Georgische Momente

Über Begegnungen mit Nino Haratischwili und Zurab Karumidze.

Georgischer Wein ist hierzulande schwer zu bekommen. Haben wir nicht im Angebot, teilt der lokale Handel auf Nachfrage mit. Natürlich wird man schließlich im Internet fündig. Ein Saperavi, Kindzmarauli und ein Tsinandali werden angeboten. Der Weißwein „Goruli Mtsvane“ vom georgischen Spitzenweingut Château Mukhrani wird aus der autochthonen georgischen Rebsorte Goruli erzeugt, die Trauben werden ausschließlich per Hand gelesen. Das erfahre ich auf der Seite des Bremer Weinkolleg. Hanseaten hatten schon immer ein Händchen für Weinimporte.

Wein fließt reichlich in die Kehlen der Protagonisten von Nino Haratischwilis großem georgischen Generationenroman Das achte Leben (für Brilka). Fast genauso häufig erfahren wir darin vom Genuss feiner Trinkschokolade deren Zubereitung und Verzehr zelebriert wird. Rezepturen der Vorfahren werden in den Familien vererbt und gehütet wie Goldschmuck.

Die Schokolade war zäh und dickflüssig, schwarz wie die Nacht vor einem schweren Gewitter, und wurde in kleinen Portionen, heiß, aber nicht zu heiß, in kleinen Tassen und – im Idealfall – mit Silberlöffeln verzehrt. Für dieses Jahrhundert-Buch und ihre Theaterstücke wurde die Schriftstellerin in Augsburg mit dem Bertolt-Brecht-Preis ausgezeichnet.

Der Frühsommer hatte sich in den April verirrt. Ein warmer weicher Nachmittag und Abend am Tag der Preisverleihung im Goldenen Saal des Augsburger Rathauses. Hier die vergangene Pracht der einst reichen Fuggerstadt, draußen junges Leben und Treiben, Sonne und aufkeimende Frühlingssäfte riefen auf die Plätze und in die Gassen. Cafès und Biertische waren dicht besetzt, luftige Kleider, kurze Hosen, bare Füße allerorten. Gesprächsfetzen, Lachen und Rufen in der Luft. Brecht-Erbe Wecker im Sinn. Wenn der Sommer nicht mehr weit ist und die Luft nach Erde schmeckt, ist´s egal, ob man gescheit ist, wichtig ist, daß man bereit ist und sein Fleisch nicht mehr versteckt … Wenn der Sommer nicht mehr weit ist und der Himmel ein Opal, weiß ich, dass das meine Zeit ist …

Nino Haratischwili ist jetzt Mitte dreißig. Natürlich die jüngste Preisträgerin. Drei Romane und zahlreiche Theaterstücke sind von ihr bereits erschienen und aufgeführt worden. Aus Neigung zu dieser Sprache hat sie in der Schule früh Deutsch gelernt und bereits sehr jung begonnen in deutscher Sprache zu schreiben. Brechts Kaukasischer Kreidekreis war eines der ersten Theaterstücke die sie in Tiflis sah, sie beeindruckt und geprägt hat. 1998 gründete sie eine deutsch-georgische Theatergruppe, schrieb, inszenierte und spielte vier erste Stücke auf Deutsch. In Tiflis studierte sie Filmregie, in Hamburg Theaterregie, hier lebt sie inzwischen mit ihrer Familie. Schon 2008 erhielt ihr Drama Liv Stein einen Autorenpreis auf dem Heidelberger Stückemarkt.

Foto: Birgit Böllinger

In seiner Begrüßung der Preisträgerin wies Kultur-Bürgermeister Kiefer auf Brechts durch eine alte Legende angeregte Kalendergeschichte vom Augsburger Kreidekreis hin, eine Vorarbeit zum späteren Theaterstück Der Kaukasische Kreidekreis. In der Begründung für die Preisverleihung heißt es: Nino Haratischwilis Romane und Theaterstücke lassen sich mit den großen Exildramen Bertolt Brechts in Verbindung bringen. Und FAZ-Ressortchef Andreas Platthaus fand für seine Laudatio die Formel: Wenn Bertolt Brecht das epische Theater erfunden hat, dann Nino Haratischwili die theatralische Epik.

Im Herbst ist Georgien Gastland der Frankfurter Buchmesse 2018. Es besteht kein Zweifel, dass bei dieser Gelegenheit georgischer Wein an einschlägigen Messeständen zum Ausschank kommen wird. Viel wichtiger jedoch ist mir, dass zu diesem Zeitpunkt der neue Roman einer großen europäischen, aus Georgien stammenden Schriftstellerin erscheint. Wenn ich in Augsburg richtig hingehört habe, wird er den Titel Die Katze und der General tragen.

