2017. Das Jahr von DLS

Treibstoff aus Nüssen und Wohnen im All sind sicher zwei wichtige Trends der nahen oder ferneren Zukunft. Doch jetzt sind wir im Jahr 2017. Und jetzt kommt DLS.

Für zahlreiche aktuelle Statussymbole läuft die Uhr ab. PS-starke Geländewagen, hypergigantische Kreuzfahrt-Dampfer, löchrige Designer-Jeans, chromblitzende Kaffee-Automaten der 2000-EuroplusX-Klasse, Dauerkarten für Freizeitparks, opulente Grill-Orgien, selbstgestrickte Bimmel und Bommel, Reisen in exotische Inselstaaten. Out. Das Zeitalter von DLS hat begonnen. Oder wie das Zukunftsorgan BALD schrieb: „DLS – alle sind dabei!“

Erste Zeitschriften-Titel tauchen an den Kiosken auf: „Mein DLS“, „DLS-Lust“, „DLS-Idee“, „Mega-DLS“, „DLS für Landfrauen“, selbst die altbewährte Apotheken-Rundschau macht mit: „Mit DLS und ihrer Apotheke zu einem erfüllten und gesunden Leben.“

Die Buch-Verlage ziehen hektisch nach. Schon liegen die ersten Titel auf Sondertischen bei Dubenhugel und Co.: „DLS für Dummies“, „Mein Weg zum perfekten DLS“, „DLS in 10 einfachen Schritten“. Angekündigt sind Bücher von Til Schweiger („Mehr Wumm mit DLS“) und Barbara Becker („Jungbrunnen DLS.“) Die Kuppelspezialisten von Parshit werben: „Bei uns findest Du den idealen DLS-Partner“.

D, wie Denken, wie selber denken, kritisch denken, Skepsis pflegen. Folgenabschätzung erlebt einen ungeahnten Boom. „Zweifel sind das Beste, was einer Gesellschaft passieren kann“, schrieb Angelika Slavik in ihrem zu skeptischen Denken anregenden Essay auf „SZ Online“ an Neujahr 2017. Ein fulminanter Auftakt zum DSL-Jahr. Vor sich selbst macht dieses neue Denken nicht halt, wie Slavik betont: „Die Fähigkeit, die eigene Leistung zu hinterfragen, ist die erste und unabdingbare Voraussetzung für Exzellenz in jeder Disziplin.“

Die Volkshochschulen sind dabei. Kurs-Beispiele der vh Erkenschwick: „Ich bin Selbstdenker“, „Skepsis in allen Lebenslagen, I und II“. Voraussetzung für die Teilnehmer: Bereitschaft und Fähigkeit zu konzentriertem, ausdauernden Lesen selbst sperriger Texte.

L, wie Lesen. Lesen immer und überall. Wissen erwerben durch Lesen. Lesen mit Ausdauer, Bücher mit Gehalt und von Umfang. Aus Belesenheit und Wissen wird Bildung, grundlegende Voraussetzungen für eigenständiges Denken. Es werden wieder Bücher gekauft um sie zu besitzen. Planer von Neubauwohnungen haben erkannt: Jetzt sind Stellwände für Xtra-breite Regale gefragt.

Die neuen Leser sind bookish. Gedruckte Haptik erobert die Wohn- und Arbeitsräume, ja selbst die Kinderzimmer. In Bussen und Bahnen, auf Bänken und Wiesen, an Kaffeehaustischen – kaum noch jemand hält ein Smartphone vor die Nase. Die Container an den Sammelstellen füllen sich mit entsorgtem Elektroschrott. Die Renaissance des Buches ist allerorten spürbar. Fast vergessene Handwerke und Berufe kehren zurück: Papierschöpfer, Buchbinder, Antiquare. Qualifizierte Bibliothekare und Buchhändler werden händeringend gesucht.

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„Geben wir dem Buch seine Verantwortung zurück“, forderte Nina George auf den Leipziger Buchtagen im Juni 2016. „Ein Buch ist der Kontrollentwurf zur virtuellen Welt und seiner behaupteten ‚Schwarmintelligenz‘, die im Web kollektiv einen Konsensbrei aus Wissen und Vermutung anrührt, in kurzen, verdaulichen Texthäppchen – der schon am nächsten Tag aus der Timeline und aus dem Gedächtnis verschwunden ist.“ (Im Börsenblatt des Deutschen Buchhandels war das nachzulesen.)

