Sommer mit Russen

Die Natur ist weit über ihr Ziel hinausgeschritten, als sie dem Menschen das Bedürfnis nach Poesie und Liebe gab, wenn wirklich ihr einziges Gesetz die Zweckmäßigkeit ist. (Leo N. Tolstoi)

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Sommerliche Lesezeit hat den wunderbaren Vorteil, dass man bis spät in den Abend von naturgegebener Helligkeit verwöhnt wird und nicht auf den Schein schaler Lampen angewiesen ist. Einer von zahlreichen guten Gründen, die langen Sommerabende und vielleicht einige Wochen wohlverdienten Urlaubs mit intensiven Leseerlebnissen zu verbringen. Als spezielles Abenteuer eignet sich die russische Literatur mit ihren vielen hervorragenden, bekannten und weniger bekannten, Dichterinnen und Dichtern.

Wie wäre es also einmal mit einem Wechsel der normativen Blickrichtung? Im Osten findet sich reichlich Stoff für einen mitteleuropäischen Sommer. Zum Lesen bei Sonne mit kühlem Drink auf der Liege an Waldrand oder Strand; bei Regen in Zimmer und Sessel, mit schwarzem Tee und Konfitüre. (Der in russischen Büchern meist reichlich konsumierte Wodka eignet sich weniger, da er die Konzentrationsfähigkeit innert Kurzem rapide senkt.)

Der Roman “Das grüne Zelt” von Ludmilla Ulitzkaja wäre dabei nicht der schlechteste Einstieg. Er bietet nicht nur fast 600 Seiten fesselnde Unterhaltung, sondern darüber hinaus weiterführende Exkursionen zu Meilensteinen der Literaturgeschichte und ihren Protagonisten. Das große Gesellschaftspanorama spielt vor dem Hintergrund der sehr bewegten mittleren Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts.

das_gruene_zelt-9783423143387Im Zentrum stehen Ilja, Micha, Sanja und ihre Patchwork-Familien. Die drei verbindet seit früher Kindheit eine Freundschaft, die in späteren Jahren durch die wechselnden gesellschaftlichen Verhältnisse und deren fortwährenden Repressionen starken Belastungen ausgesetzt wird. Eine der wichtigsten verbindenden Elemente ist die Liebe zur (russischen) Literatur. Die Saat dafür hatte der junge engagierte Lehrer Viktor Schengeli und sein Lesezirkel gelegt.

“Während sich die Schüler setzten und die Hefte auspackten, begann er die Stunde mit einem Gedicht.” Lyriker und Lyrikerinnen genießen in Russland bis heute einen hohen Stellenwert. Ihre Werke sind im Alltag gegenwärtig, werden oft vertont und gesungen. Puschkin, Pasternak, Brodsky, Achmatowa und viele andere, sind bekannt wie Filmstars, ihre Verse buchstäblich jedem Kind vertraut. Dabei sind die so verehrten Gedichte für Nichtrussen sicherlich nicht unbedingt leicht zugänglich. Ebensowenig wie die berühmten Vers-Epen eines Puschkin. Wir bevorzugen deshalb den Roman “Die Hauptmannstochter”, sein letztes abgeschlossenes Prosawerk. Es gilt als einer der absoluten Höhepunkte russischer Epik.

Zur Zeit der großen Bauernaufstände, in den Jahren 1773 – 1775 sind die Lebenswege des Aufständischen Pugatschow und des adligen Offiziers Grinjow auf schicksalhafte Weise verbunden. Dreimal werden sich beide, die eigentlich Kontrahenten sind, begegnen und in schwierigen Situationen beistehen. “Atmosphärisch dicht und mit großem Raffinement verbindet Puschkin die Handlungsstränge in einer perfekt durchdachten Komposition”, heißt es im Klappentext. Das Buch erschien erstmals 1836, ein Jahr vor dem Tod seines Verfassers durch eine Schussverletzung als Folge eines Duells. Fast 200 Jahre alt, liest sich dieser Text erstaunlich frisch und leicht, was wohl der Übersetzung von Arthur Luther zu verdanken ist.

179, 58, 207, 0, 0, 486

Zum mit anderen Augen Wiederlesen eignet sich besonders Boris Pasternaks umfang- und personenreicher “Doktor Schiwago”. Wer sich darauf einlässt wird einen grandiosen, vielschichtigen Roman jenseits jenes Hollywood-Schmelzes entdecken, den Millionen Kinogänger weltweit durch Julie Christie und Omar Sharif verabreicht bekamen.

Zur Erinnerung: Schiwagos Idealismus, seine Freiheitsideale und seine Beziehung zu Lara scheitern an der Wirklichkeit des totalitären Staates. Die Handlung spielt zwischen 1903 und 1929, und auch in dieses Buch flossen viele literarische Querverweise ein. Dazu zählen Gedichte Pasternaks im Anhang, die er Schiwago zuschreibt. Pasternak begann seine schriftstellerische Laufbahn, wie viele russische Schriftsteller als Lyriker. 1958 erhielt er für den systemkritischen “Schiwago” den Nobelpreis für Literatur.