Der sommerliche Frühling in Ulm steht jenem in Augsburg in nichts nach. Hier wie dort atmet die Stadt auf und findet sich allerorten leichtlebiges Treiben und Sehnen. Zudem ist Literaturwoche an der Donau. Im Künstlerhaus bestand Gelegenheit zur Begegnung mit dem georgischen Autor Zurab Karumidze und seinem Übersetzer und Verleger Stefan Weidle. Die beiden hatten den Roman Dagny oder ein Fest der Liebe mitgebracht.

Kurz kam die Frage auf, ob Weidle wohl der georgischen Sprache mächtig sei. Dem ist nicht so. Karumidze hat das Buch in englischer Sprache verfasst. Neben der Muttersprache und Russisch seine dritte Sprache, wie er es formulierte. Karumidze lebt in Tiflis, doch sein Roman ist kein ausgesprochen georgisches Buch, Thema und Personal sind europäisch, die Abläufe universell.

Zarub Karumidze und Stefan Weidle (rechts)

Die Norwegerin Dagny Juel war ein Modell Edvard Munchs, etwa für seine bekannte Madonna. Strindberg verliebte sich in sie und reagierte bösartig als er auf Ablehnung stieß. Sie heiratete den polnischen Schriftsteller Stanislaw Przybyszewski und war mit ihm in Berliner Künstlerkreisen unterwegs. Przybyszewski verkaufte die Muse an seinen Bewunderer Wladyslaw Emeryk. So kam sie nach Tiflis.

Dagny Juel hat selbst Gedichte und kurze Dramen (in norwegischer Sprache) geschrieben, die Karumidze in seinem Buch immer wieder in englischer Version zitiert. Verleger Weidle möchte diese Werke demnächst als eigenen Band herausgeben. Am 4. Juni 1901 wurde Dagny von einem nicht erhörten Liebhaber in Tiflis erschossen und dort an ihrem 34. Geburtstag beerdigt. Als Aristokratin von Geburt und Charakter war Dagny Juel wie ein frischer Wind für die Männer, die atemlos nach ihrer Position in Kunst und Leben suchten.

Die in Ulm gelesenen Ausschnitte stellten ein herausforderndes Buch vor, eine tiefgründige Geschichte, frivol, erotisch, ebenso offen in der Sprache wie verschlüsselt in seinen Anspielungen. Die Hauptfigur ein Spielball männlicher Launen, Lüste, voll pornophonischem Lebensekel. Ein postmoderner Roman sei das, wurde als Kategorie bemüht. Der Begriff metamodern wurde erprobt. Doch wozu Klischees? Jedes literarische Werk steht letztlich für sich.

Weidle verwies auf die breite und tiefe literarische Vorbildung des Verfassers und dessen zahlreiche Reminiszenzen an die Weltliteratur, die sich nur mit entsprechender Leseerfahrung erschließen. In diesem Zusammenhang forderte er dazu auf nicht nur aktuelle Bücher zu lesen, sondern immer wieder zu den Klassikern, den alten und den modernen zu greifen. Ein berechtigtes Ansinnen. Sein persönlicher Hausgott, ließ er noch wissen, ist Heimito von Doderer.

Zwischendurch sangen Autor und Verleger Norwegian Wood im Männerduett. Warum wurde nicht so recht klar, kam aber gut an. Der volle Bass Karumidzes ist so beeindruckend, dass der Wunsch geäußert wurde, er möge mit seiner Stimme noch etwas auf Georgisch vortragen. Er wählte eine Passage aus dem über 850 Jahre alten georgischen Nationalepos Vepkhis t’q’aosani (zu deutsch: Der Recke im Tigerfell) des Dichters Rustaveli. Ein wohltönender Vortrag.

Georgien ist die ursprüngliche Heimat des Weines und des kultivierten Weinbaus, behaupten Fachleute. Archäologen haben im Land Weinrebsamen entdeckt, die 5.000 Jahre alt sind. Sie können in Tbilissi im Museum des Weininstitutes bewundert werden.

Nino Haratischwilis Achtes Leben (für Brilka) habe ich kurz nach Erscheinen gelesen. Verschlungen, genossen und bewundert. Ob ich über kurz oder länger zu Dagny oder ein Fest der Liebe greifen werde, ist nicht absehbar. Allerdings kann kaum etwas anderes einen selbst so überraschen wie Wendungen und Launen der Leselust. Und irgendwann wird vielleicht ein Glas das beim Lesen vor mir steht mit georgischem Wein gefüllt sein.

Leipziger Begegnungen 2013

Autoren, Bücher, Themen rund um die diesjährige Buchmesse und das Literaturfest “Leipzig liest”

Der zweite Teil

“Ich habe in meinem ganzen Leben außer meinem Sparbuch noch nie ein Buch gelesen.” Behauptete neulich in einem Interview Heinz Georg Kramm, besser bekannt als Heino, seineszeichens LandaufLandab-Sänger („Schwarzbraun ist die Haselnuss“). Und der nachdenkliche Alphabet und verwirrte Vielleser wundert sich, auf was man im Land gut gefüllter Festgeldkonten und hormongesteuerter SUV-Piloten noch so alles stolz sein kann. – “Vorsicht Buch!” möchte man da hilfreich und warnend zugleich zurufen. Und so heißt denn auch – aber nicht nur deshalb – die neue Image-Kampagne der Buchbranche, die in Leipzig gestartet wurde und die in Zukunft die Republik flächendeckend überziehen soll. Wen sie wohl erreichen kann und ob sie bei hartnäckigen Fällen wie Herrn Kramm noch etwas bewirken wird?