S, wie Schreiben. Händisches, bewusstes Schreiben. Wohlüberlegtes, ausformuliertes Aufschreiben. Beschreiben als Selbstvergewisserung. Gedanken und Gedächtnis in Schriftform ohne Speicherprobleme und zur nachhaltigen Verfügbarkeit.

Geschäfte für alle Arten von Schreibwaren eröffnen neu. Kleine überladene Räume in denen zu finden ist, was das Herz der neuen Schreiber höher schlagen lässt. Feine Papiere, edle Füllfederhalter, Blei- und Buntstifte. Kladden und Tagebücher sind seit Tagen ausverkauft, neue Lieferungen werden erwartet, die Liste der Vorbestellungen ist lang.

Schreiner fertigen Steh- und Schreibpulte, Sekretäre, Schreibtische aus schwerer Eiche nach individuellen Wünschen. Die Menschen schreiben Tages- und Familienchroniken, Gedichte, Skizzen und Geschichten über Erlebtes und Erdachtes. Die gelbe Post war auf die einsetzende Flut handgeschriebener Briefe nicht vorbereitet.

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Lotte ist immer noch Bedienung in meiner Stammkneipe am Max-Brod-Platz. Dabei studiert sie längst BWL mit „Schwerpunkt Mergers and Acquisitions“, wie sie mir neulich stolz berichtete. Ob sie abkassieren könne, sie habe jetzt Feierabend. Meine rechte Wange lag noch auf der Druckerschwärze des Lokalblatts. Als meine Augen offen sind, sehe ich, dass ich genau auf einem Artikel geruht habe, der über die Schließung von Bücher-Hansi informiert, der letzten unabhängigen Buchhandlung in unserer kleinen Großstadt.

Hinaus ins Zwielicht abendlichen Schneetreibens. Mir kommt in den Sinn, dass ich meinem ausgeträumten Traum noch ein weiteres L anhängen könnte.

L, wie Laufen. Das neue Laufen heißt Spazierengehen, Schlendern, Promenieren. Sanftes Wandern auf den Spuren unserer Dichter. Mit Friedrich Schiller durch das Tal der Saale, mit Theodor Fontane durch Berlin und Brandenburg, mit Maria Müller-Gögler von Weingarten nach Schlier durchs Lauratal, bergauf, bergab mit Hermann Lenz in Stuttgart, mit Hölderlin von Hauptwil an den Bodensee und zurück in die schwäbische Heimat, mit Andreas Maier die Wetterau erkunden.

Denken und Gehen. Was für eine Symbiose. Damit beginnt eines der merkwürdigsten Bücher, das mir in letzter Zeit untergekommen ist.

„Ich kann auf meinen Spaziergängen die schwierigsten und verzwicktesten Gedanken denken, ohne von äußeren Einflüssen unterbrochen und gestört zu werden. Ich spaziere vor mich hin, meine körperliche Person mit ihren Beinen und Füßen auf ihrem Weg, mein Geist mit seinem Denken in seinen Gedanken.“ Bald schon trifft der Protagonist eine Gleichgesinnte, eine Beziehung bahnt sich an: „… ich habe gesehen, daß du ein Denker bist, du denkst beim Gehen, die ganze Zeit denkst du beim Gehen, das habe ich gesehen, und ich brauche einen Denker, ich sehne mich nach einem Denker …“ (Christoph Bauer, Jetzt stillen wir unseren Hunger. S. Fischer, 2001)

Sudeleien: Ende Juni 2012

Sehnsuchtsorte und Lieblingsworte,

Wellenspiel und Glücksgefühl

*

Beim Sovormichhinblättern im neu erworbenen Synonymen-Lexikon 1) (mein guter alter Textor: “Sag es treffender” war schon länger irgendwann irgendwie und irgendwo abhanden gekommen) kamen mir Lieblingsworte in den Sinn: Anmut und Habseligkeiten, Seitental und Hochland. Vor allem die ersten beiden, so liest man von Fachleuten, haben erstaunlicherweise in anderen Sprachen keine genauen Entsprechungen.

