder Arnold Stadler. Und natürlich Martin Walser, der sich als Patron bis heute immer wieder für die Literatur seiner Gegend und die Persönlichkeiten, die sie schaffen, einsetzt. Denn die Schreibenden Oberschwabens stehen nicht in gleicher Weise im Blickpunkt wie jene der bundesdeutschen Metropolen. So darf man bei der Lektüre des Buches auch an jene denken, die hier nicht vorkommen. Die es trotz einschlägiger Begabung und vorhandenen dichterischen Fleißes nicht geschafft haben verlegt und damit öffentlich überhaupt erst wahrgenommen zu werden. Ganz sicher gehören dazu zahlreiche Frauen des 20. Jahrhunderts. Die Probleme und Hindernisse die Maria Menz, Maria Beig und Maria Müller-Gögler in ihren Laufbahnen und Lebenswegen zu bewältigen hatten, lassen dies zumindest erahnen. Ich weiß, da ist eine Geschichte, und ich weiß, ich werde sie nicht erfahren, beschreibt Cees Nooteboom in seinem Roman Paradies verloren dieses Dilemma.

Ulrike Längle erweitert die Region um das angrenzende Vorarlberg. Das ist geschickt, so sind interessante und bekannte Namen, wie Michael Köhlmeier und Monika Helfer in das Buch geraten. Mit Grenzziehungen ist es ja so eine Sache. Ein geographischer Raum Oberschwaben ist nicht eindeutig definiert und kulturell gibt es traditionell zahlreiche verwandschaftliche Beziehungen, Verflechtungen, Parallelen mit der angrenzenden Nachbarschaft in Österreich, der Schweiz, den bayerischen und badischen Ländereien.

Auf dem vorderen Umschlag sehen wir ein zweites Bild, das uns die malerische Pracht im Inneren des Rathauses der Stadt Wangen erahnen lässt. Und wir sehen die Teilnehmer am sogenannten Literarischen Forum Oberschwaben, die sich hier zu einer ihrer jährlichen Zusammenkünfte getroffen haben. Zu den Förderern, Inspiratoren oberschwäbischen Kunstschaffens im weitesten Sinne gehörte der feinsinnige Kommunikator Walter Münch, einst Landrat des Kreises Wangen, als es diesen noch gab. Er und weitere engagierte Mitstreiter waren es, die die Tradition des Forums ins Leben riefen. Es handelt sich dabei um offene Treffen von Autoren und Autorinnen, die aus dem Gebiet stammen oder sich ihm zugehörig fühlen, zu zwanglosem Kennenlernen und Erfahrungsaustausch. Das Buch berichtet darüber ebenso wie über das Wirken einer literarischen Gruppe, die als Ravensburger Kreis bis 2005 existierte.

Literatur in Oberschwaben seit 1945 gewinnt zusätzlichen Wert und Reiz durch die zahlreichen Abbildungen, darunter viele Personenporträts. Ein großer Teil der Fotografien stammt von dem in diesem Jahr verstorbenen Rupert Leser. Über viele Jahrzehnte ein in vielen Medien und Ausstellungen vertretener Bildchronist der oberschwäbischen Landschaft und ihrer Menschen.

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Weber, Edwin Ernst (Hrsg.): Literatur in Oberschwaben seit 1945. – Gmeiner-Verlag, 2017

(Der größte Teil der Beiträge in diesem Buch basiert auf Vorträgen während einer Tagung der Gesellschaft Oberschwaben, die 2011 im Volkshochschulheim Inzigkofen stattfand.)

„Wir sind die Treibenden.“

Ein Jahr geht zu Ende

Neben Essen, Trinken, Schwatzen, Schenken und Beschenktwerden, Zanken und Vertragen, Zusammen- und Besinnlichsein; außer Tannenbäumebestaunen und Vorsätzefassen, Raketen zünden und Ideen zulassen, Träumen und Schlendern, bieten die Tage um Weihnachten und den Jahreswechsel noch manche Stunde (manchen Tag) zum Blättern und Schmökern, für alte und neue Lektüre, dem Wiederindiehandnehmen fast vergessener Bücher und das Entdecken literarischen Neulands.

Zur Zeit lese ich den meisterlichen Roman „Exil“ von Lion Feuchtwanger. Über 800 lohnende Seiten, die natürlich etwas Geduld und Beharrlichkeit erfordern. Es ist der dritte Band der sogenannten „Wartesaal-Trilogie“ und handelt vom Schicksal einer Gruppe Menschen, die Naziherrschaft und Judenverfolgung nach Paris vertrieben haben. Die ersten beiden der inhaltlich nur lose verknüpften Bände, „Erfolg“ und „Die Geschwister Oppermann“, hatte ich bereits vor längerer Zeit gelesen.

Süffigeres liegt für danach bereit. In den freien Tagen bis zum 6. Januar möchte ich mir unbedingt noch den neuen Krimi von Elisabeth Herrmann gönnen. Er heißt „Versunkene Gräber“ und wurde von einer meiner anderen Lieblings-Spannungsautorinnen, nämlich Inge Löhnig, sehr gelobt. Herrmann greift gerne Themen der jüngeren deutsch-deutschen Geschichte auf. Und so verrät der Klappentext ihres aktuellen Buches, dass ein Verbrechen in der Gegenwart, hineinführt “in die dramatischen Ereignisse des Jahres 1945, als sich die Schicksale von Tätern und Opfern kreuzten und Entsetzliches geschah.” Ich bin gespannt.

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“Seit mindestens zweihundert Jahren ist der Drang nach Beschleunigung so dominant, daß er Umwälzungen von schockierendem Ausmaß bewirkte, die ihrerseits Anlaß zu Fragen, Klagen und Warnungen gaben.”

In diesen Tagen und Wochen begleitet mich ein schmales Büchlein der aus der heutigen Slowakei stammenden, in der Schweiz lebenden Übersetzerin, Essayistin und Schriftstellerin Ilma Rakusa mit dem Titel „Langsamer! Gegen Atemlosigkeit, Akzeleration und andere Zumutungen“. Es enthält mehrere nicht allzu lange Aufsätze, jeder mit starken Bezügen zur Literatur, die um das für Viele immer drängender werdende Bedürfnis nach Entschleunigung kreisen. Zu den verweisungs- und geistreich aufgegriffenen Themen, die Rakusa mit diesem Verlangen in Zusammenhang bringt, gehören u. a. Arbeit, Natur, Muße und Reise.

Mir gefällt am besten das Kapitel “Lektüre”, in dem die Autorin den Lesern verdeutlicht, dass in ganz besonderer Weise “Lesen ein langsamer Vorgang … ist und bleibt.” Und “das sogenannte Verschlingen von Büchern … sich vorhandener Zeit und Ausdauer” verdankt. In den Gedanken von Ilma Rakusa finde ich willkommene Rechtfertigung und Bestätigung für die eigene Liebe zur Literatur, zu den Werken von Dichtern und Denkern, für meine liebste Zeitverwendung – das Lesen. “Sinnlichkeit, Beschaulichkeit, Entspannung … Lesen will nicht nur zweckdienlich sein. Daß es Erkenntnisse vermitteln und unterhalten kann, daß es zur Welt- und Ich-Findung, zur Sinnstiftung und Klärung beiträgt, ist das eine. Zugleich ist es eine sich selbst genügende Tätigkeit, die ein großes Glücksversprechen enthält.”

Der Leser “erfährt, dank Konzentration und Hingabe, ein verändertes Zeitgefühl, überwindet die Ich-Grenzen und bewegt sich in einem Raum spielerischer Autonomie.” Täuscht mein Eindruck, oder sind es tatsächlich immer weniger Menschen, die in unserer Gegenwart der Einladung, solch ganz persönliche Privilegien wahrzunehmen und in selbstbestimmtem Tempo durch die Welt zu schreiten, folgen?