Michail Schischkin lebt mal in Moskau, mal in Berlin, meist in Zürich. Er schreibt in russischer Sprache, seine Werke erscheinen jedoch fast gleichzeitig auf Deutsch. Im Roman “Briefsteller” wird frische junge Liebe mit der Wirklichkeit des Krieges konterkariert. Nach einer zu kurzen Zeit der Zweisamkeit muss Er ins Feld ziehen.

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Was bleibt ist ein rührender Briefwechsel, in dem nicht nur immer wieder aufs neue große Gefühle beschworen werden, sondern sich die beiden Liebenden nach und nach ihr ganzes Leben erzählen, wozu bisher die Gelegenheit fehlte. Bereits nach wenigen Seiten, kommt man als Leser nicht mehr los von dieser tragischen, aus origineller Perspektive betrachteten Geschichte eines Paares das wohl nie mehr zusammenkommen wird.

Abkühlung bei akuter Hitzewelle bietet “Der Schneesturm” von Vladimir Sorokin. Der ehemalige Erdöl- und Gas-Ingenieure hat sich in verschiedenen künstlerischen Ausdrucksformen versucht, bevor er als Schriftsteller das ihm gemäße Metier gefunden hatte. Er gehört einer starken Fraktion russischer Autoren an, die in ihren Arbeiten mit der Tradition des phantastischen Erzählens spielen.

51E7ZF9XMTL._SX327_BO1,204,203,200_“Der Schneesturm” ist ein leicht absurdes Märchen, rund um den Arzt Garin, der im tiefsten Winter zu einem weiter entfernt wohnenden Patienten um dringende Hilfe gerufen wird. Auf der gefährlichen Reise, zurückgelegt u. a. mit den Mini-Pferden eines angeheuerten Kutschers, gerät er in manch missliche Lage, an den Rand der Erschöpfung, und nach reichlich krassen Abenteuern, endlich ans Ziel, wo ihn weitere Überraschungen erwarten.

In der scheinbar zeit- und raumlosen Erzählung hat sich eine gewichtige Portion Zeitkritik am aktuellen Russland versteckt, die zu verstehen, eigentlich Kenntnis der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse im Land voraussetzt. Vladimir Sorokin kann man allerdings bedenkenlos genießen ohne jede Doppeldeutigkeit erkennen zu müssen. Er gehört sicher zu den besten, sprachgewaltigsten der zeitgenössischen Literatur in russischer Sprache.

Die Hauptfiguren in Ludmilla Ulitzkajas “Das grüne Zelt” pflegen Kontakte zu illegalen Literaturzirkeln und Dissidentengruppierungen. Deren “gemeinsamer Nenner war vermutlich ihr Abscheu gegen den Stalinismus, und natürlich das Lesen. Gieriges, besessenes Lesen.”

“Eine aktuelle Studie zeigt: Wer Romane liest, hat mehr Erfolg und sitzt weniger Vorurteilen auf. Liebesgeschichten, Krimis und Thriller sind besonders gut, Science-Fiction eher weniger.” (SZ online, 19. Juli 2016). Russische Literatur bietet darüber hinaus die Gelegenheit den persönlichen Horizont zu erweitern, indem man sich mit einem Kulturkreis beschäftigt, der in unseren gängigen Medien, im Unterricht der Schulen, den Auslagen der Bibliotheken und Buchhandlungen gemeinhin etwas zu kurz kommt. Aus ideologischen Gründen?

Durch diesen, bisher so wechselfälligen Sommer 2016, kann man berechtigerweise mit gemischten Gefühlen gehen. Seinen Lesefreuden und -lastern darf man sich dennoch ungehemmt und ohne Zurückhaltung hingeben. Die größte Schwierigkeit bei der Lektüre russischer Werke besteht in der Namensvielfalt der Figuren. Familienname, Vatername, Vorname samt mehrer Koseformen. Da ist man für jedes Personenregister zum Buch dankbar, wie man es z. B. im “Schiwago” findet. Man würde sich diese kleine Verständnishilfe öfters wünschen.

Die aktuellen Handelsbeschränkungen mit dem Reich des Ach-so-Bösen betreffen in erster Linie Maschinen und andere Industriegüter. Die reiche Fülle seiner und unserer Literatur aus Vergangenheit und Gegenwart steht auf keiner Embargo-Liste. Die Kraft des Geschichtenerzählens und grenzenlose Phantasie überwinden ohnehin alle kleinlichen Hemmnisse und Schranken.

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Ulitzkaja, Ljudmila: Das grüne Zelt. – dtv, 2014. Euro 12,90

Puschkin, Alexander: Die Hauptmannstochter. – Insel Verlag, 2014. Euro 8

Pasternak, Boris: Doktor Schiwago. – Axel Springer, 2011. Euro 7,95 (Leider nur noch in dieser “Nobelpreis Bibliothek” zu bekommen. Eine vernünftige Taschenbuch-Ausgabe fehlt derzeit.)

Schischkin, Michail: Briefsteller. – btb, 2014. Euro 10,99

Sorokin, Vladimir: Der Schneesturm. – Kiepenheuer & Witsch, 2014. Euro 8,99

“Mörikes Schlüsselbein”

Der neue Roman von Olga Martynova

“… diese Geschichte ließe sich unterschiedlich interpretieren, wie jede Geschichte, wie Geschichte überhaupt.”

