Literarischer Rastplatz: Die Hesse-Bank in Neu-Ulm

Wie Blüten gehn Gedanken auf, / Hundert an jedem Tag – / Laß blühen! laß dem Ding den Lauf! / Frag nicht nach dem Ertrag. (*)

Im Neu-Ulmer Glacis steht jetzt eine Hesse-Bank. 

Das Glacis ist ursprünglich eine Wehranlage, geplant und gedacht, die Stadt vor feindlichen Eindringlingen zu bewahren. Der Erdwall des Neu-Ulmer Glacis wird von einer dicken hohen Mauer getragen, die einst Teil einer Bundesfestung war. Erbaut wurde das Ensemble Mitte des 19. Jahrhunderts, und als es im 20. Jahrhundert ernst wurde mit den kriegerischen Auseinandersetzungen, stand sie wehr- und nutzlos im Weg, der modernen Vernichtungsmaschinerie hatte sie nichts entgegenzusetzen. Große Teile des Mauerwerks blieben erhalten und stehen bis heute.

Das Vorfeld der Anlage besteht aus einer mäßig breiten, jedoch kilometerlangen Grünanlage, sowie vielfältigem, teils sehr altem Baumbestand. Im Lauf der Jahrzehnte entwickelte sich das Gebiet zu einem Stadtpark am südlichen Rand der Neu-Ulmer Kernstadt. 1980 wurde der westliche Teil im Zuge einer bayerischen Landesgartenschau zum attraktiven Naherholungsgebiet aufgewertet. Auf gepflegten Wegen kann man bei entspannten Spaziergängen die Gedanken schweifen lassen, die Kinder vergnügen sich auf großen Spielplätzen oder mit Wasserspielen. In sommerlichen, hoffentlich bald wieder pandemiefreien Monaten, bietet die Freilichtbühne buntes Programm und ein großer Biergarten lädt ein.

Alle paar Meter gibt es Bänke zum Verweilen. Eine davon ist die Hesse-Bank. Sie steht unter den ausladenden Ästen eines Baumgreises an seichtbrackigem Gewässer etwa in der Mitte des Parks. Die Rückenlehne der Hesse-Bank besteht aus einer Plexiglas geschützten Tafel, die zur Sitzfläche hin Zitate und Gedichte von Hermann Hesse präsentiert.

Nicht alle Passanten interessieren sich dafür. Andere bleiben stehen, lesen, sinnieren, nehmen dann für kurz oder etwas länger Platz, genießen das Grün rundum und lassen sich die Zeilen des Dichters durch den Kopf gehen. Manchmal wird vielleicht etwas hängenbleiben vom Gelesenen, mitgenommen werden auf den Weg, sich im Kopf festsetzen wie ein Ohrwurm: 

Daß du bei mir magst weilen, / Wo doch mein Leben dunkel ist / Und draußen Sterne eilen / Und alles voll Gefunkel ist … Die erste Strophe des Gedichts Für Ninon, Hesses dritter Ehefrau und wichtigem Lebensmenschen in der zweiten Lebenshälfte.

Regen ist ein anderes Gedicht überschrieben, das Lebenseinsicht transportiert und mit Naturbetrachtung beginnt: Lauer Regen, Sommerregen / Rauscht von Büschen, rauscht von Bäumen. / O wie gut und voller Segen, / Einmal wieder satt zu träumen!

Und Hesses Aphorismen können durchaus Anlass zu intensiver Selbsterforschung sein: Nichts auf der Welt ist dem Menschen mehr zuwider, als den Weg zu gehen, der ihn zu sich selber führt!

Hermann Hesse war oft in Ulm zu Besuch. Vielleicht hat ihn auch einmal ein Spaziergang nach Neu-Ulm geführt. Er hatte auf jeden Fall Verbindungen in die Stadt. Sein „japanischer Vetter“, der Japanologe Wilhelm Gundert (1880 – 1971), verbrachte die letzten 15 Lebensjahre in der Neu-Ulmer Schießhausallee. Zwischen Hermann und Wilhelm gab es einen regen Briefwechsel. Das Ehepaar Gundert war zu Besuch bei Hesses im Tessiner Montagnola und Ninon war nach dem Tod ihres Mannes zu Gast in Neu-Ulm. Brieflichen Kontakt hatte Hermann Hesse auch zu der zweiten Tochter Eduard Mörikes. Fanny war mit dem Uhrmacher Georg Hildebrand verheiratet; das Paar wohnte zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Neu-Ulmer Blumenstraße.