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Das Buch sucht neue Leser- und Käuferschichten. Dazu schlägt die Buchbranche ab sofort kräftiger auf die Werbe-Trommel.

Hier können auch Kleine groß rauskommen. Die Buchmesse in Leipzig ist der ideale Platz für kleinere und unabhängige Verlage sich einem offenen Publikum vor Ort und einer breiteren Öffentlichkeit via berichtender Massenmedien zu präsentieren. Deshalb kommen sie Jahr für Jahr gerne wieder (und weil Frankfurt sowieso zu teuer ist!). Die meist schmalen, dafür oft sehr phantasievoll gestalteten Stände, gehören für Kenner zu den wirklichen Messe-Höhepunkten. Mit der “Leseinsel junger Verlage” wurde zudem für die Autoren dieser Marken ein ideales Podium geschaffen um leibhaftig und vor sehr interessierten und aufgeschlossenen Menschen aus den frisch verlegten Werken vorzutragen.

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Anselm Neft liest aus seinem Roman „Hell“ der im Satyr-Verlag erschienen ist.

Kurt Wolff war eine der profiliertesten Verleger-Persönlichkeiten in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Einige Zeit Weggenosse von Ernst Rowohlt, etablierte er 1912 sein eigenes Unternehmen. Im Leipziger Kurt Wolff Verlag erschienen neben vielen anderen Franz Kafka und Gottfried Benn, Georg Trakl, Frank Werfel und Walter Hasenclever. Die im Jahr 2000 gegründete Kurt Wolff Stiftung – deren Vorstand der umtriebige Stefan Weidle (Weidle Verlag) anführt – hat sich die Förderung einer “vielfältigen Verlags- und Literaturszene” zum Ziel gesetzt. Jährlich verleiht sie auf der Leipziger Buchmesse den Kurt Wolff Preis in mehreren Kategorien.

In diesem Jahr ging der Hauptpreis an den Wallstein Verlag, “der seit gut einem Vierteljahrhundert in sorgfältigen und gestalterisch anspruchsvollen Editionen die deutsche Literatur seit dem 18. Jahrhundert mit der Zeit- und Wissenschaftsgeschichte verknüpft und zugleich der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur eine herausgehobene Plattform bietet.” Den Förderpreis bekam das noch ganz junge Berliner Unternehmen “binooki.” Die Gründerinnen Selma Wels und Inci Bürhaniye verlegen zeitgenössische türkische Belletristik in deutscher Sprache. Zielgruppe sind in erster Linie die vielen Mitbürger im Lande mit türkischen Wurzeln, aber auch bei deutschen Muttersprachlern sollen diese, meist erstmals ins Deutsche übersetzten Werke, das Interesse an der aktuellen Literaturszene in der Türkei wecken.

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Der Leipziger Messestand von „Binooki“. Das Regalsystem ist nicht von Ikea, sondern besteht aus leeren Weinkisten. Die Verlegerinnen streuten das Gerücht, dass sie die darin enthaltenen Flaschen selbst ausgetrunken hätten.

Eine wirklich gute Idee hatte auch der mairisch Verlag. Er ist in Hamburg ansässig, pflegt ein recht buntes Programm und erfand jetzt kurzerhand den „indiebookday“ (den es allerdings in den USA schon länger gibt ;-)), angelehnt an die unabhängigen Plattenlabel (die sog. „Indielabel“) in der Musikindustrie. Der erste deutsche indiebookday fand am 23. März statt. An diesem Tag wurden Buchliebhaber aufgefordert in einen Buchladen ihrer Wahl zu gehen und ganz gezielt ein Buch zu kaufen, das aus einem Indie-Verlag stammt. Danach sollte ein Foto des Covers, des Buches, vielleicht sogar von Käufer mit Buch, in einem sozialen Netzwerk (Facebook, Twitter, Google+) oder einem Blog unter dem Stichwort „Indiebookday“ veröffentlich werden. Wer die Aktion gut findet, wird zudem gebeten darüber zu reden oder zu schreiben. Die für den Anfang nicht ganz schlechte Resonanz dieser Kampagne kann im Netz besichtigt werden.

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Keine Werbekampagne braucht es hingegen für Zeitgenossen wie den von mir sehr geschätzten Filmregisseur und bekennenden Bücherfreund Christian Petzold (“Wolfsburg”, “Gespenster”, “Barbara”). Als ihm jüngst ein gut dotierter Preis verliehen wurde und man wissen wollte, was er mit dem Geld vorhabe, antwortete er: “Zu einer Weltreise habe ich keine Lust. Ich glaube ich kaufe mir noch mehr Bücher.”