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Meine allerneueste Erwerbung, nach langem Hinundherüberlegen, ist die bei Fischer erschienene Taschenbuch-Ausgabe der Romantrilogie „November 1918“. Ein literarisches Großprojekt des Schriftstellers und Arztes Alfred Döblin über die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, dessen Beginn sich im neuen Jahr 2014 zum 100. Male jährt. Döblin zählt zu den etwas aus dem Blick geratenen Autoren der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Am bekanntesten ist sein stilistisch außergewöhnlicher, von Rainer Werner Fassbinder einst eindrucksvoll verfilmter Roman “Berlin Alexanderplatz”. Mit Döblin wollte ich mich schon länger einmal etwas intensiver beschäftigen. Nach Feuchtwanger und dem Krimi soll dies der nächste Lesestoff werden. Ob es dazu kommt? Lesen kann man nicht wirklich planen. Es ist von Launen, Stimmungen, Angeboten und zahlreichen Einflüssen und Zufällen abhängig.

Ein Jahr geht zu Ende. Wie immer in unserem Kulturkreis mit einem 31. Dezember. Bei Anbruch des darauffolgenden Tages, dem 1. Januar, wird sich wenig geändert haben. Wir treiben weiter durch Raum und Zeit. Dimensionen für die nur der Mensch Maßeinheiten, Maßstäbe und Normen kennt. Stets auf der Suche nach sicheren Ankerplätzen. Im unauflöslichen Zwiespalt von „Wille und Vorstellung“.

„Wir sind die Treibenden“, beginnt das XXII. “Sonett an Orpheus” von Rainer Maria Rilke aus dem Jahr 1922:

Wir sind die Treibenden. / Aber der Schritt der Zeit, / nehmt ihn als Kleinigkeit / im immer Bleibenden.

Alles das Eilende / wird schon vorüber sein; /  denn das Verweilende / erst weiht uns ein.

Knaben, o werft den Mut / nicht in die Schnelligkeit, / nicht in den Flugversuch.

Alles ist ausgeruht: / Dunkel und Helligkeit, / Blume und Buch.

“Mörikes Schlüsselbein”

Der neue Roman von Olga Martynova

“… diese Geschichte ließe sich unterschiedlich interpretieren, wie jede Geschichte, wie Geschichte überhaupt.”

Sie wisse nicht, worum es in ihrem Buch geht, behauptete die aus Russland stammende Olga Martynova in einem Interview mit dem Bayerischen Fernsehen. So kurz nach dem Schreiben eines Buches könne sie das nie genauer sagen, da habe sie keinen Überblick. Vielleicht “um die Liebe, um die Nächstenliebe”. Und als der Reporter später noch einmal nachfragte, gestand sie: “Eigentlich ist es eine Geschichte der Dichter.”

Allzuhoch stehen Literatur und die Literaturwissenschaften schon seit etlichen Jahren nicht mehr im Kurs; und Publikum, das sich Lyrik und etwas niveauvollere Erzählungen und Romane zumutet, ist auf einen harten Kern geschrumpft. Parallel sind die literaturwissenschaftlichen Fachrichtungen an den Hochschulen seit Jahren auf dem Rückzug. Sie weichen fast widerstandslos dem messbar Nützlichen und Disziplinen, die technologisch und wirtschaftlich Verwertbares produzieren. Dabei gerät in Vergessenheit was Literatur als Kunstform und die Wissenschaft über sie (einschließlich einiger Nachbar-Disziplinen) leisten. Sie können unsere Fähigkeit zu Skepsis, Kritik und vergleichender Deutung schulen, und dazu beitragen die Interpretierbarkeit sicher geglaubter Wahrheiten und deren erfahrungsgemäß zeitlich begrenzte Gültigkeit zu erkennen.

In den Romanen von Olga Martynova geht es fast ausschließlich um Literatur, die Arbeit daran, damit und darüber. Nahezu alle handelnden Figuren haben in irgendeiner Form mit Literatur zu tun. Sie sind Autoren, Übersetzer, Wissenschaftler und Schriftsteller. Und: Sie alle wissen um die Existenz einer Schnittmenge von Dichtung und Wahrheit.

Das Personal von “Mörikes Schlüsselbein” besteht im Kern aus einer kunstvoll konstruierten Patchwork-Familie. Zu dieser gehören der deutsche Hochschullehrer Andreas Berg und seine erste große Liebe von vor über zwanzig Jahren, die damals sehr junge, in einem literarischen Umfeld lebende und lernende Russin Marina. Wir kennen das Paar bereits aus Martynovas erstem Roman “Sogar Papageien überleben uns”. Die beiden fanden damals jedoch nicht dauerhaft zueinander. Andreas heiratete vielmehr irgendwann Sabine, mit der er die Kinder Moritz und Franziska bekam. Sabine ist inzwischen wieder Ex. Und während der alternde Wissenschaftler noch mit der Studentin Laura kuschelt, findet bereits eine zaghafte Wieder-Annäherung an Marina statt. Moritz und Franziska, Vertreter einer neuen herangewachsenen Generation, erleben die Leser in diesem Buch auf der Suche nach ihren eigenen Wegen und Lebensentwürfen. Die Geschichte der wechselnden familiären Konstellationen geben dem Roman so etwas wie eine Rahmenhandlung. Schauplätze der Geschehnisse sind in den USA, Russland und Deutschland.

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Hölderlins Tübingen

Der ebenfalls dem Leser bereits aus dem ersten Buch vertraute Lyriker Fjodor fällt diesmal alsbald seinem extremen Alkohol-Konsum zum Opfer; durch die zeitversetzte Erzählweise verschwindet er jedoch nie ganz aus der Geschichte. Moritz, der erste literarische Gehversuche unternimmt, hat die Autorin zwei besonders virtuose, anspielungsreiche Passagen zugeschrieben. Einmal als er während eines Tübingen-Besuchs über Hölderlins “Hälfte des Lebens” assoziiert: “Getrunkene Schwäne, klar im Neckar gespiegelt, auch die Stauden, doch kannst du dir nie das Wasser zusammen mit dem schöpfen, was du so deutlich siehst, keinen Schwan trinken, keinen sich küssenden Schwan trinken. Untrinkbare Schwäne.” (Es gibt noch weitere Variationen. Das klingt ein bisschen wie Jazz über ein klassisches Thema, in Sprache.) Und im Kapitel “Ich werde sagen ‘Hi’”, in dem sich Moritz in eine gleichaltrige Eisverkäuferin verliebt, die jedoch schneller wieder aus seinem Blickfeld verschwindet, als er sich ihr erklären kann. Diesen Text las Olga Martynova im letzten Sommer in Klagenfurt vor und gewann damit ebenso prompt wie überraschend den Ingeborg-Bachmann-Preis.

Zu den für Olga Martynova wichtigsten Abschnitten der russischen Literaturgeschichte gehört die Zeit der “Oberiuten” um Daniil Charms und Alexander Wwedenski (ein Motto, das dem Roman voransteht, stammt von ihm), die in der Sowjetunion der 1920er und 1930er Jahren provokative moderne Dichtung schufen, die nur im Untergrund gelesen und verbreitet werden konnte. Sie wurden traurige Opfer einer Diktatur, die glaubte Dichtung und Dichter bekämpfen zu müssen. Erst mit Einsetzen der Perestrojka wurden sie – lange nach ihrem Tod – gedruckt und auch im Westen bekannt. (*) Von den Epochen der deutschen Literatur fasziniert Martynova besonders die Romantik. “Romantik ist der Ursprung der klassischen Moderne”, sagt sie, und setzt sich an ihrem Wohnort Frankfurt am Main für ein Romantik-Museum ein.

Geboren wurde Olga Martynova in einem anderen, fernen Kosmos, dem sibirischen Krasnojarsk; sie wuchs in Leningrad auf, studierte russische Sprache und Literatur. Mit ihrem Mann Oleg Jurjew – einem Lyriker und Übersetzer – kam sie einst im Rahmen von Studienaufenthalten nach Deutschland und blieb bis heute. Ihre Prosawerke schreibt sie inzwischen in deutscher Sprache, wobei ihre Metaphernsicherheit und der enorme Wortschatz beeindrucken. “Aus der Herde von Wörtern muss man die richtigen heraussuchen,” erläutert sie ihre Arbeitsweise. “Sehnsucht” gehört zu den Lieblingswörtern, auch weil es keine exakte Entsprechung für diesen Gefühlsausdruck in anderen Sprachen gibt. “Sehnsucht ist das deutscheste, aller deutschen Wörter…” Schreiben kann die Schriftstellerin überall; am liebsten sitzt sie mit ihrem Laptop im Zug.