Sie wisse nicht, worum es in ihrem Buch geht, behauptete die aus Russland stammende Olga Martynova in einem Interview mit dem Bayerischen Fernsehen. So kurz nach dem Schreiben eines Buches könne sie das nie genauer sagen, da habe sie keinen Überblick. Vielleicht “um die Liebe, um die Nächstenliebe”. Und als der Reporter später noch einmal nachfragte, gestand sie: “Eigentlich ist es eine Geschichte der Dichter.”

Allzuhoch stehen Literatur und die Literaturwissenschaften schon seit etlichen Jahren nicht mehr im Kurs; und Publikum, das sich Lyrik und etwas niveauvollere Erzählungen und Romane zumutet, ist auf einen harten Kern geschrumpft. Parallel sind die literaturwissenschaftlichen Fachrichtungen an den Hochschulen seit Jahren auf dem Rückzug. Sie weichen fast widerstandslos dem messbar Nützlichen und Disziplinen, die technologisch und wirtschaftlich Verwertbares produzieren. Dabei gerät in Vergessenheit was Literatur als Kunstform und die Wissenschaft über sie (einschließlich einiger Nachbar-Disziplinen) leisten. Sie können unsere Fähigkeit zu Skepsis, Kritik und vergleichender Deutung schulen, und dazu beitragen die Interpretierbarkeit sicher geglaubter Wahrheiten und deren erfahrungsgemäß zeitlich begrenzte Gültigkeit zu erkennen.

In den Romanen von Olga Martynova geht es fast ausschließlich um Literatur, die Arbeit daran, damit und darüber. Nahezu alle handelnden Figuren haben in irgendeiner Form mit Literatur zu tun. Sie sind Autoren, Übersetzer, Wissenschaftler und Schriftsteller. Und: Sie alle wissen um die Existenz einer Schnittmenge von Dichtung und Wahrheit.

Das Personal von “Mörikes Schlüsselbein” besteht im Kern aus einer kunstvoll konstruierten Patchwork-Familie. Zu dieser gehören der deutsche Hochschullehrer Andreas Berg und seine erste große Liebe von vor über zwanzig Jahren, die damals sehr junge, in einem literarischen Umfeld lebende und lernende Russin Marina. Wir kennen das Paar bereits aus Martynovas erstem Roman “Sogar Papageien überleben uns”. Die beiden fanden damals jedoch nicht dauerhaft zueinander. Andreas heiratete vielmehr irgendwann Sabine, mit der er die Kinder Moritz und Franziska bekam. Sabine ist inzwischen wieder Ex. Und während der alternde Wissenschaftler noch mit der Studentin Laura kuschelt, findet bereits eine zaghafte Wieder-Annäherung an Marina statt. Moritz und Franziska, Vertreter einer neuen herangewachsenen Generation, erleben die Leser in diesem Buch auf der Suche nach ihren eigenen Wegen und Lebensentwürfen. Die Geschichte der wechselnden familiären Konstellationen geben dem Roman so etwas wie eine Rahmenhandlung. Schauplätze der Geschehnisse sind in den USA, Russland und Deutschland.

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Hölderlins Tübingen

Der ebenfalls dem Leser bereits aus dem ersten Buch vertraute Lyriker Fjodor fällt diesmal alsbald seinem extremen Alkohol-Konsum zum Opfer; durch die zeitversetzte Erzählweise verschwindet er jedoch nie ganz aus der Geschichte. Moritz, der erste literarische Gehversuche unternimmt, hat die Autorin zwei besonders virtuose, anspielungsreiche Passagen zugeschrieben. Einmal als er während eines Tübingen-Besuchs über Hölderlins “Hälfte des Lebens” assoziiert: “Getrunkene Schwäne, klar im Neckar gespiegelt, auch die Stauden, doch kannst du dir nie das Wasser zusammen mit dem schöpfen, was du so deutlich siehst, keinen Schwan trinken, keinen sich küssenden Schwan trinken. Untrinkbare Schwäne.” (Es gibt noch weitere Variationen. Das klingt ein bisschen wie Jazz über ein klassisches Thema, in Sprache.) Und im Kapitel “Ich werde sagen ‘Hi’”, in dem sich Moritz in eine gleichaltrige Eisverkäuferin verliebt, die jedoch schneller wieder aus seinem Blickfeld verschwindet, als er sich ihr erklären kann. Diesen Text las Olga Martynova im letzten Sommer in Klagenfurt vor und gewann damit ebenso prompt wie überraschend den Ingeborg-Bachmann-Preis.

Zu den für Olga Martynova wichtigsten Abschnitten der russischen Literaturgeschichte gehört die Zeit der “Oberiuten” um Daniil Charms und Alexander Wwedenski (ein Motto, das dem Roman voransteht, stammt von ihm), die in der Sowjetunion der 1920er und 1930er Jahren provokative moderne Dichtung schufen, die nur im Untergrund gelesen und verbreitet werden konnte. Sie wurden traurige Opfer einer Diktatur, die glaubte Dichtung und Dichter bekämpfen zu müssen. Erst mit Einsetzen der Perestrojka wurden sie – lange nach ihrem Tod – gedruckt und auch im Westen bekannt. (*) Von den Epochen der deutschen Literatur fasziniert Martynova besonders die Romantik. “Romantik ist der Ursprung der klassischen Moderne”, sagt sie, und setzt sich an ihrem Wohnort Frankfurt am Main für ein Romantik-Museum ein.