Zur Nachahmung empfohlen. Verlassen Sie dazu die viel beschrittenen Pfade der gleichgeschalteten Konsum-Boulevards, all die von Manhattan, Esprit, H & M, C & A, K & L, P & C, Schuh-Paradiesen, Jeanshallen, MacDings und Kauf-Bums gesäumten 1A-Lagen; meiden Sie die als Buchhandlung nur noch deklarierten öden Großflächen, deren Zukunft mehr als ungewiss ist. Biegen Sie ab in die Nebenstraßen, die Winkelgassen und versteckten Plätze. Wenn Sie dort irgendwo den Hinweis “VorsichtBuch!” entdecken – ignorieren Sie ihn. Betreten Sie den Laden trotzdem. Zum zwanglosen Stöbern und Schmökern, zum Entdecken und zu angenehmen Gesprächen über Literatur (!) mit kundigen Buchhändlern und Buchhändlerinnen.

Hier beispielhaft einige aktuelle Neuerscheinungen der erwähnten kleineren undoder jüngeren, auf jeden Fall aber medienkonzern-unabhängigen Verlage, deren  Produktion Sie dort möglicherweise begegnen werden:

Satyr-Verlag

Neft, Anselm: Hell. Roman, 2013. Euro 19,90

Bartel, Christian: Grundkurs Weltherrschaft. Bekenntnisse eines Ausnahmeathleten, 2013. Euro 11,90

binooki

Canigüz, Alper: Söhne und siechende Seelen, 2012. Euro 14,90

Boralioglou, Gaye: Der hinkende Rhythmus. Roman, 2013. Euro 15,90

Wallstein

Piwitt, Hermann Peter: Die Gärten im März. Roman, Neu aufgelegt 2013. Euro 19

Kögl, Gabriele: Auf Fett Sieben. Roman, 2013. Euro 17,90

Stahl, Daniel: Nazi-Jagd: Südamerikas Diktaturen und die Ahndung von NS-Verbrechen, 2013. Euro 34,90

mairisch Verlag

Paul, Stevan: Schlaraffenland. Ein Buch über die tröstliche Wirkung von Milchreis, die Kunst, ein Linsengericht zu kochen und die Unwägbarkeiten der Liebe. 15 Kochgeschichten, 2012. Euro 18,90 (wurde in Leipzig als Geheimtip gehandelt.)

Volandt & Quist

Gomringer, Nora: Ich werde etwas mit der Sprache machen, 2011. Euro 14,90. (s. a. Teil 1 der Leipziger Begegnungen 2013)

Gomringer, Nora: Monster Poems. Mit Illustrationen von Reimar Limmer, 2013. Euro 17,90

Schöne Bescherung! – Der Gabentisch 2012

„Lesen ist nicht wie Musik hören, lesen ist wie musizieren.“ (Martin Walser)

Lichterglanz und Glockenbimmel. Schneegestöber, Glühweindampf und Bratwurstduft. Schon ist es wieder Mitte Dezember. Höchste Zeit für den Weg in die festlich dekorierte Lieblingsbuchhandlung. Gönnen wir uns in diesen kalten Tagen ein erwärmendes Schnupper- und Einkaufserlebnis in originellen, breit sortierten kleinen Handlungen fürs gute alte, immer wieder schön gedruckte und gebundene Buch. Hier sind meine Ideen für den Gabentisch, für unter die Tanne-Fichte, zum den Nächsten und Liebsten in die Hand drücken, oder zum Sichselbstbeschenken.

Rammstedt. In diesem Herbst ist auch der lustige, erstaunlicherweise aus Bielefeld stammende (doch längst in Berlin ansässige) Tilman Rammstedt (“Der Kaiser von China”) wieder mit einer Neuerscheinung vertreten. Und die hat es in sich. In “Die Abenteuer meines ehemaligen Bankberaters” geht es viel weniger um den Bankberater eines Protagonisten namens Tilman Rammstedt, als vielmehr um dessen Briefwechsel mit dem american heroe Bruce Willis. “Sehr geehrter Herr Willis, geht es Ihnen gut?” Der Briefverkehr verläuft allerdings sehr einseitig, denn der Schauspieler antwortet nicht. Was sich daraus entwickelt, und wie es mit dem Bankberater weitergeht ist virtuos und hochkomisch. Ein Buch für alle, die sich einfach einmal richtig amüsieren möchten. (Dumont, 2012. Euro 18,99)

Haas. Wenn es jemanden gibt der den “neuen Haas” noch nicht hat, kennt oder las, sollte man diesen Menschen auf jeden Fall mit der “Verteidigung der Missionarsstellung” beglücken. Im Gegensatz zu dem, was der Titel vielleicht vermuten lässt, handelt es sich keineswegs um eine nahe Verwandtschaft der Grauschatten-Machwerke. Raffiniert, witzig und spannend, wird uns hier echter Unterhaltungs-Mehrwert auf überdurchschnittlichem Niveau geboten. Für den erstmal auf den Geschmack gekommenen Leser leider viel zu kurz. (Hoffmann und Campe, 2012. Euro 19,90)