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Olga Martynova auf der Leipziger Buchmesse 2013

“Mörikes Schlüsselbein” ist in wechselnden, sich teilweise überschneidenden Zeitebenen erzählt. Das Werk besteht aus einer Vielzahl einzelner Geschichten, die, wie die Hauptfiguren, eng miteinander verbunden sind. In vielen dieser Geschichten öffnen sich immer wieder Türen zu Nebenräumen mit neuen Geschichten. Manchmal wird nur ein kurzer Einblick gewährt, ein anderes Mal wird der Leser mitgenommen auf einen Gang durch weite Erzählräume. Realität, Fiktion, Traum und Trauma gehen ineinander über. Wie in der Figur des Schamanen, der einer Gruppe von Menschen angehört, die sich von der übrigen, uns vertrauten Welt, abgesetzt hat. Doch die Ratschläge und Weisheiten, die er verbreitet, klingen wie geschaffen für unseren durchhetzten, informationsüberfluteten und konsumfixierten Alltag des frühen 21. Jahrhunderts. Statt zu leben als wäre es der letzte Tag im Leben, und dabei immer Angst haben zu müssen, etwas zu verpassen, rät der Steppen-Weise zur Gelassenheit und einer Haltung als würde man ewig leben.

Olga Martynova hat ein Buch über Dichter und Dichtung geschrieben. Voller skurriler, phantasievoller Einfälle und Abschweifungen, aber auch mit zahlreichen Passagen, die nüchtern die Realitäten des Hier und Heute zur Vorlage haben. Es ist spannend und sehr anregend zu lesen, nicht zuletzt durch die vielen Verweise auf einzelne Dichter und verschiedene Literaturepochen. Das ist sozusagen der Subtext, dieses ungewöhnlichen Romans. Solche Bücher zu verlegen, dafür darf man dem Grazer Verlag Droschl dankbar sein, der zu den wenigen Häusern gehört, die noch den Mut haben, das Unseichte, Werke, die für den Lesegenuss etwas geistigen Aufwand und Leseerfahrung erfordern, mit großer Selbstverständlichkeit neben die vielen Beliebigkeiten des aktuellen Buchmarktes zu stellen.

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(*) Unter dem Titel “Das Leben hat über den Tod gesiegt, auf eine mir unbekannte Weise” hat Olga Martynova einen längeren Artikel über die Oberiuten geschrieben, der zuerst in der “Neuen Zürcher Zeitung” vom 17. Februar 2007 erschienen, aber auch in einem sehr empfehlenswerten Essayband von 2011 enthalten ist, zusammen mit anderen Arbeiten von ihr und ihrem Mann Oleg Jurjew. In ihrem jüngsten Gedichtband hat Olga Martynova zudem Alexander Wwedenski einen längeren Zyklus gewidmet.

Im Prozess gegen drei Mitglieder der Pop- und Protestgruppe Pussy Riot wurde von diesen auf den Kreis der Oberiuten verwiesen. Die jungen Frauen bezogen sich in ihren Stellungnahmen vor Gericht immer wieder auf Strömungen und Persönlichkeiten der russischen Literaturgeschichte. Womit sie deutlich machen konnten, dass ihre Aktion keineswegs nur eine naive Spontanreaktion war, sondern dass sie sich in der Tradition einer langen Kette subversiver Protestformen Kulturschaffender sehen. Ein Hintergrund, über den in den meisten deutschen Massenmedien nicht berichtet wurde. Eine kleine Ausnahme bildete ein Beitrag im Deutschlandradio Kultur vom August 2012, mit dem ermutigenden Titel: “Pussy Riot erteilen Richtern eine Kunst-Lektion”. Ein kleines Beispiel dafür, dass Literatur und die persönliche, diskursorische und wissenschaftliche Beschäftigung damit, manchmal eben doch ihre bescheidene gesellschaftspolitische Wirkung entfalten kann.

Martynova, Olga: Mörikes Schlüsselbein. Roman. – Literaturverlag Droschl, 2013

Martynona, Olga: Sogar Papageien überleben uns. Roman. – Literaturverlag Droschl, 2010

Martynova, Olga; Jurjew, Oleg: Zwischen den Tischen. Olga Martynova und Oleg Jurjew im essayistischen Dialog. – Bernstein-Verlag, 2011

Martynova, Olga: Von Tschwirik und Tschwirka. Gedichte. – Literaturverlag Droschl, 2012

Sudeleien: Weihnachten 2011

Von Außenseitern

Beim Sovormichhinschlendern durch die vorweihnachtliche Kulisse meines Städtchens staune ich über die rasche Vergänglichkeit eines Kalenderjahres. Und wenn im Dezemberdunkel dicke feuchte Flocken herniederschweben, muss ich an die Geschichte vom kleinen Mädchen mit den Schwefelhölzern denken. Es ist eine der traurigsten, die ich kenne. Vor Jahren konnte ich einmal das Geburtshaus des phantasiereichen Dichters dieser Erzählung in der Stadt Odense auf Fünen besuchen. Als der Däne Hans Christian Andersen dort 1805 zur Welt kam, hatte er für seine weitere Zukunft die denkbar schlechtesten Voraussetzungen. Als Kind eines armseligen Schusters und einer trunksüchtigen Mutter schaffte er es mit Umwegen auf Lateinschule und Universität.

Er starb 1875 als international anerkannter Schriftsteller in Kopenhagen. Einen großen Teil seines Lebens verbrachte er auf Reisen, blieb ledig. Homoerotisch veranlagt, intellektuell anspruchsvoll und in viele Richtungen interessiert, führte er ein Leben als Betrachter, nicht als Teilnehmer.

Was hatte Dieter K. eigentlich verbrochen? Gut, er war ein verwöhntes Einzelkind; er trug Hosen mit Bügelfalten; und er war einen Tick begabter als wir anderen. Das reichte uns Volksschülern schon, um ihn immer wieder zu hänseln, zu schubsen, ihm ein Bein zu stellen oder ihn auch einmal für eine Stunde in den dunklen Kellerraum zu sperren. Solche Formen von Drangsal waren und sind unter Kindern und Jugendlichen üblich. Der Wiener Maler, Poet und Sänger Arik Brauer drückte es in seinem Lied “Rostiger die Feuerwehr kommt” so aus: “Wir hab’n in der Schul’ ein g’habt, den hab’n wir terrorisiert! / Der hat rote Haar’ g’habt und Brill’n mit dicke dicke Augenlasn’ln / und ich war der Allerärgste von allen. / Und heut’ tut mir das ja so leid.”

Die Außenseiter. In der Literatur dieser Welt sind sie daheim. All diese Gestalten von der meist traurigen, manchmal auch heiteren Gestalt. Die Don Quichottes, Schwejks und Oskar Matzeraths. Sie bieten allemal ergiebigen, deftigen Erzählstoff. Außenseiter gibt es in Literatur und Leben in vielen Varianten und Erscheinungsformen. Als Einzelgänger oder Sonderling, Individualisten, Egozentriker und Exoten. Es gibt den Lebenszaungast und den Eigenbrötler, den Schrat und den Kauz. Das Original, das Unikum und den Charakterkopf.

Günter Eich, Dichter und zu seiner Zeit ein innovativer Hörfunk-Autor, erhielt 1959 den Georg-Büchner-Preis. In seiner Dankesrede sprach er über jene, die “der Ritterschaft von der traurigen Gestalt angehören … Indem sie rebellieren und leiden verwirklichen sie unsere Möglichkeiten … alle die sich nicht einordnen lassen, die Einzelgänger und Außenseiter, die Ketzer in Politik und Religion, die Unzufriedenen, die Unweisen, die Kämpfer auf verlorenen Posten, die Narren, die Untüchtigen, die glücklosen Träumer, die Schwärmer, die Störenfriede, alle, die das Elend der Welt nicht vergessen können, wenn sie glücklich sind.”

