Ein Jahr geht zu Ende
Neben Essen, Trinken, Schwatzen, Schenken und Beschenktwerden, Zanken und Vertragen, Zusammen- und Besinnlichsein; außer Tannenbäumebestaunen und Vorsätzefassen, Raketen zünden und Ideen zulassen, Träumen und Schlendern, bieten die Tage um Weihnachten und den Jahreswechsel noch manche Stunde (manchen Tag) zum Blättern und Schmökern, für alte und neue Lektüre, dem Wiederindiehandnehmen fast vergessener Bücher und das Entdecken literarischen Neulands.
Zur Zeit lese ich den meisterlichen Roman „Exil“ von Lion Feuchtwanger. Über 800 lohnende Seiten, die natürlich etwas Geduld und Beharrlichkeit erfordern. Es ist der dritte Band der sogenannten „Wartesaal-Trilogie“ und handelt vom Schicksal einer Gruppe Menschen, die Naziherrschaft und Judenverfolgung nach Paris vertrieben haben. Die ersten beiden der inhaltlich nur lose verknüpften Bände, „Erfolg“ und „Die Geschwister Oppermann“, hatte ich bereits vor längerer Zeit gelesen.
Süffigeres liegt für danach bereit. In den freien Tagen bis zum 6. Januar möchte ich mir unbedingt noch den neuen Krimi von Elisabeth Herrmann gönnen. Er heißt „Versunkene Gräber“ und wurde von einer meiner anderen Lieblings-Spannungsautorinnen, nämlich Inge Löhnig, sehr gelobt. Herrmann greift gerne Themen der jüngeren deutsch-deutschen Geschichte auf. Und so verrät der Klappentext ihres aktuellen Buches, dass ein Verbrechen in der Gegenwart, hineinführt “in die dramatischen Ereignisse des Jahres 1945, als sich die Schicksale von Tätern und Opfern kreuzten und Entsetzliches geschah.” Ich bin gespannt.
“Seit mindestens zweihundert Jahren ist der Drang nach Beschleunigung so dominant, daß er Umwälzungen von schockierendem Ausmaß bewirkte, die ihrerseits Anlaß zu Fragen, Klagen und Warnungen gaben.”
In diesen Tagen und Wochen begleitet mich ein schmales Büchlein der aus der heutigen Slowakei stammenden, in der Schweiz lebenden Übersetzerin, Essayistin und Schriftstellerin Ilma Rakusa mit dem Titel „Langsamer! Gegen Atemlosigkeit, Akzeleration und andere Zumutungen“. Es enthält mehrere nicht allzu lange Aufsätze, jeder mit starken Bezügen zur Literatur, die um das für Viele immer drängender werdende Bedürfnis nach Entschleunigung kreisen. Zu den verweisungs- und geistreich aufgegriffenen Themen, die Rakusa mit diesem Verlangen in Zusammenhang bringt, gehören u. a. Arbeit, Natur, Muße und Reise.
Mir gefällt am besten das Kapitel “Lektüre”, in dem die Autorin den Lesern verdeutlicht, dass in ganz besonderer Weise “Lesen ein langsamer Vorgang … ist und bleibt.” Und “das sogenannte Verschlingen von Büchern … sich vorhandener Zeit und Ausdauer” verdankt. In den Gedanken von Ilma Rakusa finde ich willkommene Rechtfertigung und Bestätigung für die eigene Liebe zur Literatur, zu den Werken von Dichtern und Denkern, für meine liebste Zeitverwendung – das Lesen. “Sinnlichkeit, Beschaulichkeit, Entspannung … Lesen will nicht nur zweckdienlich sein. Daß es Erkenntnisse vermitteln und unterhalten kann, daß es zur Welt- und Ich-Findung, zur Sinnstiftung und Klärung beiträgt, ist das eine. Zugleich ist es eine sich selbst genügende Tätigkeit, die ein großes Glücksversprechen enthält.”
Der Leser “erfährt, dank Konzentration und Hingabe, ein verändertes Zeitgefühl, überwindet die Ich-Grenzen und bewegt sich in einem Raum spielerischer Autonomie.” Täuscht mein Eindruck, oder sind es tatsächlich immer weniger Menschen, die in unserer Gegenwart der Einladung, solch ganz persönliche Privilegien wahrzunehmen und in selbstbestimmtem Tempo durch die Welt zu schreiten, folgen?
Meine allerneueste Erwerbung, nach langem Hinundherüberlegen, ist die bei Fischer erschienene Taschenbuch-Ausgabe der Romantrilogie „November 1918“. Ein literarisches Großprojekt des Schriftstellers und Arztes Alfred Döblin über die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, dessen Beginn sich im neuen Jahr 2014 zum 100. Male jährt. Döblin zählt zu den etwas aus dem Blick geratenen Autoren der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Am bekanntesten ist sein stilistisch außergewöhnlicher, von Rainer Werner Fassbinder einst eindrucksvoll verfilmter Roman “Berlin Alexanderplatz”. Mit Döblin wollte ich mich schon länger einmal etwas intensiver beschäftigen. Nach Feuchtwanger und dem Krimi soll dies der nächste Lesestoff werden. Ob es dazu kommt? Lesen kann man nicht wirklich planen. Es ist von Launen, Stimmungen, Angeboten und zahlreichen Einflüssen und Zufällen abhängig.
Ein Jahr geht zu Ende. Wie immer in unserem Kulturkreis mit einem 31. Dezember. Bei Anbruch des darauffolgenden Tages, dem 1. Januar, wird sich wenig geändert haben. Wir treiben weiter durch Raum und Zeit. Dimensionen für die nur der Mensch Maßeinheiten, Maßstäbe und Normen kennt. Stets auf der Suche nach sicheren Ankerplätzen. Im unauflöslichen Zwiespalt von „Wille und Vorstellung“.
„Wir sind die Treibenden“, beginnt das XXII. “Sonett an Orpheus” von Rainer Maria Rilke aus dem Jahr 1922:
Wir sind die Treibenden. / Aber der Schritt der Zeit, / nehmt ihn als Kleinigkeit / im immer Bleibenden.
Alles das Eilende / wird schon vorüber sein; / denn das Verweilende / erst weiht uns ein.
Knaben, o werft den Mut / nicht in die Schnelligkeit, / nicht in den Flugversuch.
Alles ist ausgeruht: / Dunkel und Helligkeit, / Blume und Buch.