Geboren wurde Olga Martynova in einem anderen, fernen Kosmos, dem sibirischen Krasnojarsk; sie wuchs in Leningrad auf, studierte russische Sprache und Literatur. Mit ihrem Mann Oleg Jurjew – einem Lyriker und Übersetzer – kam sie einst im Rahmen von Studienaufenthalten nach Deutschland und blieb bis heute. Ihre Prosawerke schreibt sie inzwischen in deutscher Sprache, wobei ihre Metaphernsicherheit und der enorme Wortschatz beeindrucken. “Aus der Herde von Wörtern muss man die richtigen heraussuchen,” erläutert sie ihre Arbeitsweise. “Sehnsucht” gehört zu den Lieblingswörtern, auch weil es keine exakte Entsprechung für diesen Gefühlsausdruck in anderen Sprachen gibt. “Sehnsucht ist das deutscheste, aller deutschen Wörter…” Schreiben kann die Schriftstellerin überall; am liebsten sitzt sie mit ihrem Laptop im Zug.

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Olga Martynova auf der Leipziger Buchmesse 2013

“Mörikes Schlüsselbein” ist in wechselnden, sich teilweise überschneidenden Zeitebenen erzählt. Das Werk besteht aus einer Vielzahl einzelner Geschichten, die, wie die Hauptfiguren, eng miteinander verbunden sind. In vielen dieser Geschichten öffnen sich immer wieder Türen zu Nebenräumen mit neuen Geschichten. Manchmal wird nur ein kurzer Einblick gewährt, ein anderes Mal wird der Leser mitgenommen auf einen Gang durch weite Erzählräume. Realität, Fiktion, Traum und Trauma gehen ineinander über. Wie in der Figur des Schamanen, der einer Gruppe von Menschen angehört, die sich von der übrigen, uns vertrauten Welt, abgesetzt hat. Doch die Ratschläge und Weisheiten, die er verbreitet, klingen wie geschaffen für unseren durchhetzten, informationsüberfluteten und konsumfixierten Alltag des frühen 21. Jahrhunderts. Statt zu leben als wäre es der letzte Tag im Leben, und dabei immer Angst haben zu müssen, etwas zu verpassen, rät der Steppen-Weise zur Gelassenheit und einer Haltung als würde man ewig leben.

Olga Martynova hat ein Buch über Dichter und Dichtung geschrieben. Voller skurriler, phantasievoller Einfälle und Abschweifungen, aber auch mit zahlreichen Passagen, die nüchtern die Realitäten des Hier und Heute zur Vorlage haben. Es ist spannend und sehr anregend zu lesen, nicht zuletzt durch die vielen Verweise auf einzelne Dichter und verschiedene Literaturepochen. Das ist sozusagen der Subtext, dieses ungewöhnlichen Romans. Solche Bücher zu verlegen, dafür darf man dem Grazer Verlag Droschl dankbar sein, der zu den wenigen Häusern gehört, die noch den Mut haben, das Unseichte, Werke, die für den Lesegenuss etwas geistigen Aufwand und Leseerfahrung erfordern, mit großer Selbstverständlichkeit neben die vielen Beliebigkeiten des aktuellen Buchmarktes zu stellen.

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(*) Unter dem Titel “Das Leben hat über den Tod gesiegt, auf eine mir unbekannte Weise” hat Olga Martynova einen längeren Artikel über die Oberiuten geschrieben, der zuerst in der “Neuen Zürcher Zeitung” vom 17. Februar 2007 erschienen, aber auch in einem sehr empfehlenswerten Essayband von 2011 enthalten ist, zusammen mit anderen Arbeiten von ihr und ihrem Mann Oleg Jurjew. In ihrem jüngsten Gedichtband hat Olga Martynova zudem Alexander Wwedenski einen längeren Zyklus gewidmet.

Im Prozess gegen drei Mitglieder der Pop- und Protestgruppe Pussy Riot wurde von diesen auf den Kreis der Oberiuten verwiesen. Die jungen Frauen bezogen sich in ihren Stellungnahmen vor Gericht immer wieder auf Strömungen und Persönlichkeiten der russischen Literaturgeschichte. Womit sie deutlich machen konnten, dass ihre Aktion keineswegs nur eine naive Spontanreaktion war, sondern dass sie sich in der Tradition einer langen Kette subversiver Protestformen Kulturschaffender sehen. Ein Hintergrund, über den in den meisten deutschen Massenmedien nicht berichtet wurde. Eine kleine Ausnahme bildete ein Beitrag im Deutschlandradio Kultur vom August 2012, mit dem ermutigenden Titel: “Pussy Riot erteilen Richtern eine Kunst-Lektion”. Ein kleines Beispiel dafür, dass Literatur und die persönliche, diskursorische und wissenschaftliche Beschäftigung damit, manchmal eben doch ihre bescheidene gesellschaftspolitische Wirkung entfalten kann.