Eine einzigartige, weit ausholende Studie zu diesem Thema hat in den 1970er Jahren der Literaturwissenschaftler Hans Mayer verfasst. Für ihn sind Außenseiter Menschen, denen traditionelle Rechte und Selbstverständlichkeiten einer Gesellschaft vorenthalten werden. Und er wendet sich gegen die im 20. Jahrhunderts sehr verbreitete Philosophie, dass die Interessen des Kollektivs über die Individualrechte zu stellen sind. Historisch und literaturgeschichtlich fundiert, auf sprachlich hohem Niveau, macht Mayer dies am Beispiel von Frauen, Homosexuellen und Juden deutlich. Er kann dabei nachweisen, dass nicht selten gerade die für unverrückbar geltenden kulturellen und politischen Konventionen Ursache für Mißverständnisse, Mißverhältnisse, Ungleichbehandlung, ja letztlich für die Rechtfertigung der Vernichtung von Menschen sind.

Eine besondere Form des Außenseiters ist der Künstler – oder sollte man besser sagen: will der Künstler sein? Da er sich meist bewußt und willentlich in dieser Rolle sieht, grenzt er sich damit doch deutlich von den bürgerlichen, sich ihrer Sache sicheren Mehrheiten und deren Gepflogenheiten ab. Daraus resultierende Konflikte und ans Krankhafte grenzende Symptome sind eines der Hauptmotive im Werk von Thomas Mann: “Aber in dem Maße, wie seine Gesundheit geschwächt ward, verschärfte sich seine Künstlerschaft …” Das führt unweigerlich dazu, dass man an der Peripherie des wirklichen Lebens bleibt, nirgends richtig dazugehört, nirgendwo ganz zu Hause ist und an den “Wonnen der Gewöhnlichkeit” nicht teilhaben kann. Joseph von Westphalen, ein Autor unserer Tage, schreibt: “Als Gast werde ich nicht auftauchen. Literatur lebt für mich immer noch von Ungeselligkeit und nicht von Bombenstimmung.”

Umfassend und aus verschiedensten Perspektiven wird das komplexe Thema in der Doppelnummer 748/749 (Herbst 2011) der Zeitschrift “Merkur” behandelt. Die “Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken” hat dazu folgendes Motto auf die Titelseite gesetzt: “Sag die Wahrheit! Warum jeder ein Nonkonformist sein will, aber nur wenige es sind.” Jeder Beitrag dieses Bandes ist lesenswert. Mich besonders beeindruckt hat Gustav Seibt, der uns in einem historischen Rückblick seine ganz persönlichen Außenseiter vorstellt und originellerweise in der Fast-Gegenwart bei dem Heide-Unikum und der solitären Schriftsteller-Existenz Arno Schmidt ankommt, sowie Michael Rutschky mit seinen Thesen über die “Erfindung des Ich”, der dazu Selbstdarsteller wie den Dreitagebartträger, Piraten oder James Dean in den Zeugenstand ruft.

Wie klein muss oder darf eigentlich eine Minderheit sein, um noch als solche zu gelten? Vor dem zweiten Weltkrieg gab es Städte und Dörfer im multikulturellen Osten und Südosten Europas in denen die Juden die größte Bevölkerungsgruppe bildeten. Dennoch wurden ihnen nicht nur fundamentale Bürgerrechte – wie z. B. die freie Berufausübung – vorenthalten, sie waren auch in Konfliktfällen die ersten Sündenböcke und Opfer von Verfolgung, Progromen und Vernichtung. Eine solche vergangene Welt und das Unrecht, das in ihr begangen wurde, steht am Anfang des Lebensweges von Itsik Malpesch, der Hauptfigur in einem weitgespannten Roman-Epos des amerikanischen Schriftstellers Peter Manseau mit dem Titel „Bibliothek der unerfüllten Träume.“ Die Hauptfigur Malpesch ist Literaturfreund und Dichter, und am Ende seines Lebens, als es ihn längst nach New York verschlagen hat, der Letzte der im Jiddisch-Dialekt seiner Herkunftsregion schreiben und lesen kann.

Der Weg vom nur skeptisch betrachteten Außenseiter zum Opfer war – das zeigt die Geschichte – schon immer ein kurzer. Literaten waren leider noch nie unbeteiligt, wenn es um die Manifestation von Vorurteilen ging, wie schon Lion Feuchtwanger deutlich machte: “Auffallend ist, dass die Weltliteratur, so widerwärtig die Mehrzahl ihrer jüdischen Männer ist, beinahe ausschließlich sympathische jüdische Frauen zeigt.” Ausgrenzungen basieren auf verstärkten, nachdrücklich behaupteten Kontrasten und der ständigen Selbstvergewisserung des sogenannten “Normalen”.

Vor etwa 2000 Jahren lebte in einer Gegend, die wir heute Naher Osten nennen – in Wirklichkeit ist es ein buntgescheckter Kultur- und Sprachraum, der seit jeher unter willkürlich gezogen Grenzen leidet –  ein aufrechter Mann, der ein unstetes Wanderleben führte. Dabei setzte er sich ohne falsche Scham und ohne Rücksicht auf geltende Normen für Menschen am Rande der Gesellschaft ein: Für Arme, Huren, Kranke und Behinderte, ja sogar für die damals besonders unbeliebten, korrupten Zöllner. Er war aber auch ein großer Erzähler und Redner. Dabei brachte er einige auch heute noch bedenkenswerte Aussagen unter seine Zeitgenossen, wie das längst volksmündliche “richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet!” oder das später vom Philosophen Emmanuel Kant zum kategorischen Imperativ veredelte: “Alles, was ihr also von anderen erwartet, das tut auch ihnen!” Manche Sätze waren durchaus gesellschaftspolitisch brisanter Sprengstoff: „Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt.” –  “Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand, sondern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin.”

Das irritierte und wurde folglich nicht lange geduldet. Bald drängten die alteingesessenen Konformisten dieses Landstriches die römische Besatzungsmacht zu Konsequenzen. Jesus von Nazareth war gerade einmal Anfang 30 als er am Kreuz starb. Eine starke Minderheit unseres Planeten feiert am 24. Dezember eines jeden Jahres seinen Geburtstag. Besonders heftig und innig ist dies in Deutschland der Fall, wo die Feierlichkeiten eine Mischung aus germanischer Mythen-Beschwörung und erstarrten, von Amtskirchen diktierten Riten und Liturgien mit christlich-religiösen Alibi sind. Baum und Kreuz symbolisieren dabei ebenso widersprüchlich wie hartnäckig, die stete Vergeblichkeit vorgeblicher Sinnsuche.

Sudeleien: Mitte September 2011

Endlich Herbst!

Beim Sovormichhindenken: “Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß. / Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren, / und auf den Fluren laß die Winde los.” Rainer Maria Rilke hat die Verse im Stile eines Gebets geschrieben. Das war vor 110 Jahren. Das Gedicht heißt “Herbsttag” und wird auch heute noch gerne gelesen oder vorgetragen.

Der Aufbau-Verlag schrieb mir vor zwei Wochen: “Sehr geehrter Herr Haag, der Sommer neigt sich dem Ende entgegen, die Tag werden kürzer. Doch uns Leser kann das nicht schrecken – denn es bedeutet gemütliche Spätsommerabende im Lieblingssessel mit neuen, spannenden Büchern.” “Naaaja”, würde dazu ein ehemaliger Großkritiker aus Frankfurt am Main mit skeptisch faltiger Grimasse nuscheln, “das wollen wir doch erst einmal sehen.”

Ja, inzwischen ist der Sommer wohl wirklich am Ende. Schade eigentlich. So müssen wir nun wieder für lange Monate auf Liebgewonnenes verzichten. Auf üppige Weiblichkeit in knapper Ha-und-em-Badeware. Auf angegraut schwergewichtige Männlichkeit in Zeh-und-ah-Shorts, braunen Socken und Outdoor-Fussbesohlung. Auf allerhand exotische Eissorten wie “Smarties”, “Prosecco” oder “Kockovääh”.

