Die Natur ist weit über ihr Ziel hinausgeschritten, als sie dem Menschen das Bedürfnis nach Poesie und Liebe gab, wenn wirklich ihr einziges Gesetz die Zweckmäßigkeit ist. (Leo N. Tolstoi)
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Sommerliche Lesezeit hat den wunderbaren Vorteil, dass man bis spät in den Abend von naturgegebener Helligkeit verwöhnt wird und nicht auf den Schein schaler Lampen angewiesen ist. Einer von zahlreichen guten Gründen, die langen Sommerabende und vielleicht einige Wochen wohlverdienten Urlaubs mit intensiven Leseerlebnissen zu verbringen. Als spezielles Abenteuer eignet sich die russische Literatur mit ihren vielen hervorragenden, bekannten und weniger bekannten, Dichterinnen und Dichtern.
Wie wäre es also einmal mit einem Wechsel der normativen Blickrichtung? Im Osten findet sich reichlich Stoff für einen mitteleuropäischen Sommer. Zum Lesen bei Sonne mit kühlem Drink auf der Liege an Waldrand oder Strand; bei Regen in Zimmer und Sessel, mit schwarzem Tee und Konfitüre. (Der in russischen Büchern meist reichlich konsumierte Wodka eignet sich weniger, da er die Konzentrationsfähigkeit innert Kurzem rapide senkt.)
Der Roman “Das grüne Zelt” von Ludmilla Ulitzkaja wäre dabei nicht der schlechteste Einstieg. Er bietet nicht nur fast 600 Seiten fesselnde Unterhaltung, sondern darüber hinaus weiterführende Exkursionen zu Meilensteinen der Literaturgeschichte und ihren Protagonisten. Das große Gesellschaftspanorama spielt vor dem Hintergrund der sehr bewegten mittleren Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts.
Im Zentrum stehen Ilja, Micha, Sanja und ihre Patchwork-Familien. Die drei verbindet seit früher Kindheit eine Freundschaft, die in späteren Jahren durch die wechselnden gesellschaftlichen Verhältnisse und deren fortwährenden Repressionen starken Belastungen ausgesetzt wird. Eine der wichtigsten verbindenden Elemente ist die Liebe zur (russischen) Literatur. Die Saat dafür hatte der junge engagierte Lehrer Viktor Schengeli und sein Lesezirkel gelegt.
“Während sich die Schüler setzten und die Hefte auspackten, begann er die Stunde mit einem Gedicht.” Lyriker und Lyrikerinnen genießen in Russland bis heute einen hohen Stellenwert. Ihre Werke sind im Alltag gegenwärtig, werden oft vertont und gesungen. Puschkin, Pasternak, Brodsky, Achmatowa und viele andere, sind bekannt wie Filmstars, ihre Verse buchstäblich jedem Kind vertraut. Dabei sind die so verehrten Gedichte für Nichtrussen sicherlich nicht unbedingt leicht zugänglich. Ebensowenig wie die berühmten Vers-Epen eines Puschkin. Wir bevorzugen deshalb den Roman “Die Hauptmannstochter”, sein letztes abgeschlossenes Prosawerk. Es gilt als einer der absoluten Höhepunkte russischer Epik.
Zur Zeit der großen Bauernaufstände, in den Jahren 1773 – 1775 sind die Lebenswege des Aufständischen Pugatschow und des adligen Offiziers Grinjow auf schicksalhafte Weise verbunden. Dreimal werden sich beide, die eigentlich Kontrahenten sind, begegnen und in schwierigen Situationen beistehen. “Atmosphärisch dicht und mit großem Raffinement verbindet Puschkin die Handlungsstränge in einer perfekt durchdachten Komposition”, heißt es im Klappentext. Das Buch erschien erstmals 1836, ein Jahr vor dem Tod seines Verfassers durch eine Schussverletzung als Folge eines Duells. Fast 200 Jahre alt, liest sich dieser Text erstaunlich frisch und leicht, was wohl der Übersetzung von Arthur Luther zu verdanken ist.
Zum mit anderen Augen Wiederlesen eignet sich besonders Boris Pasternaks umfang- und personenreicher “Doktor Schiwago”. Wer sich darauf einlässt wird einen grandiosen, vielschichtigen Roman jenseits jenes Hollywood-Schmelzes entdecken, den Millionen Kinogänger weltweit durch Julie Christie und Omar Sharif verabreicht bekamen.
Zur Erinnerung: Schiwagos Idealismus, seine Freiheitsideale und seine Beziehung zu Lara scheitern an der Wirklichkeit des totalitären Staates. Die Handlung spielt zwischen 1903 und 1929, und auch in dieses Buch flossen viele literarische Querverweise ein. Dazu zählen Gedichte Pasternaks im Anhang, die er Schiwago zuschreibt. Pasternak begann seine schriftstellerische Laufbahn, wie viele russische Schriftsteller als Lyriker. 1958 erhielt er für den systemkritischen “Schiwago” den Nobelpreis für Literatur.