Martynova, Olga: Mörikes Schlüsselbein. Roman. – Literaturverlag Droschl, 2013

Martynona, Olga: Sogar Papageien überleben uns. Roman. – Literaturverlag Droschl, 2010

Martynova, Olga; Jurjew, Oleg: Zwischen den Tischen. Olga Martynova und Oleg Jurjew im essayistischen Dialog. – Bernstein-Verlag, 2011

Martynova, Olga: Von Tschwirik und Tschwirka. Gedichte. – Literaturverlag Droschl, 2012

Besessen – Possessed!

Das abenteuerliche Leben der Elif Batuman mit russischer Literatur

Ist das wirklich ein Buch über russische Literatur? Jein. Die kommt schon vor, meist in Gestalt längst toter russischer Schriftsteller. Es ist aber keine systematische Abhandlung irgendwelcher Epochen und schon gar keine russische Literaturgeschichte. Eigentlich sind es Geschichten, die erzählt werden. Von Elif Batuman, einer jungen, von Bildungshunger und Fernweh angespornten Autorin, die so gerne einen Roman schreiben möchte, was ihr vorerst nicht gelingt, dafür eines der originellsten und leserfreundlichsten Bücher über Literatur und Menschen die sich damit beschäftigen

Elif Batuman stammt aus einer türkischen Familie und wurde 1977 in New York geboren. Sie studierte vergleichende Literaturwissenschaft in Stanford, wo sie auch promovierte. Die begabte Wissenschaftlerin erhielt mehrere Stipendien, u. a. auch Reisestipendien, die wesentlich zur Entstehung ihrer ersten nun auch auf deutsch vorliegenden Mongraphie beigetragen haben.

Im Oktober war die Autorin zwei Tage in Frankfurt zu Gast, um auf der Buchmesse ihre Neuerscheinung zu präsentieren. Der Messe- und Medienrummel war für sie sichtlich neu und überraschend. Überraschend war auch, wie stark das Interesse an ihr und ihrem Buch im deutschsprachigen Raum ausfällt. Nach Frankfurt besuchte sie noch Zürich. Eingeladen von ihrem Verlag Kein & Aber, der so mutig war dieses ungewöhnliche Buch von Renate Orth-Guttmann ins Deutsche übersetzen zu lassen und im September diesen Jahres auf den Markt zu bringen. Das amerikanische Original erschien bereits im Februar 2010 bei Farrar, Straus and Giroux in New York.

Elif Batuman ist derzeit “Writer-in-Residence” an der Koç Universität in Istanbul. Erlebnisse mit dem Erfolg ihres Erstlings im englischsprachigen Raum hat sie in dem Artikel “Life after a Bestseller” verarbeitet (Guardian, 21. April 2011). Ihre neueste Arbeit ist wohl schon ein erstes Ergebnis des Türkei-Aufenthalts. “Natural Histories: A Journey in the Shadow of Arrat” erschien am 24. Oktober in der renommierten Literatur-Zeitschrift “New Yorker”. Offensichtlich ist die Schriftstellerin auf gutem Weg nicht nur geographische Regionen, sondern auch literarische und geistige Räume, neu zu entdecken und für uns mit ihrer ansteckenden Begeisterung zu beschreiben.

“Die Besessenen. Abenteuer mit russischen Büchern und ihren Lesern” besteht aus mehreren von einander unabhängigen Themenblöcken. Nach einer längeren Einleitung beginnt es mit Betrachtungen über Isaak Babel. Was zunächst nur ein Bericht über eine wissenschaftliche Konferenz ist, wird bei Elif Batuman zum kulturgeschichtlichen Panorama, gespickt mit zahlreichen Details über den nicht mehr sehr bekannten Dichter, der nur ein schmales Werk hinterlassen konnte. Man staunt, was aus einer so simpel erscheinenden Berichtslage werden kann, wenn Elif Batuman darüber schreibt, wohin uns ihre Sätze mitnehmen, wie weit wir uns zwischendurch vom Ausgangspunkt entfernen und wie sie uns mit sicherer Feder am Ende wieder zum Thema zurückführt.

Einen weiteren größeren Block bildet die launische Beschreibung einer Zusammenkunft von Tolstoi-Experten, die sich zu einem viertägigen Kongress auf Jasnaja Poljana trafen, “dem Gut, auf dem Tolstoi geboren wurde, wo er fast sein ganzes Leben verbrachte, wo er ‚Krieg und Frieden‘  und ‚Anna Karnenina‘ schrieb und wo er begraben ist.” Breiten Raum nahmen auf der Veranstaltung Spekulationen über Tolstois Tod ein. Vielerlei Verschwörungs-Theorien mündeten immer wieder in die Frage, die dem Kapitel in Batumans Buch den Titel gab: “Wer hat Tolstoi umgebracht?”

