“Mörikes Schlüsselbein”

Der neue Roman von Olga Martynova

“… diese Geschichte ließe sich unterschiedlich interpretieren, wie jede Geschichte, wie Geschichte überhaupt.”

Sie wisse nicht, worum es in ihrem Buch geht, behauptete die aus Russland stammende Olga Martynova in einem Interview mit dem Bayerischen Fernsehen. So kurz nach dem Schreiben eines Buches könne sie das nie genauer sagen, da habe sie keinen Überblick. Vielleicht “um die Liebe, um die Nächstenliebe”. Und als der Reporter später noch einmal nachfragte, gestand sie: “Eigentlich ist es eine Geschichte der Dichter.”

Allzuhoch stehen Literatur und die Literaturwissenschaften schon seit etlichen Jahren nicht mehr im Kurs; und Publikum, das sich Lyrik und etwas niveauvollere Erzählungen und Romane zumutet, ist auf einen harten Kern geschrumpft. Parallel sind die literaturwissenschaftlichen Fachrichtungen an den Hochschulen seit Jahren auf dem Rückzug. Sie weichen fast widerstandslos dem messbar Nützlichen und Disziplinen, die technologisch und wirtschaftlich Verwertbares produzieren. Dabei gerät in Vergessenheit was Literatur als Kunstform und die Wissenschaft über sie (einschließlich einiger Nachbar-Disziplinen) leisten. Sie können unsere Fähigkeit zu Skepsis, Kritik und vergleichender Deutung schulen, und dazu beitragen die Interpretierbarkeit sicher geglaubter Wahrheiten und deren erfahrungsgemäß zeitlich begrenzte Gültigkeit zu erkennen.

In den Romanen von Olga Martynova geht es fast ausschließlich um Literatur, die Arbeit daran, damit und darüber. Nahezu alle handelnden Figuren haben in irgendeiner Form mit Literatur zu tun. Sie sind Autoren, Übersetzer, Wissenschaftler und Schriftsteller. Und: Sie alle wissen um die Existenz einer Schnittmenge von Dichtung und Wahrheit.

Das Personal von “Mörikes Schlüsselbein” besteht im Kern aus einer kunstvoll konstruierten Patchwork-Familie. Zu dieser gehören der deutsche Hochschullehrer Andreas Berg und seine erste große Liebe von vor über zwanzig Jahren, die damals sehr junge, in einem literarischen Umfeld lebende und lernende Russin Marina. Wir kennen das Paar bereits aus Martynovas erstem Roman “Sogar Papageien überleben uns”. Die beiden fanden damals jedoch nicht dauerhaft zueinander. Andreas heiratete vielmehr irgendwann Sabine, mit der er die Kinder Moritz und Franziska bekam. Sabine ist inzwischen wieder Ex. Und während der alternde Wissenschaftler noch mit der Studentin Laura kuschelt, findet bereits eine zaghafte Wieder-Annäherung an Marina statt. Moritz und Franziska, Vertreter einer neuen herangewachsenen Generation, erleben die Leser in diesem Buch auf der Suche nach ihren eigenen Wegen und Lebensentwürfen. Die Geschichte der wechselnden familiären Konstellationen geben dem Roman so etwas wie eine Rahmenhandlung. Schauplätze der Geschehnisse sind in den USA, Russland und Deutschland.

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Hölderlins Tübingen

Der ebenfalls dem Leser bereits aus dem ersten Buch vertraute Lyriker Fjodor fällt diesmal alsbald seinem extremen Alkohol-Konsum zum Opfer; durch die zeitversetzte Erzählweise verschwindet er jedoch nie ganz aus der Geschichte. Moritz, der erste literarische Gehversuche unternimmt, hat die Autorin zwei besonders virtuose, anspielungsreiche Passagen zugeschrieben. Einmal als er während eines Tübingen-Besuchs über Hölderlins “Hälfte des Lebens” assoziiert: “Getrunkene Schwäne, klar im Neckar gespiegelt, auch die Stauden, doch kannst du dir nie das Wasser zusammen mit dem schöpfen, was du so deutlich siehst, keinen Schwan trinken, keinen sich küssenden Schwan trinken. Untrinkbare Schwäne.” (Es gibt noch weitere Variationen. Das klingt ein bisschen wie Jazz über ein klassisches Thema, in Sprache.) Und im Kapitel “Ich werde sagen ‘Hi’”, in dem sich Moritz in eine gleichaltrige Eisverkäuferin verliebt, die jedoch schneller wieder aus seinem Blickfeld verschwindet, als er sich ihr erklären kann. Diesen Text las Olga Martynova im letzten Sommer in Klagenfurt vor und gewann damit ebenso prompt wie überraschend den Ingeborg-Bachmann-Preis.

Zu den für Olga Martynova wichtigsten Abschnitten der russischen Literaturgeschichte gehört die Zeit der “Oberiuten” um Daniil Charms und Alexander Wwedenski (ein Motto, das dem Roman voransteht, stammt von ihm), die in der Sowjetunion der 1920er und 1930er Jahren provokative moderne Dichtung schufen, die nur im Untergrund gelesen und verbreitet werden konnte. Sie wurden traurige Opfer einer Diktatur, die glaubte Dichtung und Dichter bekämpfen zu müssen. Erst mit Einsetzen der Perestrojka wurden sie – lange nach ihrem Tod – gedruckt und auch im Westen bekannt. (*) Von den Epochen der deutschen Literatur fasziniert Martynova besonders die Romantik. “Romantik ist der Ursprung der klassischen Moderne”, sagt sie, und setzt sich an ihrem Wohnort Frankfurt am Main für ein Romantik-Museum ein.