Und auch ein dickes Nachschlagewerk, das immerhin zu 28.000 Stichwörtern über 300.000 sinnverwandte Begriffe auflistet, tut sich schwer. Statt Anmut rät es zu Bezauberung, Liebreiz, Zauber und einigen anderen mehr oder weniger unpassenden Vokabeln. Noch weiter weg von des Wortes eigenem Sinn ist es bei den Habseligkeiten (für die ich auch keine Definition schreiben müssen möchte!): Besitz, Habe und Vorrat können jedenfalls als gleichwertiger Ersatz für etwas das viel mehr ausdrückt als schnödes materielles Eigentum, nicht ernst genommen werden.

Hochland finde ich zwischen Hochherzigkeit und Hochmut. Das ist bemerkenswert, und die Alternativ-Vorschläge sind diesmal durchaus brauchbar: Hochebene, Hochfläche, Plateau. Hochland mag ich nicht nur als wohlklingendes, leicht verheißungsvolles Wort. Sondern ganz besonders in Form jener damit definierten, realen Landschaftsformation. Sie eignet sich ideal für kleine und größere Fluchten, bei denen man den Mühen der Ebene entkommen, für einige Zeit über den Dingen stehen und eine neue Sicht auf Innen- und Außenwelt bekommen kann.

Seitental im Schweizer Hochland, Kanton Sankt Gallen

Seitental, dessen angemessener, alphabetisch vorgegebener Platz zwischen Seitensprung und Seitenteil gewesen wäre, unterschlägt die Enzyklopädie der Vokabeln. Pustekuchen (Lieblingswort!). Fehlanzeige. Seitentäler sind zwar in wirklicher Gegend oft schwer zu finden, das darf jedoch kein Grund sein sie aus unserem Wortschatz zu verbannen. Obwohl sie natürlich ideale Orte zum vorübergehenden oder länger währenden Sichverbergen sind. Je abgelegener, je abseitiger gelegen (das Seitental vom Seitental vom Seitental), umso größer meist der Abstand zu dem was wir als reales Leben ausgeben.

Wie der deutsche Bundestag und die ARD-Krimiserie “Tatort”, so geht auch der Blog = conlibri = einmal mehr in eine Sommerpause. Der Autor der hier stattfindenden Beiträge möchte diese Zeit mit reichlich Müßiggang (Lieblingswort!) verbringen. Aber nicht nur. Es gibt viel zu lesen, zu forschen, zu hinterfragen. Neue Orte sind zu erkunden, neuen Spuren ist zu folgen. Reichlich Material wird gesammelt, frische Kräfte werden getankt. Letzteres gewähren hoffentlich zwei Urlaubswochen, die keineswegs in Hochland oder Seitental verbracht werden. Nein, das Ziel der Sommerfrische (Lieblingswort!) liegt in diesem Jahr im Haupttal eines großen, stellenweise mitreisenden Flusses, der seinen Lauf vom Schweizer Gebirg‘ bis zur Donau gefunden hat. Mitte September geht es dann an dieser Stelle weiter. Mit neuen Ideen für Sudeleien und mal ernsthaftere, mal leichfüßigere Aufsätze über Bücher, Dichter und Denker.

Manchen zieht es in der Ferienzeit in oder auf die Berge, in Metropolen oder auf Inseln. Viele zieht “Das zitternde Glänzen der spielenden Wellen … ” 2) unwiderstehlich an. Immer noch gehen bei dieser Gelegenheit – und trotz Twitter und Co. – ungezählte Ansichtskarten Richtung Heimat. Worte und Sätze auf dem sehr begrenzten Platz des stabilen Kartons sind dabei meist von sparsamer bis spärlichster Aussage- und Sprachkraft. Der Eine oder die Andere mag da durchaus mehr wollen. Wem also Reisen, Freizeit, Urlaub gerne einmal willkommener Schreibanlass sind, der wird jetzt in anregender und kundigster Form unterstützt.