Ein umfangreicher, stark biographisch gefärbert Teil des immerhin 386 Seiten starken Buches wurde, in drei Kapitel aufgeteilt, zwischen andere Abschnitte eingefügt. Darin erzählt Elif Batuman von ihrem ersten längeren Auslandsaufenthalt zu Studienzwecken. Zusammen mit ihrem damaligen Freund, hatte es sie durch allerhand kuriose Umstände und Zufälle nach Samarkand verschlagen. Da bei Land und Leuten in der zweitgrößten Stadt des zentralasiatischen Usbekistan die Literatur nicht unbedingt eine Hauptrolle spielt, außerdem Alltag und Arbeit wenig poetisch sind, geriet die Exkursion überwiegend zu einer intensiven Phase der Persönlichkeitsentwicklung der damals noch zukünftigen Autorin und aus diesen Passagen des Buches wurde ein kleiner Entwicklungsroman.

Wir Leser begleiten Wilhelmine Meister-Batuman auf ihrer Suche nach Wegen zum Künstlertum. Sie würde so gerne einen Roman schreiben. Was nun vorliegt ist zwar kein Roman und dennoch oder gerade deswegen ein gelungenes Werk. Ein Buch, dass auch davon berichtet, warum es mit dem Roman zunächst einmal nichts wurde und letztlich eine ganz andere Literaturform herauskam. Welche eigentlich? Das spielt keine Rolle. Hauptsache das Ergebnis gefällt uns. Elif Batuman lässt uns teilhaben an dem Entwicklungsprozess, den sie in der asiatischen Steppe durchlebte. Es war für die junge Frau eine wichtige, ja entscheidende Lebensstufe, “… auch wenn ich gewisse Hemmungen habe zu sagen, dass das, was in Samarkand endete, meine Jugend war …”

Über weite Strecken lebt “Die Besessenen” vom Enthusiasmus der Autorin und ihrer Fähigkeit diesen an ihre Leser weiterzugeben. Ihr phantasievoller und anekdotenreicher Stil erinnert nicht zufällig an orientalische Erzählweisen. Darüber hinaus zeichnet er sich durch Witz, Selbstironie und Tempo aus. Wir Leser können dabei gut folgen, ohne jedes literaturgeschichtliche- oder -theoretische Detail verstehen zu müssen.

2005 veröffentlichte die damals noch neue New Yorker Kulturzeitschrift “n+1” die erste für eine breitere Öffentlichkeit gedachte Arbeit von Elif Batuman. “Und niemand der Elif Batuman’s ersten Artikel gelesen hat, wird ihn je wieder vergessen”, schrieb ein elektrisierter amerikanischer Kritiker. Es ist jener Aufsatz, aus dem später das Kapitel über Isaak Babel wurde. Schnell war klar, dass man es hier mit einer außergewöhnlichen Schreib-Begabung zu tun hatte. Erste Vergleiche mit der jungen Susan Sontag wurden gewagt.

Man ist erstaunt, dass sich eine hochveranlagte junge Frau mit Dichtern beschäftigt die seit 100 oder 200 Jahren tot sind und nicht unbedingt im Fokus us-amerikanischen Wissenschafts-Interesses stehen. Aber Elif Batuman gehört eben auch zu Jenen, die ihrem Buch den Titel gaben: den “Besessenen”. Damit ist hier nichts krankhaft Übersteigertes gemeint, sondern lustvolle Begeisterungsfähigkeit, anhaltende Leidenschaft mit Kenntnis und Wissen gepaart, für nicht ganz alltägliche Gegenstände. Es gibt von diesen Menschen nicht eben Massen auf unserem Planeten. Aber immer noch und immer wieder zahlreiche Leser, Wissenschaftler, Buchmenschen, Literaten, die ihren Passionen ein Leben lang intensiv nachgehen. Jetzt haben sie eine in ihren Reihen, die ganz wunderbar, humorvoll und klug darüber schreiben kann.

Eines muss ich noch gestehen. Bereits nach einem ersten Reinblättern und Anlesen war entschieden, dass ich das Buch kaufen und lesen würde. Weil es mit diesen Sätzen beginnt:

“In Thomas Manns Zauberberg kommt ein junger Mann namens Hans Castorp in ein Schweizer Sanatorium, um seinem schwindsüchtigen Cousin drei Wochen Gesellschaft zu leisten … So komplex das Buch auch ist – seine zentrale Fragestellung ist sehr einfach: Wie kommt es, dass jemand, der nicht selbst die Schwindsucht hat, sieben Jahre in einer Lungenheilanstalt verbringt?” Und Elif Batuman fragt sich, wie es ihr widerfahren konnte, dass sie sieben Jahre am Fachbereich Vergleichende Literaturwissenschaften in Stanford verbrachte. Und kommt zu dem Schluss, dass es wie bei Hans Castorp “eine Geschichte der Liebe und der Begeisterung für alles Russische” war.

Das konnte ich sofort verstehen, und kam an diesem Buch einer jungen amerikanischen Autorin und Wissenschaftlerin mit türkischen Wurzeln, ausgeprägter Russophilie und ihrer intelligent-munteren Ausruckskraft nicht mehr vorbei.