Dafür kehrt das eine oder andere zurück, das wir viel zu lange entbehren mussten. Der Kaffee im Freien mit von Heizstrahlern erhitzten Gesichtern und vereister Rückenpartie. Dauerbenieselung von oben. Spätes Morgendunkel und frühes Abenddämmer. Frischer Gegenwind (s.oben). Bunte Blätter reichlich fallend. Die vielfach um Hals und Kinn geschlungenen Endlos-Häkel-Schals. Und – fast schon zu hören am Zeithorizont – das süßliche Gebimmel konsumfordernder, nicht endenwollender Weihnachtsmärkte.

Am liebsten sind mir Buchhandlungen mit nem Cafè drin. Dort saß ich neulich und las in dem Büchlein, das ich soeben erworben hatte. Andreas Maiers Kolumnenband “Onkel J.” Bevor sie von Suhrkamp hier zu schmalem Werk versammelt wurden, erschienen die kleinen Perlen in der österreichischen Literatur-Zeitung “Volltext”. Die kann man sehr gut ins Caféhaus mitnehmen. Zum Thema Herbst stand in des Wetterauer Dichters geistvoll sprunghaften Kurz-Essays eigentlich nichts drin. Aber neben dem Begriff “Umgehungsstraße” wird ein Getränk namens “Äppelwoi” häufig erwähnt. Und reife Äpfel riechen ja schon ziemlich kräftig nach Herbst.

Der oder die vor mir da saß, wo ich jetzt saß, hatte Schokolade nicht gegessen, sondern auf der nun von mir genutzten Sitzfläche verteilt. Ich merkte es erst als die Vollmilch-Schmiererei via Hosenbein und rechte Hand auf Andreas Maiers Glanzstückchen “Neulich las ich den Taugenichts” auftauchten.

Kann sich noch jemand an vorletztes Jahr erinnern? Möchte man nicht wirklich, wa? Im Spätsommer, Frühherbst war Wahlzeit. Vierundzwanzig Monate später wissen wir, was wir damals angerichtet haben, als wir die Wahl hatten und würden gerne wieder wählen. Aber bestimmt nicht wiederwählen. Jedenfalls boomen jetzt Wirtschafts-Thriller, die seltsamerweise alle im Sachbuch-Regal stehen. Untergangsszenarien und Weltrettungskonzepte sind besonders begehrt: “Geld oder Leben: Eine Reise durch den Wirtschaftswahnsinn”, “Markt ohne Moral: Das Versagen der internationalen Finanzelite”, “Das Ende der Weltwirtschaft und ihre Zukunft”.

Ich lese am liebsten jahreszeitlich antizyklisch. Also im Herbst “Frühlingserwachen” (Streichen Sie das. Ist nicht wirklich ein Frühlings-Buch.). Im Sommer Fontanes großes Winter-Epos “Vor dem Sturm”. Und in winterwarmer Stube, aus der unser melancholischer Blick durch Eisblumen in wolkig weißen Winterzauber fällt, Sachen wie… Naja, kennt man alles. Aber bitte keinen Hemingway! Obwohls da oft heiß ist oder zumindest hergeht. Aber für mich auf keinen Fall Hemingway. Da kann ihn Gourmet Ortheil noch so doll finden. So lauthalse Kerligkeit die mit Gewehren fuchtelt, auf afrikanisches Großwild schießt und auch so schreibt, mag ich einfach nicht. Auch nicht midnight. In Paris.

Apropos melancholisch. Schwermut, Trauer, Melancholie, aber auch so eine unbestimmte heitere Endzeit-Stimmung sind ja Gefühlsregungen, die gerne mit dem Herbst in Zusammenhang gebracht werden. Und Nachdenklichkeit. Viel verspreche ich mir von Heidemarie Bennent-Vahles “Glück kommt vom Denken. Die Kunst, das eigene Leben in die Hand zu nehmen.” Hoffentlich ist es so philosophisch wie Titel und erste Rezensenten andeuten und nicht so ratgebermäßig wie der Untertitel klingt.

Ob ich diesen Herbst überhaupt dazu komme, Titel aus dem Hause Aufbau (s. oben) zu lesen, ist eher fraglich. Die Kartei-Kärtchen mit interessanten, vielversprechenden Neu-Erscheinungen des Sommers und des Herbstes vermehren sich rasant. Und die eine oder andere steht schon neben dem Schreibtisch im Regal. Von zwei Büchern kann ich dabei Finger und Augen kaum noch lassen. Wenig erstaunlich, da sie bei meinen Tübinger Lieblingen von Klöpfer & Meyer erschienen sind. Viel will ich heute nicht verraten – werde demnächst ausführlicher darüber berichten. Nur so viel: Es geht um Hölderlin und es geht um Hegel. Aber wohl aus ganz anderer Perspektive und in anderer Form als in den gewohnt und meist gemiedenen Ernst-Schwarten.

Aber erst einmal gibt es ein paar Bilder und Sätze zu Goethe. In Kürze. Hier.

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Exklusiv: Das war 2011!

So. Rum! MMXI

Literatur*Orte*Spuren mit einem ersten Jahresrückblick

Ende letzten Jahres wurden der Internet-Plattform „RikySeeks“  Informationen aus führenden Rundfunk- und Fernseh-Anstalten Deutschlands zugespielt, die erkennen ließen, dass die neuesten Jahres-Rückblicke, Ausstrahlung geplant für den Frühherbst 2011, bereits als Roh-Manuskripte existieren. „RikySeeks“ konnte an Kopien gelangen, die demnächst auf der Website www.rikyseeks.net als Faksimile der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Literatur*Orte*Spuren veröffentlicht schon heute erste Auszüge.

Januar. Die Neujahrsbotschaft des us-amerikanischen Präsidenten Barack Obama, in der dieser seinen Rücktritt zum Ende des Monats ankündigte, ging in Deutschland fast unter. Tagelang standen Meldungen über die Insolvenz der Fussballvereine TSV 1860 München und SSV Ulm 1846 im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Beide Traditions-Clubs wurden mangels Masse rückwirkend zum 1.1.2011 aufgelöst. Die Mannschaften wurden aus den jeweiligen Staffeln genommen, ihre Ergebnisse annuliert. In München erlitt der bekannte Kabarettist und 60er-Fan Ottfried Fischer einen Schwächeanfall. Der ebenfalls nicht ganz unbekannte Ulmer Oberbürgermeister Ivo Gönner kommentierte die Vorkommnisse: „Jetzt isch a Rua.“ Nicht klar wurde, auf welches Ereignis er sich damit bezog.

Februar. Seit Mitte November hielt das nahezu stabile Winterwetter an, und auch der Februar 2011 verlief kalt und schneereich. Kaputte Straßen und die vielen Einsätze der Winterdienste strapazierten die klammen Kassen der Kommunen zusätzlich. Allerorten wurde über mögliche Sparmaßnahmen nachgedacht. Und natürlich standen die Bibliotheken wieder einmal ganz oben auf den meisten Listen. Doch es gab auf diesem darbenden Kultursektor auch positive Nachrichten. In Freilassung wurde auf private Initiative und mit Unterstützung der Stadt eine Bibliothek der Gedichte gegründet. Sie wird in einem ehemaligen Bahnwärter-Häuschen am Inn eingerichtet. Freilassing ist die deutsche Nachbarstadt der österreichischen Festspielstadt Salzburg, in der am 3. Februar 1887 Georg Trakl geboren wurde. Es ist geplant die Einrichtung nach dem großen, aber im kurzen Leben sehr unglücklichen, Dichter zu benennen. „Ein Brunnen singt“, lautet das Motto, unter dem das ambitionierte Unternehmen steht und das Trakls Gedicht „Musik im Mirabell“ entstammt.

März. Zur Buchmesse in Leipzig erschien die gesetzte Neuausgabe von Arno Schmidts „Zettel’s Traum“ als E-Book. Im Rahmen einer speziell für dieses Projekt geschlossenen Partnerschaft von Suhrkamp, der Arno-Schmidt-Gesellschaft (Bargfeld) und Apple, ist die elektronische Version des gedruckt 1536 starken Buches nur auf dem neuen I-PO zu bekommen. Das Modell wird dem Werk und den Intensionen des Autors durch sein ungewöhnliches Format (35,8 x 27,4 Cent-I-Meter) in hervorragender Weise gerecht. Der I-PO ist selbstverständlich mit einem hochauflösenden Tatsch-Screen ausgestattet.