Hölderlin-Spuren in Hauptwil, Schweiz, Kanton Thurgau

“Schreiben auf Reisen” heißt ein neues Buch des schriftstellerischen und literturwissenschaftlichen Tausendsassas (Lieblingswort!) Hanns-Josef Ortheil, das pünktlich zur Hauptreisezeit bei Duden erschienen ist. Er verbindet dabei praktische Hinweise mit einem stimmungsvollen Streifzug durch bekannte und weniger bekannte Beispiele von Reisebeschreibungen. Aber Vorsicht: Die Lektüre, besser das Studium, dieses hübschen Bändchens, dessen Äußeres den bekannten Moleskine-Notizbüchern nachempfunden wurde, kann zu nicht unerheblichem Leistungsdruck führen. Ortheil hat jedem der 19 Kapitel einige, den Willigen fordernde, Schreibaufgaben angefügt.

Spuren eines Klassikers in Leipzig-Gohlis

“Wanderungen, kleine Fluchten und große Fahrten – Aufzeichnungen von unterwegs” heißt es im Untertitel von “Schreiben auf Reisen”. Dafür sollte man auf jeden Fall mit geeignetem Werkzeug ausgerüstet sein. Der klassische Federkiel (Lieblingswort!) ist dafür weniger geeignet. Zweckmäßig sind hingegen gespitzte Bleistifte und funktionstüchtige Kugelschreiber. Und eine handliche, beim Unterwegssein nicht störende, Kladde. Zum Beispiel das quietschgelbe Universal-Notizbuch von Reclam, das jetzt in neuer attraktiver Aufmachung und Komfort-Ausstattung zu bekommen ist. Wohlfeil (Lieblingswort!) zu erwerben, begleitet es leichtgewichtig und kleinformatig zum Kaffeehaustisch, zur Ruhebank am Waldesrand und zum Strandkorb am Sandstrand.

Keine Spur von Goethe!

Wer schreibt, liest. Meist mehr und oft, um nicht zu sagen unentwegt (fast Lieblingswort). Der Platz im Reisegepäck zwischen Bade- und Wanderhose wird also für abwechslungsreiche Lektüre benötigt. Ich packe meinen Koffer und es kommt hinein:

Das wunderschöne, fast übersehene, “Karl Philipp Moritz-ABC” (Eichborn, 2006), das Lothar Müller zusammengestellt hat und von Akademie bis Zerstörung, kommentierte Texte und Textauszüge des großen Psychologen und Schriftstellers, zudem informative Einführung und ausführliche Zeittafel, bietet.

Der Gedichtband “Ich muß mein Herz üben” von Angela Krauß, auf den mich Sigrid Damm aufmerksam machte, der als Band 1315 der Insel-Bücherei erschienen ist, zahlreiche Zeichnungen von Hanns Schimansky enthält und mit diesen Versen endet: “Und dann in keiner Landschaft niedergehn, / die diesem Leben gleicht. / Und stehn!”

“Die Zugvögel”, Erzählungen (Aufbau, 1981, nur noch antiquarisch) von Martin Andersen Nexö, weil skandinavische Autoren für mich immer noch eine Herzensangelegenheit (Lieblingswort!) sind, der Däne Nexö (1869 – 1954) lange am Bodensee und in Dresden lebte und seine realistische Erzählweise neben spannender Handlung viel Sozialgeschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschreibt.

“Der Turm” von Uwe Tellkamp, weil es langsam zur Tradition wird, in jedem Urlaub einen neuen Versuch zu wagen, in diesem Mammutwerk über Dresden und das in der pseudosozialistischen DDR an den Rand gedrängte Bildungsbürgertum, entscheidend voranzukommen.

Und eine umfassende Biographie werde ich auf jeden Fall noch mitnehmen; aber ich schwanke, ob ich nahtlos mit Damm und ihrem „Das Leben des Friedrich Schiller. Eine Wanderung“ weitermache, mich für den “Novalis” von Wolfgang Hädecke entscheiden soll oder ob es doch der in diesem Jahr so angesagte “Hermann Hesse” wird – “Der Wanderer und sein Schatten”, nennt Gunnar Decker seine viel gelobte und empfohlene Biographie über den Dichter, der ansonsten im Jubiläums-Wahn nun endgültig unters Rad zu kommen droht.