Es ist eine großartige Idee, eine Parkbank einer Dichterin, einem Dichter zu widmen. In Neu-Ulm muss es ja nicht bei dieser einen bleiben. Ein Weg der Poesie durch das Glacis ist eine schöne Vorstellung.

(*) Die zitierten Verse sind aus dem Gedicht Voll Blüten

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Hesse, Hermann: Ausgewählte Werke. Sechster Band. – Frankfurt am Main, 1994

Haag, Jan; Köhler, Bernd Michael: Seien Sie gegrüßt, liebe Freunde in Ulm. Hermann Hesse und die schwäbische Donaustadt. – Ulm, 2018

Hermann Hesse und Ulm. Das Buch

Bis heute hat der aus dem lauschig-engen Calw stammende Dichter Hermann Hesse (1877 – 1962) ein großes Leserpublikum in Deutschland und der Welt. Er wurde und wird darüber hinaus als unangepasste Persönlichkeit, als Pazifist und Gegner des Naziregimes geschätzt. Nicht zuletzt links und rechts der Donau.

Die Stadt Ulm zählt inzwischen um die 120.000 Einwohner. Mit der bayerischen Nachbarstadt Neu-Ulm sind es nahezu 180.000. Viele Menschen lieben diese Städte, leben gerne hier, kommen als Touristen oder finden einen attraktiven Arbeitsplatz und bleiben auf Dauer.

Dass Hermann Hesse eine ganz besondere Beziehung zu Ulm (und zu Neu-Ulm) hatte, entdeckten die beiden Bibliothekare Jan Haag und Bernd Michael Köhler. Als sie der Sache intensiver nachgingen stießen sie auf bibliographische und archivarische Quellen die belegen, dass dieses Verhältnis Hesses zu Ulm, Neu-Ulm (und Blaubeuren!), zu Freunden und Bekannten in der Region, sehr viel weitreichender und vielfältiger war als es die bisher bekannten biographischen Publikationen wiedergeben. Ihre Recherche-Ergebnisse und die daraus resultierenden Erkenntnisse haben sie in einem kleinen Buch zusammengefasst, das bereits im letzten Herbst erschienen ist. 

“Seien Sie gegrüßt, liebe Freunde in Ulm. Hermann Hesse und die schwäbische Donaustadt”, stieß auf breites Interesse in Ulm und Umgebung, sowie darüber hinaus bei vielen die sich für diesen Schriftsteller und regionale Bezüge in der deutschen Literaturgeschichte interessieren. Die neuen Quellen, die die beiden Autoren entdeckten und auswerten konnten, fanden große Beachtung in der einschlägigen Hesseforschung. Der ausführliche bibliographische Anhang des Buches dokumentiert die gesamten ausgewerteten Quellen. Ein kleines, feines Weihnachtsgeschenk oder eine originelle Aufmerksamkeit zwischendurch für Literatur- oder Ulmfreunde. 

Kaufen Sie auf jeden Fall vor Ort in ihren lokalen Buchhandlungen. In Zeiten von lock downs können sie das bei den meisten online erledigen. Die entsprechenden Plattformen sind im Netz unschwer zu finden. Viele Buchhandlungen bieten daneben telefonische und E-Mail-Bestellungen an und haben Lieferdienste eingerichtet. 

Schwäbischen Geldbeuteln, die sich nur schwer öffnen, sei an dieser Stelle verraten: Das Buch ist in den Stadtbibliotheken Ulm und Neu-Ulm vorhanden und kann dort unter Beachtung der geltenden Regularien entliehen werden.

Haag, Jan; Köhler, Bernd Michael: “Seien Sie gegrüßt liebe Freunde in Ulm”. Hermann Hesse und die schwäbische Donaustadt. Klemm+Oelschläger, 2018. Gebunden, 114 Seiten, Euro 12,80 ISBN 978-3-86281-132-8

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Eine Besprechung des Buches in der Ulmer Südwest Presse ist hier zu finden.