Suter. Die Zeit, die Zeit. Mit diesem – einem Seufzer gleichen – Titel führt uns Martin Suter einmal mehr einen seiner leicht unbedarften Helden vor, die gerne, jedoch selten freiwillig, an allerhand Ecken und Kanten ihres Schicksals stoßen. Klassisch erzählt, flüssig zu lesen, durchaus doppelbödig. Ein Spiel mit der Zeit und auf Zeit. Suter endlich wieder auf dem Höhepunkt seines erzählerischen Könnens. Kleinkinder einmal ausgenommen, kann das Buch problemlos an breite Leserschichten verschenkt werden. (Diogenes, 2012. Euro 21,90)

>>> Haas und Suter wurden auf con = libri bereits ausführlich besprochen. <<<

Russisch 1. Vladimir Sorokin schreibt fabelhaft, satirisch, grotesk. Es ist stets feinderbes Erzählwerk, das einer der wichtigsten Autoren des heutigen Russland präsentiert. In “Der Schneesturm” erleben wir den Landarzt Garin im Kampf gegen eine rätselhafte Seuche, bzw. auf seinem Weg zum Kampf. Sein größter Gegner sind dabei der russische Winter und die märchenhaften Ereignisse, die sich auf der Fahrt zum Einsatzort abspielen. Die Schwierigkeiten und Hindernisse, die sich dem guten Doktor immer wieder in den Weg stellen, sollen, so Kenner, jedenfalls sehr viel Ähnlichkeit mit den aktuellen gesellschaftlichen Verhältnissen im Putin-Reich haben. Für alle Freunde surrealer Geschichten; trotz Schneegestöber-Idylle nicht jugendfrei. (Kiepenheuer & Witsch, 2012. Euro 17,99)

Russisch 2. Seit ich den Bonner Verleger Stefan Weidle auf der Tübinger Sahl-Tagung erleben durfte (s. dazu auch den letzten Beitrag auf con = libri), habe ich auf das Programm seines Verlages ein besonderes Auge geworfen. Hier ist immer wieder Überraschendes zu entdecken. Wie jetzt “Die Manon Lescaut von Turdej” von Wsewolog Petrow. Ein schmaler Band mit einer nicht allzu langen Erzählung. Man darf die Frage stellen, ob sie ein eigenes Buch wert ist. In diesem Fall kann das rasch und klar mit Ja beantwortet werden. Bemerkenswert, hinreißend, todtraurig. Ein Petersburger Intellektueller, im petrow_1Krieg mit einem Krankentransport unterwegs, den “Werther” (vom größten Dichter des größten Feindes geschrieben) auf Deutsch lesend, lernt das Mädchen Vera kennen und – das Klischee muss hier sein – er verfällt ihren Reizen: der physischen Präsenz, ihrer Jugend, ihrem Anderssein. Es ist der Zauber des Gewöhnlichen, der ihn anzieht, die lebenshungrige Gegenwärtigkeit eines flatterhaften Wesens. Sie kann halt lieben nur… Die Geschichte entstand bereits 1946, erschien aber erstmals 2006 in einer russischen Zeitschrift. Petrow war eigentlich Kunsthistoriker und lebte von 1912 bis 1978. Das schmächtige Buch wurde von der Darmstädter Jury zum Buch des Monats November gewählt; auf der aktuellen SWR-Bestenliste belegt es Platz 8. Das sehr informative Nachwort hat Oleg Jurjew geschrieben; die Germanistin Olga Martynova kommentierte einige wesentliche Passagen. (Weidle Verlag, 2012. Euro 16,90)

Russisch-Deutsch. Olga Martynova ist selbst eine interessante Autorin. Von ihr liegen Gedichte, Prosa und Essays vor. Sie stammt aus Russland, lebt seit über zwanzig Jahren in Deutschland und schreibt ihre Prosawerke in deutscher Sprache. Der leicht experimentell und assoziativ erzählte Roman “Sogar Papageien überleben uns” war für mich eine wirkliche Entdeckung, das, was man gemeinhin ein Leseabenteuer nennt. Im Mittelpunkt stehen Menschen, die zwischen Russland und Deutschland unterwegs sind. Wissenschaftler, Literaten, Künstler. Der Leser erfährt viel über die kulturellen Wechselwirkungen zwischen Ost und West. Die Erzählung kreist um ein dichtes Geflecht russisch-deutscher Literatur- und Liebesbeziehungen. Wir begleiten eine junge Literaturwissenchaftlerin auf ihrer sentimentalen Reise durch Gefühls- und Steppenwelten und erleben dabei rasche Richtungs- und Stimmungswechsel. In hintergründig philosophischen Passagen geht es zudem immer wieder um die allerletzten unsicheren Wahrheiten. Vielfach kommt das Buch auf Größen der russischen Literaturgeschichte zu sprechen. Hinweise, die zu weiterer Lektüre anregen können. Olga Martinova schreibt für geübte Leser. (Literaturverlag Droschl, 2010. Euro 19)
P. S.: “Mörikes Schlüsselbein” wird das nächste Buch von Olga Martynova heißen, auf das man schon sehr gespannt sein darf. Es wird im nächsten Frühjahr erscheinen. Mit der Lesung eines Kapitels daraus (“Ich werde sagen: ‘Hi’) gewann sie im Sommer den Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb.