Batuman, Elif: Die Besessenen. Abenteuer mit russischen Büchern und ihren Lesern. Zürich : Kein & Aber, 2011. Euro 22,90

Spät-Lese (1)

 
(Die =conlibri= Spät-Lese: Reife Bücher aus älteren Jahrgängen. Erstmals, neu oder wieder gelesen.)

Anna Karenina von Leo (Lew) Tolstoi

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Warum jetzt?

„Das Element der Epik mit seiner rollenden Weite, seinem Hauch von Anfänglichkeit und Lebenswürze, seinem breit rauschenden Rhythmus, seiner beschäftigten Monotonie – wie gleicht es dem Meere, wie gleicht ihm das Meere! Es ist das homerische Element, das ich meine, das Ewig-Erzählerische als Kunst-Natur, als naive Großartigkeit, Körperlichkeit, Gegenständlichkeit, unsterbliche Gesundheit, unsterblicher Realismus.“

Wie Thomas Mann fasziniert mich die epische Erzählform in Gestalt umfangreicher Romane; sie sind nahezu alltägliches Zentrum meines Schmökerns, Lesens und Studierens. Thomas Mann selbst habe ich nicht nur besonders oft und intensiv gelesen, ich folge auch bereitwillig seinen Spuren, Quellen und Hinweisen. So habe ich seine norwegischen Vorbilder Alexander Lange Kielland und Jonas Lie entdeckt, so folgte ich auch seiner Wahrnehmung der beiden großen russischen Schriftsteller Dostojewski und Tolstoi.

Das war und ist nicht immer leicht. Bei „Krieg und Frieden“ war nach zwei Dritteln der Textmasse erst einmal Schluss. Ich scheiterte an den vorausgesetzten militärgeschichtlichen Kenntnissen und dem ganzen rabiaten Schlachtengetümmel. Nun also „Anna Karenina“.

In der letzten Zeit waren die neuen zeitgemäßen Übersetzungen von Werken Dostojewskis und Tolstois sehr im Gespräch. Den Anfang machte vor einigen Jahren die inzwischen leider verstorbene Swetlana Geier mit Dostojewski. Für ihre Neuübertragung von Tolstois „Krieg und Frieden“ bekam Barbara Conrad im März diesen Jahres den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Übersetzung verliehen, verbunden mit viel Beifall und Anerkennung.

Ebenso hätte man Rosemarie Tietze auszeichnen können. Von ihr stammt die aktuellste deutsche Version der „Anna Karenina“. Drei Jahre hat sie ausschließlich daran gearbeitet. In die Hand kam mir diese Ausgabe in einer Bibliothek eher zufällig, doch nach neugierigem Anlesen blieb ich bald hängen. Diese Übersetzung ist wohl das, was man „frisch“ nennt und mich als Leser nicht mehr unterscheiden lässt, ob Faszination und Genuss der Lektüre Autor oder Übersetzerin zu verdanken sind. Rosemarie Tietze versteht es offensichtlich in ganz einmaliger Weise, in zwei Sprachen literarisch zu denken und zu schreiben. So kommt es, dass man einen 135 Jahre alten Roman nicht mehr beiseite legen kann.

Das Leben des Autors

Lew Nikolajewitsch Graf Tolstoiin Deutschland meist: Leo Tolstoi – wurde am 9. September 1828 auf dem etwa 200 Kilometer südlich von Moskau gelegenen Gut Jasnaja Poljana geboren. Nach dem frühen Tod der Eltern lebte er bei einer Tante in Kazan, wo er auch von 1844 bis 1847 orientalische Sprachen und Jura studierte. Dem Studium folgte ein fünfjähriger Militärdienst. Tolstoi nahm u. a. an Kampfhandlungen im Kaukasus und auf der Krim teil. Auslandsreisen in den Jahren 1857 bis 1861 führten ihn nach Italien, Deutschland, Frankreich und England.

Tolstoi auf einem Gemälde von Ilja Jefimowitsch Repin (1887)

1862 heiratete Tolstoi Sofija Andreeva Bers und lies sich auf dem ererbten Landgut nieder. Die großen Romane „Krieg und Frieden“ und „Anna Karenina“ schrieb er zwischen 1864 und 1876. Die Literaturwissenschaft nennt ihn einen typischen Vertreter des psychologischen Realismus. Sein Erzählwerk zeichnet sich durch anschauliche und detaillierte Darstellung von Menschen und Natur aus. Seine Gattin hatte selbst breit gefächerte künstlerische Veranlagungen, die sie jedoch als Mutter von 13 Kindern und engste Mitarbeiterin ihres Mannes lange zurückstellen musste. Heute können wir auch von ihr Literarisches lesen. Zuletzt erschien in einer Neuausgabe „Kreuzersonate / Eine Frage der Schuld“, eine Art Gegenentwurf zu einem der bekanntesten Werke ihres Mannes. Doch ohne die geduldige Unterstützung Sofija Tolstojas wären die monumentalen Romane Leos wohl kaum entstanden.