April. Bei Bodengrabungen im Lonetal nahe Ulm, entdeckten Forscher der Universität Tübingen Spuren einer bisher unbekannten Frühkultur. Diese allerersten Siedler im damals noch breiteren Flusstal der schwäbischen Alb, verfügten offensichtlich bereits über erstaunliche Kulturtechniken. So wurden Tontafeln mit eingeritzten Zeichen gefunden, die darauf hindeuten, dass der Lonetal-Mensch ein Rechensystem verwendete, das auf den Zeichen 0 und I aufgebaut war. Für genauere Analysen wurden Kryptographen der Universität Ulm herangezogen. Die Tübinger Archäologen haben erste Erkenntnisse über diese „ostschwäbische Digital-Kultur“, wie sie vorläufig genannt wird, inzwischen publiziert. (AJA, 114, pp 557-561, doi: 10.3764/aja.114.3.557)

Mai. Einzelne Medienberichte über den 100. Geburtstag Max Frischs stießen auf wenig Interesse. Im Mittelpunkt stand einmal mehr der Fussball. Nach zahlreichen zweiten Plätzen in verschiedenen Wettbewerben, wurde Bayer Leverkusen erstmals deutscher Fussball-Meister, vor Dortmund und Mainz. Der VfB Stuttgart stieg als Tabellenletzter aus der Fußball-Bundesliga ab. Manager Fredi Bobic erklärte seinen Rücktritt. In einer gemeinsamen Erklärung von Vorstand und Trainer, der auch in der zweiten Liga Bruno Labbadia sein wird, hieß es: „Der Verein strebt den sofortigen Wiederaufstieg an.“ Bayern München wurde Drittletzter. In zwei spannenden Relegationsspielen konnte sich der Rekordmeister gegen den fränkischen Rivalen von Greuther Fürth durchsetzen und den Klassenerhalt sichern. Nur fünf Tage später gewann der FC Bayern das Champions-League-Finale in London gegen die überraschend ins Endspiel gelangte Mannschaft des FC Kopenhagen.

Juni. Das auswärtige Amt in Berlin riet jungen Frauen für diesen Sommer dringend von Aufenthalten in Italien ab. Nach der Einführung einer Audienzpflicht für deutsche Frauen bei Ministerpräsident Berlusconi wurde empfohlen, in der bevorstehenden Urlaubszeit andere Reiseziele zu wählen. Über mögliche Altersober- oder -untergrenzen in diesem Zusammenhang machte Günther Jauch, der Sprecher des neuen Außenministers und Vizekanzlers vonundzu Guttenberg, keine Angaben.

Juli. Die erfolgreiche Tatort-Reihe der ARD wurde überraschend abgesetzt. Nach über vierzig Jahren war im Sommer Dreh-Schluss. Aus diesem Anlass fand eine große finale Party in Ludwigshafen statt. Alle noch aktiven Kommissare und Kommissarinnen, Ermittler und Rechtsmediziner, sowie viele Ehemalige, feierten gemeinsam am Rhein-Ufer. Die Kölner hatten einen Curry-Wurst-Stand aufgestellt, die Münchener Kommissare steuerten einige Fässer bestes bayerisches Exportbier bei und Axel Milberg, alias Borowski, brachte aus Kiel frischgeräucherte Sprotten. Bis zum nächsten Morgen wurde gefeiert, gezecht und in Erinnerungen geschwelgt. (Zwei Tage später, am 17. Juli, wurde in Frankfurt das Finale der Frauen-WM im Fussball ausgetragen … zwischen Nigeria und Australien! Endstand: 1 : 2) Die allerletzte Tatort-Folge wurde dann Mitte Oktober gesendet. Sie trägt den Titel „Taxi aus Leipzig.“

August. Auf geht’s! Das Müchener Oktoberfest fand dieses Jahr erstmals bereits im August statt. Schweißgebadet sprach OB Uhde nach ungewöhnlichen 11 Schlägen das traditionelle “ozapft is!”. Anschließend wurde das neue Team des FC Bayern München präsentiert. Mannschaftsführer Bastian Schweinsteiger versprach unter dem tosenden Beifall der stammwürzig erhitzten Menge, in dieser Saison die Meisterschale wieder nach München zu holen. Dem schloss sich der neue Trainer Thomas Tuchel an und ergänzte, dass natürlich auch der Champions-League Titel erneut gewonnen werden soll. Die Begeisterung im überfüllten Zelt war grenzenlos. Spontan und gemeinsam stimmte man den traditionellen Spider-Murphy-Song „Schickeria“ an und stemmte die Maßkrüge gen Zelthimmel.

September. Früher Wintereinbruch in Deutschland. In Castrop-Rauxel und Buxtehude brach die Fernwärmeversorgung, in Leipzig und Zwickau der Straßen- und in München, Berlin und Hamburg der S-Bahn-Verkehr zusammen. Erste Testfahrten auf der Neubau-Strecke der Bahn zwischen Wendlingen und Ulm, die für die zweite Monatshälfte mit einer Draisine geplant waren, wurden aus Sicherheitsgründen abgesagt.

Oktober. Auf der Frankfurter Buchmesse wurde wie jedes Jahr, so auch 2011, einmal mehr der endgültige Durchbruch des E-Book gefeiert. Zugelassen waren in diesem Jahr nur Aussteller, die mindestens einen Titel in einer elektronischen Reader-Version anbieten konnten. Den diesjährigen Deutschen Buchpreis erhielt Oliver Bendel für seinen neuen Handy-Roman „Handygirl – Part III“. In diesem Teil spielt unsere Freundin Liza in einem Theaterstück mit. „Frühlings Erwachen“ von Frank Wedekind. Kathi sitzt auf der Ersatzbank und Handygirl hat eine neue Aufgabe als Superheldin.

November. Im Print-Bereich machten in diesem Herbst gleich zwei Publikationen außerordentlich Furore und erfreuten die zuletzt nicht verwöhnte Buch-Branche mit stattlichen Extra-Umsätzen. Gefeiert und in ganz Deutschland bestens verkauft, wurde das neue Buch von Uwe Tellkamp. „Im Sturm“ erzählt, wie einmal zu DDR-Zeiten der ganze Stadtteil Weißer Hirsch durch einen Schneesturm vom Rest Dresdens abgeschnitten war. Den Bewohnern des Nobel-Viertels wurde daraufhin ähnlich langweilig, wie den Lesern von Tellkamps Werken. Für Schlagzeilen sorgte auch Hape Kerkeling mit seinem neuesten Verkaufserfolg “Ich bin wieder da!”. Innerhalb weniger Tage war die Erstauflage von 1 Million Exemplaren verkauft. BILD hatte Auszüge vorab veröffentlicht und seine verkaufte Auflage damit ebenfalls beträchtlich steigern können. Til Schweiger hat die Filmrechte erworben. Für die Titelrolle ist Nora Tschirner vorgesehen.

Dezember. Erstmals fanden zu Beginn des Monats die „Freilassinger-Lyrik-Tage“ in der „Georg-Trakl-Bibliothek“ statt. Aus ihren Werken lasen, neben einigen vielversprechenden jungen Talenten, die bekannten Dichter Michael Lenz, Jan Wagner und Morten Söndergaard.

Geschenk-Renner unter deutschen Weihnachtsbäumen im zu Ende gehenden Jahr 2011: Der E-Book-Reader von ALDI. Auf dem Modell „Weimar“ sind Goethe und Schiller vorinstalliert.