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Foto: Wiebke Haag

Exkurs. Eine kleine Hinwegführung von den rein erzählerischen Werken, hin zu einem sehr empfehlenswerten Essay-Band des bisher vorwiegend als Übersetzer bekannten Joachim Kalka. Seine zugleich leichtfüßigen und dichten Arbeiten sind in “Die Katze, der Regen, das Totenreich. Ehrfurchtsnotizen” versammelt. Ein Titel der bewusst gewählt wurde und bereits einiges über den Inhalt verrät ohne auch nur andeuten zu können, wie komplex die einzelnen Stichworte und Themen abgehandelt werden. Großartige Kabinettstückchen. Eine Liebeserklärung an Bücher, Geschichten und Dichter. Hier schwadroniert ein im besten Sinne chronisch Lesewütiger, ein kenntnisreicher Literat und für jene gleich mit, die wie er, vom Lesen nicht lassen. Das ideale Geschenk für Menschen, die auf dem Fundament einer soliden Allgemeinbildung stehen. (Berenberg, 2012. Euro 20)

Krimi 1. Noch einmal zurück nach Russland. Zu den führenden Kriminalschriftstellerinnen des Landes gehört seit etlichen Jahren Polina Daschkova, von der bereits zahlreiche Werke in deutscher Übersetzung vorliegen. Das neueste trägt den etwas allerweltlichen Titel “Bis in alle Ewigkeit.” Darin soll eine junge Biologin an einem internationalen Forschungsprojekt auf Sylt mitarbeiten. Sie merkt bald, dass es dabei nicht mit rechten Dingen zugeht. Auch der kürzliche Tod ihres Vaters scheint dabei eine Rolle zu spielen. Daschkovas Stärken sind neben dem gekonnten Aufbau sehr spannender, breit angelegter Geschichten, die Schilderung glaubhafter Figuren, mit ihren Schicksalen, ihrem Alltag. Die meist ausführlichen Biographien werden geschickt in die Handlungsabläufe eingewoben und wir erfahren durch sie einiges über das Leben der Menschen im Russland unserer Zeit. Für Krimileser, die mehr als Mord und Totschlag wollen. (Aufbau Taschenbuch, 2012. Euro 10,99)

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Foto: Jan Haag

Krimi 2. Der neue Dühnfort erscheint Ende der Woche! Nichts gegen die fabelhaft tapfere Nele Neuhaus. Obwohl für meinen Geschmack die Zahl der Handlungsfäden in ihren Büchern etwas zu hoch ist – die Frau schreibt Klasse. Doch mein liebster deutscher Ermittler ist derzeit der Kommissar Dühnfort, dessen Erlebnisse die Münchner Schriftstellerin Inge Löhnig ersinnt. Ihr neuer Roman heißt “Verflucht seist Du”, ist der inzwischen fünfte, und die Entstehung des Buches wurde von einer großen Fangemeinde das ganze Jahr über auf Facebook mit großer Spannung verfolgt. So ist auch die Zahl der Vorbestellungen im Buchhandel bereits beträchtlich. Die bisherigen Bände überraschten und überzeugten mit ihren stimmigen, realitätsnahen Plots, dem hohen Spannungsfaktor und lebensechten Figuren. Dazu kommen wiedererkennbare Lokalitäten in und um München herum, ohne dass dabei einer der vielen nicht immer leicht erträglichen Provinz-Krimis herauskommt. Das hat vielmehr wirklich Stil, wie ihn auch die Hauptfigur, ein wählerischer Espresso- und Weißwein-Trinker, repräsentiert. Die nicht immer geradlinig verlaufenden Entwicklungen der wichtigsten Mitwirkenden sind mindestens so interessant wie die eigentliche Krimihandlung. Für alle, die immer noch nicht glauben wollen, dass es auch tolle Deutsch schreibende “Crime-Ladies” gibt. (List Taschenbuch, 14. Dezember 2012. Euro 9,99)

Krimi 3. “Denn die Gier wird euch verderben”. So pseudo-alttestamentarisch heißt die neueste Geschichte aus dem nordischen Mordloch Kiruna. Ein durchaus exotischer Schauplatz, den die schwedische Autorin Asa Larsson für sich entdeckt hat. Ihre Staatsanwältin Rebecka Martinsson macht sich einmal mehr auf, den zahlreichen verbrecherischen Spuren im Provinzsumpf zu folgen. Auf der Suche nach Mörder oder Mörderin stößt sie auf Geheimnisse deren Ursprünge bis ins Jahr 1914 zurückreichen, gerät in höchste Kreise und natürlich auch wieder in ebensolche Gefahren. Schmackhafte Krimi-Kost, angereichert mit einer Portion Gesellschaftskritik und gewürzt mit einer Prise Gewalt. Für Freunde der hohen skandinavischen Verbrechensrate eine gern genommene Neuerscheinung. (C. Bertelsmann, 2012. Euro 19,99)