Geboren wurde Olga Martynova in einem anderen, fernen Kosmos, dem sibirischen Krasnojarsk; sie wuchs in Leningrad auf, studierte russische Sprache und Literatur. Mit ihrem Mann Oleg Jurjew – einem Lyriker und Übersetzer – kam sie einst im Rahmen von Studienaufenthalten nach Deutschland und blieb bis heute. Ihre Prosawerke schreibt sie inzwischen in deutscher Sprache, wobei ihre Metaphernsicherheit und der enorme Wortschatz beeindrucken. “Aus der Herde von Wörtern muss man die richtigen heraussuchen,” erläutert sie ihre Arbeitsweise. “Sehnsucht” gehört zu den Lieblingswörtern, auch weil es keine exakte Entsprechung für diesen Gefühlsausdruck in anderen Sprachen gibt. “Sehnsucht ist das deutscheste, aller deutschen Wörter…” Schreiben kann die Schriftstellerin überall; am liebsten sitzt sie mit ihrem Laptop im Zug.

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Olga Martynova auf der Leipziger Buchmesse 2013

“Mörikes Schlüsselbein” ist in wechselnden, sich teilweise überschneidenden Zeitebenen erzählt. Das Werk besteht aus einer Vielzahl einzelner Geschichten, die, wie die Hauptfiguren, eng miteinander verbunden sind. In vielen dieser Geschichten öffnen sich immer wieder Türen zu Nebenräumen mit neuen Geschichten. Manchmal wird nur ein kurzer Einblick gewährt, ein anderes Mal wird der Leser mitgenommen auf einen Gang durch weite Erzählräume. Realität, Fiktion, Traum und Trauma gehen ineinander über. Wie in der Figur des Schamanen, der einer Gruppe von Menschen angehört, die sich von der übrigen, uns vertrauten Welt, abgesetzt hat. Doch die Ratschläge und Weisheiten, die er verbreitet, klingen wie geschaffen für unseren durchhetzten, informationsüberfluteten und konsumfixierten Alltag des frühen 21. Jahrhunderts. Statt zu leben als wäre es der letzte Tag im Leben, und dabei immer Angst haben zu müssen, etwas zu verpassen, rät der Steppen-Weise zur Gelassenheit und einer Haltung als würde man ewig leben.

Olga Martynova hat ein Buch über Dichter und Dichtung geschrieben. Voller skurriler, phantasievoller Einfälle und Abschweifungen, aber auch mit zahlreichen Passagen, die nüchtern die Realitäten des Hier und Heute zur Vorlage haben. Es ist spannend und sehr anregend zu lesen, nicht zuletzt durch die vielen Verweise auf einzelne Dichter und verschiedene Literaturepochen. Das ist sozusagen der Subtext, dieses ungewöhnlichen Romans. Solche Bücher zu verlegen, dafür darf man dem Grazer Verlag Droschl dankbar sein, der zu den wenigen Häusern gehört, die noch den Mut haben, das Unseichte, Werke, die für den Lesegenuss etwas geistigen Aufwand und Leseerfahrung erfordern, mit großer Selbstverständlichkeit neben die vielen Beliebigkeiten des aktuellen Buchmarktes zu stellen.

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(*) Unter dem Titel “Das Leben hat über den Tod gesiegt, auf eine mir unbekannte Weise” hat Olga Martynova einen längeren Artikel über die Oberiuten geschrieben, der zuerst in der “Neuen Zürcher Zeitung” vom 17. Februar 2007 erschienen, aber auch in einem sehr empfehlenswerten Essayband von 2011 enthalten ist, zusammen mit anderen Arbeiten von ihr und ihrem Mann Oleg Jurjew. In ihrem jüngsten Gedichtband hat Olga Martynova zudem Alexander Wwedenski einen längeren Zyklus gewidmet.

Im Prozess gegen drei Mitglieder der Pop- und Protestgruppe Pussy Riot wurde von diesen auf den Kreis der Oberiuten verwiesen. Die jungen Frauen bezogen sich in ihren Stellungnahmen vor Gericht immer wieder auf Strömungen und Persönlichkeiten der russischen Literaturgeschichte. Womit sie deutlich machen konnten, dass ihre Aktion keineswegs nur eine naive Spontanreaktion war, sondern dass sie sich in der Tradition einer langen Kette subversiver Protestformen Kulturschaffender sehen. Ein Hintergrund, über den in den meisten deutschen Massenmedien nicht berichtet wurde. Eine kleine Ausnahme bildete ein Beitrag im Deutschlandradio Kultur vom August 2012, mit dem ermutigenden Titel: “Pussy Riot erteilen Richtern eine Kunst-Lektion”. Ein kleines Beispiel dafür, dass Literatur und die persönliche, diskursorische und wissenschaftliche Beschäftigung damit, manchmal eben doch ihre bescheidene gesellschaftspolitische Wirkung entfalten kann.

Martynova, Olga: Mörikes Schlüsselbein. Roman. – Literaturverlag Droschl, 2013

Martynona, Olga: Sogar Papageien überleben uns. Roman. – Literaturverlag Droschl, 2010

Martynova, Olga; Jurjew, Oleg: Zwischen den Tischen. Olga Martynova und Oleg Jurjew im essayistischen Dialog. – Bernstein-Verlag, 2011

Martynova, Olga: Von Tschwirik und Tschwirka. Gedichte. – Literaturverlag Droschl, 2012