So! Rum. Frankfurter Buchmesse MMX

Mittwoch und folgende

Am liebsten würde ich alle analogen und digitalen Empfangsgeräte ausschalten, alle gedruckten Massenmedien in dafür geeignete Container entsorgen, wegschauen, abtauchen, nur noch mit Lieblingsbüchern dauerschmökern, auswandern nach Polylesien, Tau und Tee trinken, Tag und Nacht von Zetteln träumen, das Westallgäu von Nord nach Süd durchwandern, in mein Tagebuch fallen, unsichtbar bleiben. Doch wenn ich geh’, geht nur ein Teil von mir und der and’re schaut zu dir.

Alle reden von Argentinien. Doch ich sehe, höre und lese nur Schweiz. Melinda Nadj Abonji gewann – Sarrazin sei dank! – mit „Tauben fliegen auf“ den diesjährigen deutschen Buchpreis. Das Schicksal einer ungarischen Familie, die aus Serbien in die Schweiz auswandern muss und deren Geschichte nun in Frankfurt und anderswo die Runde macht. Lieblich, ohne nachhaltigen Abgang. Wir sind Europa.

Dorothee Elmiger bekam neulich den Aspekte Literaturpreis des ZDF für „Einladung an die Waghalsigen“. Ich hab’s gelesen – es ist nicht viel und auch nicht lang – aber großartig und ganz eigen. Mit Mut, Phantasie und Sprachvermögen. Nicht dieses weit verbreitete Schreiben, das eine tragische Biographie erzwingt. Wenn sie das Niveau irgendwann bestätigt, können wir eine neue großartige Stimme begrüßen. Dorothee Elmiger stammt aus Wetzikon im Bezirk Hinwil und lebt jetzt – dreimal raten überflüssig – in Berlin.

Schluss mit Schweiz? Nein, einen hab’ ich noch. Beim 44. Literarischen Wettbewerb der GAD (wer es wirklich nicht weiß: Gastronomische Akademie Deutschland) bekamen die Autoren Dominik Flammer und Fabian Scheffold die „Goldene Feder“ für „Schweizer Käse“, erschienen im AT Verlag, der im schweizerischen Aarau zu Hause ist.

Und Argentinien? Der mehrfach begabte Chansonnier Michael Ebmeyer (Mitglied der Berliner Combo „Fön“) hat schon wieder einen Roman geschrieben. „Landungen“ spielt zu großen Teilen in Argentinien. Erschienen ist diese lesenswerte Zeit- und Familiengeschichte natürlich bei Kein und Aber. Ja, genau: Zürich!

Die armen Grimms. Sie kennen doch die Grimms?! Jacob und Wilhelm, die Wörter- und Märchensammler und großen Gelehrten. Früher Göttingen, später Berlin. Wie geschieht heutzutage ihren Gestalten und Geschichten, den altdeutschen Mythen, den volkstümlich romantischen Figuren? In Reckless, dem neuesten Buch der nach Amerika ausgewanderten, aber immer noch deutschsprachigen Erfolgsautorin Cornelia Funke, werden sie Opfer profitabler Umdeutung.

Birgit Dankert, längst im tätigen Ruhestand, einstmals eine meiner Lieblings-Professorinnen am Hamburger Fachbereich, erläuterte letzte Woche in der ZEIT „Warum das neue Buch von Cornelia Funke ein einziges Ärgernis ist.“

„Cornelia Funke operiert zum Teil recht erfolgreich mit der Ausstattung der Grimmschen Märchenwelt … Aber viele der Wesen, die wir aus den alten Märchen kennen, werden in Reckless einfach nur benutzt und ausgebeutet … Die ständige Aufgeregtheit, die Tücke, die Kleptomanie all der Wassergeister, Stilze, Einhörner und Wölfe, die das Buch übervölkern, schaffen immer nur kurzfristig Spannung … Sehr bedenklich ist auch das Frauenbild, das Reckless zeichnet: Reiz und Kraft der weiblichen Figuren liegen fast ausschließlich in ihren sexuellen Vorzügen. Das beliebte Klischee der gefährlichen Frau nimmt breiten Raum ein.“

Frau Dankert kritisiert den Etikettenschwindel, wenn uns weiß gemacht werden soll, es handelt sich um ein „harmloses Kinder- und Jugendbuch für jedes Lesealter.“ Ihr Fazit: „Wirklichkeit zu erkennen, zu deuten, zu bewältigen und zu überspringen – dazu taugen Märchen. Reckless gelingt das nicht. Seine Welt ist synthetisch und kommt im Leben nicht an.“ Aber alsbald als Kassenschlager in die Kinos – möchte man ergänzen, FSK ab 6 und im Sessel Mutter und Vater mit Drei- und Vierjährigen. Heute müssen Eltern ihre Kinder nicht mehr im Wald aussetzen. Es gibt subtilere Möglichkeiten der Vernachlässigung.

Falten Zitronenfalter Zitronen? Enthält Hundekuchen…? Hat die Frankfurter Buchmesse irgendwie mit Literatur zu tun? Mit Büchern schon. Bücher von Autoren die komplexe Begriffe wie (völlig willkürliches Beispiel!) „hummeldumm“ auf so und so viel Seiten exemplarisch, praktisch, lebensnah und banal glauben erläutern zu müssen. Oder Werke von Jung-, Neu- oder Eigentlichnicht-Autoren, die sich vor völlig natürlichen und weit verbreiteten Naturereignissen wie Vaterwerden und Kinderhaben ins Bücherschreiben flüchten.

Und mit E-Books hat sie zu tun. Nun schon im dritten Jahr nacheinander – in Frankfurt und in Leipzig – sind diese unheimlich im Kommen, werden zum unverzichtbaren Lifestyle-Produkt hochgepredigt. Und alle medialen Kanäle stimmen ein. Das Angebot an Hardware ist vielfältig. Was hätten’s denn gerne? Das anglophile Kindle oder den geschmeidigen Sony Reader, Bookeen Cybook Opus, Foxit eSlick oder Ectaco jetBook-Lite? Den PRS-600 Touch black, das Cybook Gen3 Gold Edition oder doch lieber das äußerst günstige Weltbild-Modell? Es gibt auch tatsächlich schon das eine oder andere Buch zum Draufladen und Runterlesen. Aber nicht für alle die gleichen. Das gilt auch für die Formate und Ausstattungsmerkmale. Unter Strom sollte es natürlich schon stehen – Stichwort: Akku-Laufzeit. Flatrate demnächst. Tolstoj und Fontane gratis dazu.

Von Bibliotheken ist und war in Frankfurt allenfalls am Rande die Rede. Die lassen sich nicht handeln und ihre Dividenden sind nicht pekuniär. Das soll sich jetzt ändern, war zu hören. Und wie Vieles kommt auch diese Idee wohl bald über den großen Teich zu uns. Unser aller Terminator und Ex-Ösi Arni gehört zu den Pionieren die hier mutig Neues wagen. In den USA werden neuerdings kommunale Bibliotheken an private Anbieter übergeben. LSSI (Library Systems and Services) ist eine der Firmen, die dieses Geschäftsfeld erschließen. Ich zitiere aus der FAZ vom 30. September: „Das Unternehmen betreibt bereits 14 Stadtbüchereien mit 63 Zweigstellen, die meisten davon im krisengeschüttelten Bundesstaat Kalifornien, wo Gouverneur Arnold Schwarzenegger gegen die chronische Finanznot kämpft … Jüngst hat es (LSSI) den Auftrag bekommen, drei Büchereien in Santa Clarita (Los Angeles County, 170.000 Einwohner) zu managen. Dort will LSSI-Vorstandchef Frank Pezzanite rund eine Million Dollar jährlich einsparen.“

Über die Buchmesse wird viel gesendet und geschrieben. Lesen Sie einfach was Sie wollen oder lassen Sie es bleiben. Nicht versäumen sollten Sie allerdings den Buchmesse-Blog von Andrea Diener auf faz.net. Das ist auch Tage und Wochen danach noch lesens- und – wegen der photographischen Fähigkeiten der Autorin – auch sehenswert. Sehr interessant und auf bestem Niveau sind zudem zahlreiche Kommentare, die den Berichten jeweils prompt folgen. Allerbeste Diskussionskultur, wie man sie im web nur selten findet.