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Eine musikalische Zugabe. “Passe passe le temps il n’y en a plus pour très longtemps.” Eben. Nur graugruftige Überbleibsel wie ich werden sich noch an dieses oder andere Chansons eines bärtigen, großgewachsenen Herrn erinnern. An die Chansons von hauchzarter, schlichtstarker Ausdruckskraft des großartigen, inzwischen schwer in die Jahre gekommenen, George Moustaki. Le Métèque. Ma Liberté. En Mediterranée. Ein Hauch mediteranes Lebensgefühl ist es auch, die diese einfachen, aber eindringlichen Lieder in den kalten deutschen Winter bringen. Marina Rossell hat 12 Moustaki-Titel wiederbelebt und singt sie mit kräftigem klarem Alt und in katalanischer Sprache. Das klingt wunderschön, vertraut und neu zugleich. Beim Titel “Màrmara” haucht auch noch der alte Meister selbst mit. Geschenkeignung: 45 plus undoder ausgesprochene Liebhaber der katalanischen Sprache (wer sie beherrscht kann mitsingen!). (“Marina Rossell canta Moustaki”, beim Label “world village” von harmonia mundi)

“Die hellen Nächte” von Hans Sahl

Gedichte aus dem Exil an einem November-Abend in Tübingen

Die jüdische Familie Salomon war um 1900 in Dresden zu Hause. Hier wurde Hans Salomon, der sich später Sahl nannte, 1902 geboren. Im Berlin der 1920er und 1930er Jahre war er einer der bekanntesten Theater- und Literaturkritiker, schrieb für die führenden Blätter, sowie Gedichte, Erzählungen und Theaterstücke. 1933 musste er aus Deutschland fliehen. Es folgten mehrere Exilstationen und eine 13-monatige Internierung in Frankreich. Schließlich gelang die Flucht nach New York, wo Sahl mit Unterbrechungen mehrere Jahrzehnte lebte. Erst 1989 kehrte er für immer nach Deutschland zurück. Fast erblindet, lies er sich in Tübingen nieder, wo er 1993 starb.

“Ich bin der Zeit und ihrem Reim entfremdet / Es hat die Zeit mir meinen Reim entwendet.”

‘Gedichte aus Frankreich’ heißt sein Zyklus “Die hellen Nächte” im Untertitel, weil diese für ihn und die anderen Leidensgenossen besonders schwere Zeit des Exils, das Leitmotiv dieser Arbeiten ist. Als Buch erschienen sie erstmals 1942 unter großen materiellen und editorischen Schwierigkeiten in einer bescheidenen Auflage von 250 Exemplaren bei Barthold Fles in New York. Es war durchaus ungewöhnlich und selten, dass in den Vereinigten Staaten ein Buch deutscher Exilanten in deutscher Sprache herauskam.

Der Bonner Verleger Stefan Weidle, hat es jetzt erfreulicherweise unternommen, diese Sammlung neu herauszugeben. Dabei folgte die Gestaltung des Bändchens weitestgehend der Erstausgabe. Den Satz und die typographische Gestaltung übernahm Friedrich Forssman, der vor zwei Jahren mit der Neuausgabe von Arno Schmidts “Zettels Traum” für einiges Aufsehen sorgte. Unterstützt wurde der Verlag vom Verband Deutscher Schriftsteller (VS) und der Verdi-Zeitschrift “KunstundKultur”. Beide waren es auch, die eine Hans-Sahl-Tagung in Tübingen organisierten, die am Wochenende 9. bis 11. November stattfand. Zum Auftakt wurde am Freitag-Abend im “Hölderlin-Turm” die Neuausgabe der Sahl-Gedichte vorgestellt.

Am Spätnachmittag dieses 9. November fuhr ich über die herbstliche Schwäbische Alb an den Neckar. Auf den Hängen der Hügel glänzten nebelfeuchte Bäume im bunten Geblätter. Vor Ort führt dann der Weg zuerst über die Neckarbrücke. In der Stadt sind überwiegend junge Menschen unterwegs. Hoffnungsvolle Zukunft in alten Gassen. Fremde Sprachen. In der Universitätsstadt leben Menschen aus vielen Ländern. Über den schmalen Weg auf der Stadtmauer komme ich zum Hölderlinturm. Vorbei an Liebespaaren, die, in vertraute Gespräche vertieft, sich in früher Nacht verborgen fühlen. Am anderen Ufer die bekannte Platanen-Allee, nur zu ahnen im Dunkel.