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Kurze Einblicke in den Text:

In seinem selbstironischen Reisebericht Die Nürnberger Reise berichtet Hermann Hesse von einer Lesung in Ulm im Jahr 1925. Haag/Köhler schildern wie es danach weiter ging:

“Nach der Lesung saß man bei der Familie von Lydie und Eugen Link in der Neutorstraße 7 mit dem Museumsleiter und einigen wenigen anderen beim Wein zusammen. Gut vorstellbar, dass noch ein Eugen dabei war. Eugen Zeller, der zudem ganz in der Nähe, in der Bessererstraße 9, wohnte. Eine solche vertraute und überschaubare Runde hatte Hesse frühzeitig in der für ihn typischen Weise eingefordert, wie einem Brief an Eugen Link vom 18. Oktober 1925 zu entnehmen ist: Den auftauchenden Vorschlag zu einem Bankett oder einem Zusammensitzen eines größeren Kreises nach dem Vortrag bitte ich unbedingt abzulehnen. Sonst riskieren Sie, daß Sie mich morgen in Ihrem Gastzimmer erhängt finden.

Vier Jahre später las der eigenwillige Hesse wieder in Ulm:

“Nach der Lesung 1925 im Museum mit seinem verhältnismäßig kleinen Veranstaltungsraum war der Wunsch entstanden, den Dichter erneut in Ulm zu erleben. Diesmal hatte man den deutlich größeren Saal angemietet, um den zu erwartenden Ansturm zu bewältigen. Dennoch musste erneut eine erhebliche Zahl Interessierter wieder nach Hause geschickt werden. Der übervolle Saal wurde als ein sprechender Beweis für das aufsteigende, kulturelle Interesse der Ulmer interpretiert. Auch Jacques Offenbachs Schöne Helena, die zur gleichen Zeit im städtischen Theater ihre Reize spielen ließ, konnte den Ansturm auf die Vorlesung literarischer Werke nicht mindern.”

Über Hesses eigene literarische Vorlieben ist unter anderem zu erfahren:

“Was Hermann Hesse und Eugen Zeller teilten, war ihre Leidenschaft für den Landsmann, unfreiwilligen Landpfarrer und Dichter aus Berufung, Eduard Mörike (1804 – 1875). Der Ulmer Lehrer (Zeller, J. H.) sammelte Bücher und Gegenstände aus dessen Nachlass. Hesse war sehr an diesen Devotionalien interessiert und wandte sich mit einer entsprechenden Bitte an den Freund. Ihrem Wunsche ein Mörike-Original zu besitzen, bin ich gerne zur Verfügung, war die Antwort. … Doch von den eigenen Schätzen gedachte er nichts abzugeben. Zeller vermittelte den Kontakt zu Fanny, der zweiten Tochter Mörikes, die zeitweise mit ihrem Mann in Neu-Ulm … “

 

An der Donau ist Literaturwoche!

Zehn Tage Leidenschaft für Literatur, besondere Bücher aus unabhängigen Verlagen, ergänzt um feine musikalische Anreicherungen. Vom 20. bis zum 29. April dauert die diesjährige Literaturwoche Donau. Der Verein Literatursalon Donau e. V. und zahlreiche Partner und Unterstützer laden ein.

Freunde schöner Poesie und Poetik, großer Erzählungen und überraschender Texte sollten vorschlafen und sich die Abende und Wochenenden freihalten für das ambitionierte und breit gefächerte Programm. 

Am Freitag 20. April findet bei freiem Eintritt die Eröffnungsveranstaltung im Haus der Museumsgesellschaft Ulm in der Neuen Straße statt. Mit Hernan Ronsino ist gleich eine der wichtigsten Stimmen der argentinischen Literatur zu Gast. Er hat den Übersetzer Luis Ruby und seinen deutschen Verleger Ricco Bilger mitgebracht. Für die musikalischen Akzente des Abends sorgt das Silber Quartett.

Zwei markante Veranstaltungsorte im Rahmen der Literaturwoche Donau 2018: Ulmer Münster und das Haus der Museumsgesellschaft

Was bieten die folgenden Tage?