Sonntag-Abend

Der Kaffee wird kalt. Auf meinem Schreibtisch liegt ein knittriger Gutschein für das „Café der Verlage“, zu finden auf der Frankfurter Buchmesse in Halle 3.1, zwischen Gang L und M. Dafür hätte ich wahlweise einen Espresso oder einen Café Latte bekommen. Eigentlich schade, wenn man die Verpflegungspreise auf der Frankfurter Messe kennt. Aber zu verkraften. Dafür gönne ich mir, wenn ich hiermit fertig bin, einen kräftigen Schluck argentinischen Roten und ein großes Stück reifen Emmentaler.

Herbst MMX: So geht es weiter.

Erreichen eigentlich die Künstler unserer Tage ihre Zeitgenossen noch? Sind sie in der Lage den Blitzlicht-Gewittern, den allgegenwärtigen bewegten, aber kaum noch bewegenden Bildern, den penetranten Verkündern, Verheißern und Verführern aus Wirtschaft, Technik, Politik und Unterhaltungs-Industrie etwas entgegen zu setzen? Gibt es sie überhaupt noch, die Eigenbrödler und Spinner, Narren und Poeten, Neugierigen, Fragenden, Zweifelnden, in ihren Nischen, Ateliers und Dichterstuben? Jene, die Melancholie und Hoffnung beschreiben, Vergangenheit und Einsamkeit besingen, Träume und Utopien malen? Mehr als der Frühling, war deren Jahreszeit immer schon der Herbst.

Der Herbst heute, ist eine schnelle, übervolle, arbeitsreiche und hektische, aber auch spannende, an Eindrücken reiche, Jahreszeit. Für Dichter und andere Künstler dankbar und ergiebig. Dabei nicht stürmend und drängend, aber immer wieder stürmisch und bewegend. Er macht herrlich traurig und kreativ, regt an zu Nachdenklichkeit und tätigem Rückzug.

Emil Nolde: Abendhimmel

Reiche Ernte für Beobachter,  Berichterstatter, Chronisten und in der Folge die Qual der Wahl, was wert erscheint notiert und weitergegeben zu werden. Für dieses Blog sind für die nächsten Wochen und Monate deshalb Sichtung und Auswahl gefragt. Erste Entscheidungen zeichnen sich bereits ab: Es geht zu literarischen Orten in Württemberg, Argentinien, Niedersachsen. Es gibt Neues von Günther Grass, Michael Ebmeyer, Arno Schmidt. Arno Schmidt wird uns dann noch in einer ganz alten Geschichte begegnen, in der auch Hermann Hesse mitspielt. Und an Thomas Mann kommen wir einmal mehr auch nicht vorbei.

Rings, ein Verstummen, ein Entfärben: / Wie sanft den Wald die Lüfte streicheln, / Sein welkes Lauf ihm abzuschmeicheln; / Ich liebe dieses milde Sterben.

So dichtete einst Nikolaus Lenau. Die Wenigsten leben heute noch im Einklang mit dem natürlichen Jahreslauf, dem Rhythmus der Jahreszeiten. Der Herbst 2010 wird sein wie die meisten in den letzten Jahren: Übervoll mit Ereignissen, Neuigkeiten, Aufgeregtheiten, Hektik, Nervosität und Konsum. Man kann das bedauern oder sich kopfschüttelnd abwenden. Man kann auch versuchen, mit gezielter Auslese und genussvoller Beschränkung einen eigenen Weg zu gehen. Durch Herbstgewitter, späte Sonnentage und lichte Nebel. Dabei freue ich mich über alle, die gelegentlich in den kleinen Seitenpfad zu „Literatur*Orte*Spuren“ abbiegen.

Ich packe meinen Koffer …

In mein Reisegepäck kommt der „Literarische Führer Deutschland“ aus dem Insel Verlag. Mit diesem umfangreichen und zuverlässigen Wegweiser folge ich bei Ausflügen und Reisen den Spuren unserer Dichterinnen und Dichter. Er nennt mir die Orte an denen sich Zeugnisse ihres Lebens und ihrer Werke finden lassen.

Das schwergewichtige Paperback überzeugt jeden durch seine gefühlte Vollständigkeit. Man ist sofort sicher, dass da wirklich Alles drin ist. Hier finden wir Geläufiges, wie die allseits bekannten und beliebten Gedenkstätten deutscher Klassik in Weimar (Goethe-Haus, Schiller-Haus usw.), den Hölderlin-Turm in Tübingen oder das Lübecker Buddenbrook-Haus. Aber auch weniger Bekanntes von weniger Berühmten an weniger geläufigen Orten. Erwähnt seien als Appetit-Macher die Dauerausstellung, die Husum dem hier geborenen Theodor Storm widmet – die „graue Stadt am Meer“ kann zudem mit einer Reihe von Schauplätzen aus Storms Werk aufwarten – und das oberschwäbische Wangen, in dem wir überraschenderweise auf ein kleines Zentrum schlesischer Literatur und im örtlichen Museum auf Gedenkräume für Joseph Eichendorff und Gustav Freytag stoßen. Und sollte der Weg uns wirklich einmal nach Luckenwalde führen, so wandeln wir auf Pflastern, die schon der junge Rudi Dutschke mit Füßen trat und entnehmen einer Gedenktafel am Markt, dass einst auch Theodor Fontane einige Tage in der brandenburgischen Kleinstadt verbrachte.

Nicht vergessen seien die Friedhöfe. Sie bieten bei sommerlicher Glut nicht nur dem beschatteten Nachdenken und Verweilen reichlich durchgrünten Raum und erinnern wie nebenbei, doch immer wahrnehmbar, an die Endlichkeit jeglicher Existenz; darüber hinaus beherbergen sie viele und vielfältige Ruhe- und Gedenkstätten einstmals reich beseelter Geister. So wird in dem bereits erwähnten Wangen im Allgäu an die hier verstorbene Frauenrechtlerin und Dichterin Louise Aston erinnert. In der Metropole Berlin – über Jahrhunderte Zentrum für Schriftsteller, Künstler, Intellektuelle aller Art – ist der Dorothenstädtische Friedhof sehr oft von diesen zur letzten Ruhestädte gewählt worden. Hier stehen die Besucher an den Gräbern von Friedrich Hegel, Bertold Brecht und Helene Weigel, Heinrich Mann, Heiner Müller und vielen anderen. Eine wahre Ahnengalerie deutscher Geistesgeschichte. Der Goethe-Wanderweg im etwas beschaulicheren Thüringer-Wald-Städtchen Ilmenau führt schon nach wenigen Schritten an das Grab von Corona Schröter – Sängerin und Schauspielerin unter dem Theaterleiter Goethe in Weimar.

Es hat nach der Wiedervereinigung Deutschlands fast 20 Jahre gedauert, bis von diesem Führer endlich eine gesamtdeutsche Ausgabe erschien. Die Wartburg auf dem Titel weist symbolträchtig darauf hin, und natürlich auf den Sprachschöpfer Martin Luther, der hier mit seiner hochdeutschen Bibelübertragung einen literaturhistorischen Meilenstein schuf. Die erste Ausgabe des vorliegenden Nachschlagewerkes kam im Jahr 1974 heraus, umfasste 658 Seiten und musste sich mit Informationen über die damalige Bundesrepublik Deutschland begnügen; zu spärlich waren die Informations-Möglichkeiten über literarische Spuren und Orte in Thüringen, Sachsen, Anhalt, Brandenburg, Mecklenburg und Vorpommern und zu schwierig bis unmöglich die Reisemöglichkeiten dorthin. Heute, nachdem Alles in einem Druckwerk vereint werden konnte, was der Literaturfreund nie trennen wollte, halten wir dafür einen echten Klotz in der Hand, einen wahren Ziegel, der Koffer und Reisetasche füllig aufwiegt und nunmehr auf 1470 prall informative Seiten angeschwollen ist. Verzichten kann man leichten Sinnes auf ein paar Schuhe oder sonstigen Tand im Gepäck, nicht jedoch auf diesen Leitfaden durch Dichters Lande.

Oberhauser, Fred; Kahrs, Axel: Literarischer Führer Deutschland. – Insel Verlag, 2008. Broschiert. Euro 48.