*

1) Bulitta, Erich: Das grosse Lexikon der Synonyme. 2. Aufl. – S. Fischer, 2007

2) “Das zitternde Glänzen der spielenden Wellen versilbert das Ufer, beperlet den Strand.” (Lieblingslied!) Georg Friedrich Händel: HWV203. Text: Heinrich Brockes

Vom Schreiben

Am 29. Juni ist neuerdings der “Tag des Schreibens”

“Zu schreiben endlich er sich setzet,
Ein Blättlein nimmt, die Feder netzet – “ (Eduard Mörike) (1)

„Wir feiern das Schreiben“, heißt es auf der Website von Suite101, einem kommerziellen Autoren-Netzwerk, das von Berlin und Vancouver aus, vor allem aber im WWW, agiert. Jetzt will man den Versuch wagen „im hektischen Informationszeitalter einmal inne zu halten und sich einen Tag lang zu bemühen, richtig zu schreiben und korrekt zu formulieren“. Und hat gleich einmal den 29. Juni zum „Tag des Schreibens“ erklärt. (2). Der Aktionstag hat das Ziel für eine bessere Schriftsprache zu werben. Unterstützung kommt dabei von bekannten Namen – wie etwa Frank Schätzing, Heinz-Rudolf Kunze und der Cosmopolitan-Chefredakteurin Petra Winter. Mit ins Boot bekommen hat man u. a. auch Microsoft Network (MSN) und das Online-Magazin netzpiloten.de.

Vom Schreiben. Kurz vor dem „Tag des Schreibens.“ Anlass, dieser weitestgehend unterschätzten, vielfältigen Tätigkeit einmal unsortiert und absichtslos Fetzen eigener Erinnerung, sowie markante aufgelesene Äußerungen und Überlegungen bekannter Denker und Schreiber zu widmen.

“Es kratzt und schleift, schnarrt, kreiselt und zwitschert; es pocht, hämmert, klingelt, knattert; es schnalzt, schneuzt, schnurrt, schlozt und piept; es ist Atem zu hören, dann Stille, jemand rutscht auf dem Stuhl hin und her, scharrt mit den Füßen, reibt mit der flachen Hand Oberschenkel und Tischkante, klopft mit den Fingern einen ungeduldigen Takt, schnieft hemmungslos. Kurz gesagt: Jemand dichtet.” (Peter Härtling) (3)

Mit etwa zehn Jahren schrieb ich den ersten Zeitungsartikel. Mit Hand, auf liniertes Papier. Für ein vierseitiges, in einer Auflage von mühselig erzeugten fünf Exemplaren, und als Periodikum gedachtes Organ mit dem ambitionierten Titel das “Das Große im Kleinen”. Alles daran war Handarbeit. Pflichtabnehmer zum Preis von 10 Pfennigen waren Familienangehörige. Es erschien nur eine Ausgabe.

“In einer kahlen Kammer, Dachstube oder Mansarde saß an einem Möbel, das den schönen Namen Schreibtisch durchaus nicht verdiente, der junge Poet. Er dichtete und träumte.” (Robert Walser: Poetenleben, zitiert nach) (4)

“Der Tisch, an dem ich dies schreibe, ist 76,5 cm hoch, seine Platte 69,5 mal 111 cm groß. Er hat gedrechselte Beine, eine Schublade, er mag siebzig bis achtzig Jahre alt sein, er stammt aus dem Besitz einer Grosstante meiner Frau, die ihn, nachdem ihr Mann in einem Irrenhaus verstorben war und sie in eine kleinere Wohnung zu, ihrem Bruder, dem Grossvater meiner Frau verkauft.” (Heinricht Böll: Versuch über die Vernunft der Poesie. Nobelpreisrede, 1972, zitiert nach) (4)

Mit siebzehn oder achtzehn Jahren habe ich im Rahmen einer Verlagsausbildung für eine Fachzeitschrift redigiert und korrigiert, durfte bald schon eigene kleine Artikel und Glossen schreiben und veröffentlichen. Ideensammlungen, Skizzen und Gliederungen entstanden handschriftlich, die Endfassungen zunächst auf einer mechanischen, bald schon auf einer nagelneuen elektrischen Schreibmaschine. Sie wurden in Blei auf einer “Heidelberger” gesetzt, vom Handsetzer umbrochen und im Hochdruck-Verfahren zum Bestandteil der fertigen Zeitschrift. Diese Zeilen hier, entstanden im Juni 2011, wurden mittels Tastatur auf die Festplatte eines schon etwas angejahrten PC getippt. Beim Setzen, Umbrechen und Gestalten hat mich “wordpress” unterstützt. Ich “erscheine” selbstverständlich world wide.