Um nur einige Höhepunkte zu nennen: Jonas Lüscher stellt seinen Roman über das Streben und Scheitern des Rhetorikprofessors Kraft vor. Iris Wolff liest aus dem vielbesprochenen und hochgelobten, aus vier zusammenhängenden Erzählungen bestehenden Roman So tun als ob es regnet (bei dem Titel handelt es sich um eine rumänische Redensart). Bei Anna Baars Als ob sie träumend gingen begegnen wir einer kroatisch-österreichischen Autorin, die ebenso sprachmächtig wie anrührend von Liebe in Zeiten des Krieges erzählt. Der Schweizer Thomas Meyer besticht mit feinem Humor und Hintersinn. Sein aktuelles Buch Trennt euch! ist konsequenterweise eine überraschende Liebeserklärung an die Beziehung zwischen zwei Menschen.

Ein Tag ohne Bier ist wie ein Tag ohne Wein behauptet Thomas Kapielski. Um das zu überprüfen wird am Schlusssontag zu einer Frühschoppenlesung ins Ulmer Künstlerhaus geladen. Es empfiehlt sich jedoch Zurückhaltung beim Genuss geistiger Getränke, denn am Abend kann man zusammen mit Sudabeh Mohafez den Münsterturm besteigen. In schwindelnder Höhe wird sie ihren Stadtschreibertext vorstellen, der für diese Literaturwoche entstanden ist.

Künstlerhaus und Münsterturm sind nur zwei der wunderbaren Lokalitäten die Florian Arnold und Rasmus Schöll, die beiden Hauptmacher der Veranstaltungsreihe, dem Publikum erschließen konnten. Gespannt sein darf man nicht zuletzt auf die Botschaft internationale Stadt im Herzen Ulms auf dem Hans-und-Sophie-Scholl-Platz. Im bayerischen Nachbarn Neu-Ulm geht es zum Wiley-Kiosk, ins frisch renovierte Edwin-Scharff-Museum und das beliebte Café d’Art.

Im Rahmen der diesjährigen Literaturwoche Donau findet schließlich und zum guten Schluss noch die Erste Ulmer Buchmesse der unabhängigen Verlage statt. Am Sonntag, 29. April im renommierten Museum Villa Rot in Burgrieden (der Ort liegt etwa 20 Kilometer südlich der Donau-Doppelstadt) und bereits einen Tag zuvor, dem Samstag, in den Räumen der Museumsgesellschaft Ulm. 19 Verlage aus ganz Deutschland – aus Ulm sind danubebooks und Topalian & Milani vertreten – präsentieren ein breites Spektrum schöner Bücher, exquisiter Gestaltung und hochwertiger Literatur. Der Eintritt ist frei.

In den Städten Ulm und Neu-Ulm hängen bereits flächendeckend die von Joachim Brandenburg großartig gestalteten Einladungs-Plakate aus. Hinsehen lohnt sich. Das vollständige Programm (das natürlich viel mehr bietet als die hier aufgeführten Appetithappen) mit genauen Angaben zu Orten, Zeiten und Preisen findet man überall dort wo Kultur stattfindet, ganz sicher aber in den beiden Stadtbibliotheken und der Buchhandlung Aegis.

Infos im Netz gibt es hier:

http://literatursalon.net/literaturwoche-donau-2018/

 

Urbi et Libri

StadtLesen kommt nach Neu-Ulm

„In der Stadt lebt man zu seiner Unterhaltung, auf dem Lande zur Unterhaltung der anderen.“
(Oscar Wilde)

Ich bin ja gern in Metropolen unterwegs. Einen Tag oder mehrere in München oder Leipzig, Wien, Berlin oder Zürich, notfalls sogar Stuttgart, bringen immer Gewinn, Anregung, Aufregung, Kunst-, Musik- und Literatur-Erlebnisse. Man kann lange davon zehren. Aber im Grunde meines Herzens bin ich ein Kleinstädter, komme aus einer, habe lange in diesen überschaubaren Biotopen gelebt. Und es zieht mich immer wieder hin.