Die vor uns hier gingen: Schelling und Hegel, Mörike und Uhland, der arme Waiblinger, der nach Rom reiste um dort jung begraben zu werden, ganz in der Nähe von Goethes Sohn August. Hermann Hesse, von Heckenhauer kommend, ging hier entlang, Hans Mayer und Walter Jens, der seit Jahren auf der anderen Seite der Stadt vor sich hin dämmert.

Der sogenannte “Hölderlin-Turm” war einst Wohnung und Werkstatt der Tischler-Familie Zimmer. In ihrer Obhut verbrachte der Dichter Friedrich Hölderlin 37 Jahre eines Lebens, das ihm zunehmend entglitt, und in eine nicht mehr genau zu diagnostizierende geistige Erkrankung mündete. Im Erdgeschoß sind drei durchgehende Räume bestuhlt. Im mittleren wird die Musik spielen. Rasch sind alle Sitzplätze besetzt. Kurz vor halb neun herrscht bereits enges Gedränge. Die einen rufen “Fenster auf”, die anderen “Fenster zu.” Die Stimmen der Jungen tröpfeln bei offenem Fenster in den Raum. Abwechselnd atmet man stickige Wärme und schmale Frischluftfäden. Der Abend wird moderiert von Burhard Baltzer, dem Journalisten und Chefredakteur der Zeitschrift “KunstundKultur”.

“Ich werde einmal, nach dem großen Sterben, / Vor Euch, Ihr Mächtigen, mich nicht mehr bücken.”

Das sechsköpfige Ensemble – Streicher, Flöte, Klarinette und Klavier – spielt einen ersten Teil von Hanns Eislers “14 Arten, den Regen zu beschreiben.” Das Stück hat er 1941 als Musik zum gleichnamigen Film komponiert. Danach nennt Burkhard Baltzer einen Gedicht-Titel, im Raum steht eine Person auf und trägt das dazugehörige Gedicht vor. “Tübingen liest Sahl” heißt das Motto. Abwechselnd lesen junge und ältere Tübinger, Männer und Frauen. Gedichte, die ein Mensch schrieb, der seine Heimat verloren hatte, weil dort braun-schwarze Dummheit Denker und Dichter, Juden und Linke, Schwule und Roma aus dem Land oder in die Vernichtungslager getrieben hatte.

“Wer seine Verzweiflung im Exil, von seinem Trotz gepaart mit Humor und Esprit, aber auch die bedingungslose Geradlinigkeit erfuhr, war ins Mark getroffen”, schreibt Burhard Baltzer über Hans Sahl im Vorwort zu “Die hellen Nächte”. Es sind aussagestarke, realitätsverbundene Gedichte, teils in freier Form, teils in einfacheren Reimen. Manche erinnern an die Stilmittel Brechts, andere in ihrer Wut an Tucholsky.

Die Themen sind Vertreibung, Fremde, Außenseitertum, Mittellosigkeit und Verzweiflung, aber auch Liebe und Leben, Sehnsucht und Hoffnung. Sahl selbst sah seine Gedichte weder als schöne, perfekte Gebilde, noch als Ergebnisse irgendeiner experimentellen Poetologie. “Sie haben vielmehr ihren festen Ort in Biographie und Geschichte. Sie sind Sprache aus dem Fühlen, Denken und Erfahren eines Einzelnen, die zugleich zu Wort und Signal für viele wurde und sich mit vielen, über die eigene und deren Einsamkeit hinweg, verständigen wollte…” (Fritz Martini)

Was hat sich geändert in den letzten gut 70 Jahren, seit diese Gedichte geschrieben wurden? Ist die Welt heute eine andere oder haben sich nur die Schauplätze verlagert? Noch immer herrschen Vertreibung, Heimatlosigkeit, Unterdrückung, Hunger und Elend, Flucht und Folter, Hass und Krieg auf unserem Planeten. Hans Sahl war Opfer und Geretteter zugleich. Er hatte das Privileg sich ausdrücken zu können. Er hatte seine deutsche Sprache. Lebte als Dichter. Das war nicht wenig. Auch darum ging es an diesem Wochenende in Tübingen.

“Es ist der letzte Reim noch nicht gefunden / Auf diesen Jammer und auf diese Wunden.”

Samstag, der 10. November 2012. In meiner Tageszeitung entdecke ich eine kleine dpa-Meldung, die u. a. folgende Sätze enthält: „Am Jahrestag der Progromnacht haben Unbekannte in Greifswald alle im Stadtgebiet verlegten Stolpersteine (= Gedenksteine an deportierte und getötete Juden. J. H.) aus dem Straßenpflaster gebrochen. … Der Staatsschutz habe die Ermittlungen aufgenommen, sagte ein Polizeisprecher… Wegen des geschichtsträchtigen Datums werde ein politischer Hintergrund nicht ausgeschlossen.”

Sahl, Hans: Die hellen Nächte. Gedichte aus Frankreich (Neuausgabe). – Weidle Verlag, 2012