“Ich schreibe am Stehpult, mit der Hand und mit der Maschine. Und ich schreibe laut, das heißt, ich kaue den Satz und spucke ihn wieder aus und kaue ihn noch mal, mache ihn mundgerecht und schreibe fertig, beides zugleich. Ich verstehe Literatur als einen oralen Vorgang. Der Beginn der Literatur ist das Erzählen gewesen, das laute Erzählen und das Wiedererzählen.” (Günter Grass) (5)

Ich schreibe gerne mit Hand. Am besten fühlen sich Bleistift oder Tintenfüller an. Kugelschreiber verweigern das Aufkommen sinnlicher Gefühle hingegen meist. In früher Schulzeit hatte ich in Schönschrift (dieses Schulfach gab es tatsächlich einmal) eine sehr schlechte Note, die mir zuhause großen Ärger einbrachte. Dabei habe ich mit meinen Freunden in der Freizeit sehr gerne geschrieben. Mit Blei oder Tinte auf großformatige Zeichenblätter, auf sommerbraune Jungen- oder Mädchenrücken, auf eingegipste Arme und Beine, mit Kreide auf Gehwege und allzu kahle Wände. Später haben wir Texte aus Büchern abgeschrieben. Sinnfrei, nur um des Schreibens willen.

“Man könnte den jungen Schreibern daher raten: Suche eine sehr schöne Frau etwa deines Alters und vermeide es, dich in sie zu verlieben. Halte aber die Liebesversuchung am Glimmen und wechsle jeden Tag mir der Schönen einige Briefe. Schreib über alles und nichts, über den Winter, deine Wohnung oder die Milch beim Aufkochen, und du wirst sehen: Nie hast du freier, schöner, bewegter und unverkrampfter geschrieben…” (Hanns-Josef Ortheil, der diese Empfehlung aus seiner Kenntnis des Briefschreibers Rilke ableitete.) (6)

ZumTagebuchschreiben kam ich relativ spät, dann war es aber gleich Zeitgeschichte:
“18. April 1967: Sehr schwer in der Schule (Deutschland bangt um Konrad Adenauer) – 19. April 1967: Rhöndorf, 13.31 Uhr. Tod des Altbundeskanzlers Adenauer. Nach einem erfüllten Leben schied der 91-jährige nach kurzer schwerer Krankheit, sanft aus dem Leben. – 20. April 1967: Tiefe Trauer um Konrad Adenauer. – 22. April 1967: Ich glaube ich muß mich in der Schule mehr anstrengen, ich will es versuchen.”

Versuche, Tagebuch mit Schreibmaschine, später dem PC, zu führen, erwiesen sich als schwer durchführbar. Da war ein Widerstand, passte etwas nicht zusammen. Und so blieb es bei eher sporadischen, aber immer handschriftlichen Einträgen in zunächst sehr unterschiedlichen Kladden. Seit einigen Jahren ist es immer wieder das karierte, schwarz gebundene Moleskine im A 5-Format.

“Der Dichter ist immer im Dienst. Ich brauche keine Rituale, sondern Hefte und Stifte. Ansonsten kann ich überall schreiben und in jedem Zusammenhang … Ja, ein Heft ist immer dabei. Ich versuche stets rasch zu reagieren, schnell etwas festzuhalten. Ganz im Hintergrund steht natürlich auch dieses großartige Vorbild Lichtenberg, der ohne Selbstzensur alles in seine ‘Sudelbücher’ geschrieben hat, was ihm durch den Kopf ging.“  (Robert Gernhardt) (7)