Leo Tolstois Werk hatte seine Quellen u. a. in der Ethik und der Aufklärung des mitteleuropäischen 19. Jahrhunderts. Vor allem die Ideen Rousseaus beeinflussten sein Denken und Schreiben stark. Sie führten auch dazu, dass er sich im Laufe seines Lebens vom feudal-patriarchalischen Großgrund-Besitzer zum humanistisch-christlich motivierten Sozialreformer und zu einem Kritiker kirchlicher und staatlicher Autoritäten wandelte. Er setzte sich besonders gegen die Leibeigenschaft und für die unteren Stände des zaristischen russischen Gemeinwesens ein.

Durch Aufgabe eigener Besitzansprüche im Alter, die sich auch auf die Rechte an seinem umfangreichen und einträglichen Werk erstreckte, geriet er mit seinen Angehörigen in Konflikt. Im letzten Lebensjahr verließ er daher das heimatliche Gut und die Familie, um in asketischer Einsamkeit zu leben. Am 20. November 1910 starb er in Astapovo. Seine Beerdigung wurde zu einem großen gesellschaftlichen Ereignis. Mehrere tausend Menschen folgten dem Trauerzug.

Die Geschichte des Werks

Im 18. Und 19. Jahrhundert war es üblich selbst umfangreiche Werke zunächst in Fortsetzungen in literarischen Blättern zu veröffentlichen, die sich zu dieser Zeit eines breiten Interesses der gebildeten Schichten erfreuten. Aber auch Erstveröffentlichungen in populären Zeitschriften waren durchaus nicht ungewöhnlich. Gedruckte und gebundene Bücher waren teuer, das Publikum, das als Käufer dafür in Frage kam, noch sehr begrenzt.

„Anna Karenina“ erschien von 1875 bis 1877 erstmals in der Zeitschrift „Russkji vestnik“. Die erste Buchausgabe, die anschließend in einem Moskauer Verlag herauskam, bestand aus drei Bänden. Die erste deutsche Übersetzung war von Paul Wilhelm Graff und erschien 1885 bei Wilhelmi in Berlin. Die aktuellsten Übersetzungen in deutscher Sprache stammen von Hermann Asemissen (Aufbau und Insel), Fred Ottow (bei dtv) und eben Rosemarie Tietze, deren Arbeit zu diesem Artikel anregte.

Das Werk wurde seit seinem Erscheinen unzählige Male rezensiert und kommentiert. Eine Bibliographie der Sekundärliteratur wäre kaum noch überschaubar. Bis heute ist „Anna Karenina“ Gegenstand vieler populärer und wissenschaftlicher Abhandlungen, die dieses weltliterarische Ereignis aus den verschiedensten Blickwinkeln untersuchen. Zu den bedeutendsten und sprachlich eindrucksvollsten Reaktionen zählt zweifellos der 1939 erschienene Aufsatz von Thomas Mann, aus dem auch das Eingangszitat stammt.

Der Inhalt

Vereinfacht könnte man die Handlung darauf reduzieren, dass eine Frau fremdgeht, ihre Familie verlässt und damit sich und einige andere Beteiligte in großes Unglück stürzt. Über die ganze epische Breite betrachtet, ist es die Geschichte dreier russischer Familien von unterschiedlichem Stand, vor dem Hintergrund des feudalen zaristischen Russland der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die scheiternde Beziehung der Karenins auf der einen und die hinlänglich gelungene Ehe Kittys mit Lewin auf der anderen Seite, bilden die wichtigsten gegensätzlichen Handlungspole.

Eines der zentralen Themen des Romans ist die Rolle der Frau in einer hierarchisch und patriarchalisch strukturierten Gesellschaft. Die Verankerung der Menschen in Glauben und Kirche festigte die Verhältnisse. Gleichzeitig machten sich jedoch immer stärkere Veränderungen der Moralvorstellungen bemerkbar. Zudem sorgte die innovative wirtschaftliche und technologische Dynamik für Umwälzungen, denen die Menschen zunächst nicht gewachsen waren. Daraus resultierende politische, soziale und religiöse Konflikte sorgen im Buch für Spannung erzeugende unterschiedliche Einstellungen und Lebensentwürfe der Protagonisten. Große Romane, wie Flauberts „Madame Bovery“ und Fontanes „Effi Briest“, die aus dem gleichen Zeitraum stammen, setzen sich ebenfalls mit solchen Grundfragen auseinander.

Höhepunkte und Schwierigkeiten

Ein Höhepunkt ist gleich der erste, berühmt gewordene und oft zitierte Satz: „Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich.“  Danach jede der über 1200 Seiten. Dieser heute allgemein bekannte Anfang wurde übrigens erst später vorangestellt. Der erste Satz den Tolstoi in der handschriftlichen Erstfassung niederschrieb, hieß: “Im Hause der Oblonskis herrschte große Verwirrung.” Schwierigkeiten bereiten – wie häufig in russischen Werken – die Vielzahl handelnder Personen, sowie die russischen Personen- und Familiennamen. Es ist außerdem nicht einfach den Überblick über die verzweigten Verwandtschafts, Dienst- und Freundschafts-Verhältnisse zu behalten.

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Tolstoi, Lew: Anna Karenina. Übersetzt und kommentiert von Rosemarie Tietze. – Hanser, 2009. Euro 39,90

Im Mai erscheint eine Taschenbuch-Ausgabe bei dtv (Euro 16,90)