Neulich hatte ich wieder einen meiner Westallgäu-Tage. Das ist so eine kleine Kurz-Kur; der Erholungsbedarf nimmt schließlich von Lebensjahr zu Lebensjahr zu. Der Himmel war blau, die Luft frisch, es wurde flächendeckend geheut (= Gras gemäht); Gras und Kräuter setzten die herrlichsten Aromen und Aerosole frei. Wie fast jedesmal landete ich auch diesmal in einer jener malerisch heimeligen Kleinstädte der Region. Ich saß, ich laß, ich aß (kleine Demo warum wir das “ß” noch brauchen!) und zwischendurch ging ich ein wenig. Er-ging mich zwischen duftenden Wiesen, an Waldränder entlang, bergauf und bergab. Zwischendurch wurde der Blick frei auf die Alpenkette; an Nordhängen und in Mulden der Hochtäler lag noch reichlich Schnee. Der Weg führte schließlich wieder zurück ins Städtchen. StadtLesen auf der Parkbank, im Cafè oder Biergarten. Unter Linden, blühenden Kastanien, wuchtigen Buchen. Mein ganz persönliches StadtLesen.

StadtLesen gibt es seit einigen Jahren auch im großen Stil. Als Kampagne. Dieses StadtLesen ist eine Aktions- und Veranstaltungsreihe die das Thema Lesen in eine breite Öffentlichkeit tragen möchte – ohne Verpflichtung, ohne Hemmschwellen. Konzipiert und realisiert wird das Ganze von der Innovationswerkstatt Sebastian Mettler in Salzburg. Unterstützt und finanziert von Partnern und Sponsoren aus Wirtschaft, Kultur und Medien. Die wohl unvermeidliche Schirmherrschaft haben die UNESCO- Kommissionen Österreichs und Deutschlands übernommen. In ausgewählten StadtLesestädten wird auf einem von der jeweiligen Stadt zur Verfügung gestellten Platz zu freiem Lesegenuss unter freiem Himmel eingeladen. Höhepunkte sind Lesungen bekannter Autorinnen und Autoren, die aus populären Werken lesen. Nach den ersten Jahren in Österreich, gibt es StadtLesen inzwischen auch in Deutschland, der Schweiz und Italien.

Jedes Jahr wird eine begrenzte Anzahl LeseStädte ausgewählt. 2011 waren das u. a. Ludwigshafen, München und Landshut, Innsbruck, Graz und Eisenstadt. Diesmal sind aus Deutschland z. B. Fürth und Berlin, Zwickau und Chemitz, Saarbrücken und Ingelheim dabei.

Und zum ersten Mal macht heuer der Tross auch in unserer Region halt. Vom 5. bis 8. Juli heißt dann die LeseStadt Neu-Ulm. Ab neun Uhr morgens, bis zum Einbruch der Dunkelheit, kann man auf dem Rathausplatz in über 3000 Büchern schmökern. Am 6. Juli findet ein Integrationslesetag statt, an dem Bürgerinnen und Bürger mit Migrationshintergrund dazu eingeladen sind, in ihrer Muttersprache selbst verfasste Texte zu präsentieren. Und gleich am ersten Abend um 20 Uhr liest der bekannte Krimi-Autor und ehemalige Ulmer Gerichts-Reporter Ulrich Ritzel aus “Schlangenkopf”, seinem neuesten Buch rund um den ehemaligen Polizeibeamten Hans Berndorf.

Rathaus-Platz Neu-Ulm mit Brunnen und Skulptur „Drei Männer im Boot“ des in Neu-Ulm geborenen Bildhauers Edwin Scharff (1887 – 1955).

Welche Bedeutung dem Ereignis auf lokaler Ebene zukommt, lässt uns das Grußwort von Gerold Noerenberg, seines Zeichens Lese-Biest und Oberbürgermeister von Neu-Ulm, erahnen:
„Bücher bergen Wissen, Geschichten und Schicksale. Sie lehren von der Natur, von der Wissenschaft oder vom Leben und erzählen spannende, phantastische oder traurige Geschichten. Lesen heißt: Aussteigen aus dem Alltag, aufsaugen von Wissen oder abwandern in andere Welten. In einen besonderen Erlebnisraum des Lesens können Sie im „Lesewohnzimmer“ der Aktion StadtLesen auf dem Neu-Ulmer Rathausplatz eintreten. Genießen Sie und bleiben Sie ein Weilchen. Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen.“