Von Herlinde Koelbl gibt es zwei wunderbare Bücher über Schriftsteller und ihr Schreiben. (5,7) Sie zeigen uns in stimmungsvollen Fotografien wie und wo Schreiben stattfindet, in welcher Umgebung, sowie eigenwillige Werk-Stätten, Werkzeuge und Materialien, die für solche einsamen Schreibprozesse benötigt werden. Die Bilder werden durch ausführliche Gespräche mit den abgebildeten Künstlern ergänzt. Es sind sehr persönliche, fast intime Interviews, die es dem Leser erlauben, auf diese Weise den Dichter-Persönlichkeiten näher zu kommen. Der Band “Im Schreiben zu Haus” enthält über 40 Portraits von H. C. Artmann und Peter Bichsel, über Ernst Jandel und Friederike Mayröcker bis Martin Walser und Christa Wolf. In dem neueren Buch “Schreiben!” finden wir Günter Grass und Sarah Kirsch, Elfriede Jelinek, Herta Müller, Ingo Schulze und viele andere. Einige Personen sind in beiden Bänden vertreten.

“Wenn jemand schreiben möchte, und zwar Literatur, kann man ihm einen einfachen Rat geben: Lesen und schreiben. Einfach an dem Rat ist vor allem, ihn zu geben; aber wer es sich einfach machen will, der fängt ohnehin nicht zu schreiben an.” (Peter Glaser) (8) Das Schreiben. Dem Einen ist es Lust, dem anderen Neurose: “Ich habe zu schreiben, so viel und wie der Zwang es will, ob ich mag oder nicht, ob ich mich krank mache oder nicht”, bekannte Hans Fallada (9).

Vom Schreiben also. Da uns nur noch wenige Tage vom „Tag des Schreibens“ trennen. Ich denke auch an SMS, E-Mail, Twitter, Chat und Co. Kreativität oder Anarchie? Sind die weit verbreitete Floskelei, Verstümmelung und Orthographie-Verweigerung nun Gewinn oder Verlust für zwischenmenschliche Kommunikation, das Gespräch, den Meinungs- oder Erfahrungsaustausch? Kommen wir uns näher, machen wir uns verständlicher, verstehen wir uns letztendlich besser? Und vor allem: Gefällt uns, was da geschrieben wird und auch gelesen werden soll? Oder anders gefragt: Zählt nur noch die nackte Information in irgendwie verständlicher Zeichenfolge, sind Form und Fassung wirklich gleichgültig geworden?

“Schön schreiben heißt beinahe schön denken, und von da ist es nicht mehr weit zum schönen Handeln.” (10) Tief ist der Brunnen der Vergangenheit aus dem dieser Satz stammt. Er wurde von Thomas Mann geschrieben. Für den “Tag des Schreibens” am 29. Juni fördern wir ihn wieder zu Tage. Neongrell grüßt er hoch definiert von Video-Walls und aufmunternd mahnend aus Hochglanz-Journalen. Übrigens: Ein “Tag des Schreibens” ist mir zu wenig. 365 Tage im Jahr sollten es schon sein.

Anregungen und Zitate rund um das Thema “Schreiben” habe ich den nachfolgenden Werken entnommen. Sie bieten jederzeit auch eine ertrag- und genussreiche, auf jeden Fall weiterführende Lektüre.

(1) Dieses Zitat ist aus dem Gedicht “Der alte Turmhahn” von Eduard Mörike
(2) Hier der Link zum ab- und mitfeiern: „Wir feiern das Schreiben“
(3) Fischer, Sabine (Bearb.): Vom Schreiben, 2. Der Gänsekiel oder Womit schreiben? (Marbacher Magazin, 69). – Marbach am Neckar, 1994
(4) Kienzle, Rudi (Bearb.): Vom Schreiben, 4. Im Caféhaus oder Wo schreiben? (Marbacher Magazin, 74). – Marbach am Neckar, 1996
(5) Koelbl, Herlinde: Schreiben!. 30 Autorenporträts. – München, 2007
(6) Ortheil, Hanns-Josef: Lesehunger. – München, 2009
(7) Koelbl, Herlinde: Im Schreiben zu Haus. Wie Schriftsteller zu Werke gehen. – München, 1998
(8) Porombka, Stephan (Hrsg.). Erst lesen. Dann schreiben. 22 Autoren und ihre Lehrmeister. – München, 2007
(9) Braun, Peter: Dichterleben – Dichterhäuser. München, 2005
(10) Mann, Thomas: Der Literat. In: Essays, Bd. 1. – Frankfurt am Main, versch. Jahre