Mann und Maske

Als ich neulich in pandemiebedingter Abgeschiedenheit einmal mehr an heimischen Regalen auf der Suche nach zeitvertreibendem Lesestoff war, fiel mir die Taschenbuchausgabe des Doktor Schiwago von Boris Pasternak in die Hände. Zum zweiten oder dritten Mal in einem lektürereichen Leben vertiefte ich mich in diesen Roman und war erneut von der epischen Kraft des dicken russischen Erzählwerks hingerissen. 

Dabei musste ich an den kleinen, hoch über Innsbruck gelegenen Wintersportort denken wo ich einst mit Freunden und Freundinnen ein ebenso zünftiges wie sommerliches Wochenende verbringen durfte. Zum beliebten Erzählstoff an weinseligen Abenden in der Gemeinde gehören bis heute die Legenden vom berühmten Schauspieler Omar Sharif der hier gerne zu rasanten Skiabfahrten, ausgedehnten Après-Vergnügungen und galanten Abenteuern mit geneigter einheimischer oder zugereister Weiblichkeit weilte.

Zur Erinnerung. Omar Sharif spielte die männliche Hauptrolle in einer üppigen Verfilmung des Schiwago-Stoffs von 1965. Mit seither unerreichter männlich-chauvinistischer Souveränität bezirzte er Schauspiel-Kollegin Julie Christie, die die ebenso zarte wie schöne Larissa Antipowa, genannt Lara, geben durfte. Kaum der Erwähnung wert, dass das cineastische Großwerk von mehr als drei Stunden Spieldauer, das David Lean publikums- und kassenwirksam inszenierte, nur ein dünner Aufguss des von Pasternak so tief und breit erzählten Dramas darstellt. Die von Maurice Jarre komponierte Musik, und davon insbesondere die Titelmelodie, wurde allerdings so populär, dass sie bis heute in vielen Ohren nachklingt.

Der gute Omar Sharif, weltweit umschwärmter Hauptdarsteller in vielen aufregenden und bis heute gern gesehenen Leinwandhits, ist seit inzwischen fünf Jahren nicht mehr unter uns. Und an den kleinen Skiort in den Tiroler Bergen kann ich neuerdings nur mit den berüchtigten gemischten Gefühlen denken, haben sich doch dieser und ähnliche, die Massen anziehenden alpinen Hochlagen, als bedenkliche epidemiologische Epizentren entpuppt. Eine Omar-Sharif-Maske aus Karton kann übrigens für Euro 4,50 bei Celebrity Cutouts online bestellt werden. Ob sie wesentlich dazu beiträgt ihre Träger vor viralem Sprühregen zu schützen, bzw. dessen Aussendung zu verhindern, ist unklar.

Für immer die Alpen heißt das farbige, ausgesprochen originelle Romandebüt von Benjamin Quaderer. Das Buch, in dem das kleine bergige Fürstentum Liechtenstein eine bedeutende Rolle spielt, beginnt als klassischer Entwicklungsroman mit wendungsreichen, humorvollen Passagen. Aus diesen Anfängen entwickelt sich eine turbulente Geschichte rund um Geldwäsche und Erpressung, um Bankenskandal und Staatskrise. Ein spannendes Zeitpanorama mit aktuellen Bezügen. 

Der Held und Erzähler gerät als böswillig verlassenes Kind auf wundersame Weise und mit Hilfe eines prominenten Gönners in den zweifelhaften Genuss in Barcelona eine Schule besuchen zu können, die eigentlich jenen Eliten vorbehalten ist, die sich durch besondere finanzielle und gesellschaftliche Privilegien für allerhand Sonderbehandlungen erwählt glauben. Johann bleibt mit seinem nicht klassenaffinen Benehmen und der völligen Mittellosigkeit Außenseiter in diesem Milieu, hässliches Entlein unter prächtigen Schwänen. Er wird bald das Weite suchen.

Wie der vernachlässigte Johann mag sich in nächster Zeit mancher Mitbürger und manche Mitbürgerin unseres föderalen, virengeplagten Gemeinwesens vorkommen wenn er Supermärkte und öffentliche Verkehrsmittel frequentiert. Wir haben uns darauf verständigt, den Bürgern das Tragen sogenannter Alltagsmasken in der Öffentlichkeit – beispielsweise im ÖPNV, beim Einkaufen und in den Schulen, dringend zu empfehlen, postulierte der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann in all seiner groß- und landesväterlichen Gutmütigkeit. Dabei übersehend dass solch empfehlendes Ansinnen bei Zeitgenossen mit ausgeprägtem Bedürfnis nach vorauseilendem Gehorsam sehr gerne als gutbürgerliche Verpflichtung verstanden werden kann. 

Nichts stigmatisiert die dann verbleibende maskenlose Minderheit mehr als diese perfide Form von Freiwilligkeit. Nicht jeder und nicht einmal jede in unserer Virologen-Republik kann Stricken, Häkeln oder Nähen und ist damit in der Lage zur Selbsterzeugung von Produkten die Nase und Mund Sprühnebel hemmend umschließen. Nicht jeder und jede verfügt über das akquisitorische Geschick sich die erwünschten Erzeugnisse auf einem leergefegten Markt zu beschaffen. Und nicht jeder Allergiker und Asthmatiker ist bereit auf mühsam genug fallende Atemzüge bei definierten Gelegenheiten zu verzichten. Liebe Kanzlerin, lieber Gesundheitsminister, liebe Ministerpräsidenten und Ministerpräsidentinnen: Schmeißt Alltagsmasken unters Volk bevor ihr das nächste Mal den hüllenlosen Mund zu voll nehmt.

Der Mann mit der eisernen Maske ist der dritte Roman von Alexandre Dumas rund um Die drei Musketiere. Seit 120 Jahren millionenfach aufgelegt und gelesen, bis heute eine schmissige Lektüre. Buch und Verfilmungen gehören in die Mantel-und-Degen-Schublade. Die umkämpften Schauplätze sind im Frankreich des Louis XIV, im 18. Jahrhundert, angesiedelt. Lektüre die über viele phantastische Seiten und Kapitel, zumindest in Gedanken und für Augenblicke, aus verpflichteter oder selbst gewählter Quarantäne befreien kann. Nicht weniger als all die anderen Bücher die man in diesen lesefreundlichen Zeiten neu oder wieder entdeckt.