Lesefestivals in vielen großen und kleinen Städten: Leipzig, Köln, Hamburg, in Literaturhäusern, auf Burg Ranis, sogar in Schaffhausen. Leseförderung flächendeckend in Kindergärten, Schulen, Vereinen, Bibliotheken, demnächst vermutlich auch in Altenheimen. Der “Welttag des Buches” im April. “Treffpunkt Bibliothek” im Oktober. Jetzt also auch noch “Stadtlesen”. Glaubt wirklich jemand, dass sich mit all diesem Aktionismus, all dem Gutgemeinten, die Zahl der Lesefähigen und Lesewilligen signikant erhöhen, die Zahl der Leseverweigerer deutlich verringern lässt? Ich melde vorsichtshalber Skepsis an. Letztlich ist es immer ein individueller Schritt. Lesen erfordert Antrieb, Lust, Fähigkeiten und setzt ein Verlangen nach dem voraus was Lesen geben kann: Genussvolle Unterhaltung, Wissen, Bildung, Kritikfähigkeit, Lust am Vertiefen und Studieren, vielleicht sogar den Anstoß zu eigenem Schreiben.

Der Klick zu StadtLesen.

Johannes Schweikles “Fallwind”

Ein Roman über die Ereignisse rund um den skandalösen 31. Mai 1811 in Ulm

Was wird nicht Alles gefeiert? Große Töchter und Söhne, Männer und Frauen einer Stadt oder des Erdkreises. Die Jungfernfahrt eines Kreuzfahrtschiffes. Der Erstflug einer neuen Großraum-Maschine. Jubiläen allerorten, runde und eckige. In der kleinen bayerischen, etwas unscheinbaren Gemeinde Neu-Ulm, wurde vor Kurzem krachend deftig und bierschäumend, das 200-jährige Bestehen begangen. Nebenan hingegen – oder besser gegenüber – auf württembergischer Seite, in der auf fünf Hügeln gelegenen Donau- und Universitätsstadt Ulm, feiert man ein ganzes Jahr lang nichts weniger als einen Absturz.

Es war am 31. Mai 1811. Nach langen Vorarbeiten, gründlicher Planung, zahlreichen Testflügen auf einem dieser Ulmer Hügel, wurde es für den Schneidermeister Albrecht Ludwig Berblinger ernst. Man drängte ihn, nachdem der König von Württemberg schon wieder abgereist, sein Bruder, Herzog Heinrich, jedoch noch in der Stadt war und weil er es selbst so in Aussicht gestellt hatte, „seinen ersten öffentlichen Versuch mit seiner Flugmaschine, wenn die Witterung günstig ist“, zu unternehmen. Doch über der kalten Donau gab es keine warmen Aufwinde, wie bei den Probeflüge am Michelsberg, sondern nur tückischen Fallwind. Als er beim Absprung von der Adlerbastei zögerte, wurde nachgeholfen und er fiel fast senkrecht in die Donau. Fischer zogen ihn in einen Kahn, die Bürger lohnten mit Spott, das Leben des bis dahin erfolgreichen Handwerkers lief aus der Bahn.

Längst ist aus den Ereignissen Geschichte geworden und aus dem Schicksal des armen Berblinger ergiebiger und spannender Erzählstoff. Schon vor hundert Jahren gab dieser dem Landwirt und Schriftsteller Max Eyth Gelegenheit ein Tausend-Seiten-Werk zu verfassen, Bert Brecht hat darüber gedichtet, vor drei Jahrzehnten der inzwischen berühmte Edgar Reitz den Stoff zum Film verdichtet, ein Musical für junge Darsteller und Sänger wird immer wieder gerne aufgeführt. Und die jüngste künstlerisch gestaltete Interpretation der Ereignisse vor zweihundert Jahren ist ein kurzweilig lesenswertes Buch das dieses Frühjahr bei Klöpfer und Meyer erschienen ist. Geschrieben hat es Johannes Schweikle, ein erfahrener Journalist der ansonsten Essays und Berichte aus fernen Ländern für ZEIT, GEO und Merian abliefert.

Schweikle macht den Leser gründlich mit dem zeitgeschichtlichen Hintergrund vertraut und schildert eindrucksvoll die Alltagswelt einer Stadt im frühen 19. Jahrhundert mit ihren Regeln und Standesunterschieden, den Tagesabläufen der Menschen, aber auch all dem Dreck, Unrat, der mangelnden Hygiene und den vielen Stunden Dunkelheit in den schmalen Straßen und engen Gassen. Er schreibt flott, kurzweilig, streckenweise im Stil von Reportagen, der die weit zurückliegenden Ereignisse für einige Lese-Momente wie gegenwärtig erscheinen lässt.