Michail Schischkin lebt mal in Moskau, mal in Berlin, meist in Zürich. Er schreibt in russischer Sprache, seine Werke erscheinen jedoch fast gleichzeitig auf Deutsch. Im Roman “Briefsteller” wird frische junge Liebe mit der Wirklichkeit des Krieges konterkariert. Nach einer zu kurzen Zeit der Zweisamkeit muss Er ins Feld ziehen.
Was bleibt ist ein rührender Briefwechsel, in dem nicht nur immer wieder aufs neue große Gefühle beschworen werden, sondern sich die beiden Liebenden nach und nach ihr ganzes Leben erzählen, wozu bisher die Gelegenheit fehlte. Bereits nach wenigen Seiten, kommt man als Leser nicht mehr los von dieser tragischen, aus origineller Perspektive betrachteten Geschichte eines Paares das wohl nie mehr zusammenkommen wird.
Abkühlung bei akuter Hitzewelle bietet “Der Schneesturm” von Vladimir Sorokin. Der ehemalige Erdöl- und Gas-Ingenieure hat sich in verschiedenen künstlerischen Ausdrucksformen versucht, bevor er als Schriftsteller das ihm gemäße Metier gefunden hatte. Er gehört einer starken Fraktion russischer Autoren an, die in ihren Arbeiten mit der Tradition des phantastischen Erzählens spielen.
“Der Schneesturm” ist ein leicht absurdes Märchen, rund um den Arzt Garin, der im tiefsten Winter zu einem weiter entfernt wohnenden Patienten um dringende Hilfe gerufen wird. Auf der gefährlichen Reise, zurückgelegt u. a. mit den Mini-Pferden eines angeheuerten Kutschers, gerät er in manch missliche Lage, an den Rand der Erschöpfung, und nach reichlich krassen Abenteuern, endlich ans Ziel, wo ihn weitere Überraschungen erwarten.
In der scheinbar zeit- und raumlosen Erzählung hat sich eine gewichtige Portion Zeitkritik am aktuellen Russland versteckt, die zu verstehen, eigentlich Kenntnis der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse im Land voraussetzt. Vladimir Sorokin kann man allerdings bedenkenlos genießen ohne jede Doppeldeutigkeit erkennen zu müssen. Er gehört sicher zu den besten, sprachgewaltigsten der zeitgenössischen Literatur in russischer Sprache.
Die Hauptfiguren in Ludmilla Ulitzkajas “Das grüne Zelt” pflegen Kontakte zu illegalen Literaturzirkeln und Dissidentengruppierungen. Deren “gemeinsamer Nenner war vermutlich ihr Abscheu gegen den Stalinismus, und natürlich das Lesen. Gieriges, besessenes Lesen.”
“Eine aktuelle Studie zeigt: Wer Romane liest, hat mehr Erfolg und sitzt weniger Vorurteilen auf. Liebesgeschichten, Krimis und Thriller sind besonders gut, Science-Fiction eher weniger.” (SZ online, 19. Juli 2016). Russische Literatur bietet darüber hinaus die Gelegenheit den persönlichen Horizont zu erweitern, indem man sich mit einem Kulturkreis beschäftigt, der in unseren gängigen Medien, im Unterricht der Schulen, den Auslagen der Bibliotheken und Buchhandlungen gemeinhin etwas zu kurz kommt. Aus ideologischen Gründen?
Durch diesen, bisher so wechselfälligen Sommer 2016, kann man berechtigerweise mit gemischten Gefühlen gehen. Seinen Lesefreuden und -lastern darf man sich dennoch ungehemmt und ohne Zurückhaltung hingeben. Die größte Schwierigkeit bei der Lektüre russischer Werke besteht in der Namensvielfalt der Figuren. Familienname, Vatername, Vorname samt mehrer Koseformen. Da ist man für jedes Personenregister zum Buch dankbar, wie man es z. B. im “Schiwago” findet. Man würde sich diese kleine Verständnishilfe öfters wünschen.
Die aktuellen Handelsbeschränkungen mit dem Reich des Ach-so-Bösen betreffen in erster Linie Maschinen und andere Industriegüter. Die reiche Fülle seiner und unserer Literatur aus Vergangenheit und Gegenwart steht auf keiner Embargo-Liste. Die Kraft des Geschichtenerzählens und grenzenlose Phantasie überwinden ohnehin alle kleinlichen Hemmnisse und Schranken.
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Ulitzkaja, Ljudmila: Das grüne Zelt. – dtv, 2014. Euro 12,90
Puschkin, Alexander: Die Hauptmannstochter. – Insel Verlag, 2014. Euro 8
Pasternak, Boris: Doktor Schiwago. – Axel Springer, 2011. Euro 7,95 (Leider nur noch in dieser “Nobelpreis Bibliothek” zu bekommen. Eine vernünftige Taschenbuch-Ausgabe fehlt derzeit.)
Schischkin, Michail: Briefsteller. – btb, 2014. Euro 10,99
Sorokin, Vladimir: Der Schneesturm. – Kiepenheuer & Witsch, 2014. Euro 8,99