Über Albrechts Vorhaben erfahren wir aus verschiedenen Perspektiven. Der Autor läßt zunächst die etwas genervte Ehefrau Anna Berblinger zu Wort kommen. Sie weiß zwar von den gelungenen Flugversuchen ist aber nicht einverstanden mit dem Treiben ihres Gatten: “Weil ich einen Mann will. Und keinen komischen Vogel.” Außerdem ist sie eifersüchtig, unterstellt dem Herrn und Schneidermeister, dass er Anproben bei Damen der Gesellschaft zu mehr nutzt als dem erlaubten Maßnehmen.

Der Schneider selbst war sich seiner Sache zunächst ja sehr sicher. Am Michelsberg war alles gut gegangen: “Nach ein paar Schritten habe ich den Wind gespürt … Mein erster Flug ging über zwei Apfelbäume. Schwebend überwindet die Luftfahrt alle Hindernisse.” Vom gescheiterten Versuch lässt Johannes Schweikle den Bürger Martin Baldinger in seinem Tagebuch berichten: “Eine stumme Fassungslosigkeit legte sich über alles Volk. Niemand wusste diesen Fall zu deuten. Die Hoffnung auf das Neue war dahin.” Schließlich kommt noch der Augenzeuge Jacques Schwenk zu Wort. Er gehört zu den Schadenfreudigen, von denen es nach dem Scheitern viele gab: “Der Schneider hat sich mit Haut  und Haar blamiert. Warum ist er nicht bei seiner Elle geblieben.”

Wenn uns Geschichte und Scheitern des Albrecht Ludwig Berblinger etwas lehren, dann nicht zuletzt die Tatsache, dass, wären Frauen und Männer ihm nachfolgender Generationen bei ihren “Ellen” geblieben, zumindest der schwäbische Teil der Menschheit heute noch in den Höhlen des nahe Ulm gelegenen Lonetals leben würde. Ohne Utopien, ohne Visionäre, die in Kauf nehmen zu Außenseitern gestempelt zu werden, ist nunmal kein Fortschritt denkbar. Johannes Schweikle plädiert deshalb in seinem Buch für einen Verkannten. Auch stellvertretend für viele andere Tüftler, Originale, Schrate, die es nicht in Romane oder Geschichtsbücher geschafft haben. Die nicht zur  Legende werden durften.

“Diese Geschichte balanciert zwischen der Realität des Historikers und der Wahrheit des Erzählers”, schreibt Schweikle in seinen Nachbemerkungen. Man kann das Buch deshalb – und je weiter entfernt von Ulm darin gelesen wird, um so leichter – auch als belletristische Lektüre mit einigem Anspruch verstehen. Man muss daraus nicht unbedingt lernen, darf sich vielmehr einfach nur gut unterhalten lassen. Der Schneider von Ulm, der Albrecht Ludwig Berblinger, hat von all den Feierlichkeiten und viel zu späten Anerkennungen ohnehin nichts mehr. Zu seiner Zeit erging es ihm nicht gut. Von den Zeitgenossen fallengelassen, starb er verarmt und am Rande der Gesellschaft an einem kalten Januar-Tag des Jahres 1829 in seiner Heimatstadt.

Johannes Schweikle ist nicht nur dieses Buch gelungen, er fand auch den richtigen Verlag dafür. Denn was bei Klöper und Meyer erscheint ist stets ausgesprochen ansehnlich. Papier und Bindung, Gestaltung und Ausstattung sind die sprichwörtliche Augenweide.

Dieser Tage erschien vom Autor ein ausführlicher Artikel in „KONTEXT:WOCHENZEITUNG“ zu Fall und Person Berblinger. Man kann diesen gut als Begleitmaterial zum Buch verwenden, als hinführendes Vorwort verstehen oder nach der Lektüre als resümierendes Nachwort lesen. Zu finden ist er online:
KONTEXT:WOCHENZEITUNG
sowie gedruckt in der kontext-Beilage der „taz.die tageszeitung“ vom 28./29. Mai 2011.

Schweikle, Johannes: Fallwind. Vom Absturz des Albrecht Ludwig Berblinger. Roman. – Klöpfer & Meyer, 2011. Euro 18,90