Chiemgau, Oberbayern.
Es war wieder einmal so weit. Wenige wertvolle Wochen Pause von Benzindunst und Schwarm-Existenz der Großstadt. Ein Entkommen. Landluft und Streusiedlungen. Kleine Dörfer um Kirchen und Gasthöfe. Menschenarmes Abseits. Die selbst gewählte Multimedia-Abstinenz zwingt dazu nach eigenen Antworten zu suchen. Was blüht im Moor? Was wächst im Wald? Was ist der Mensch? Schmale Wege über Hügel vor alpiner Kulisse. Wollenfreies Ruhen an abgelegenen Bergseen. Weißblauer Himmel, sattgrüne Wiesen. Bauernbrot und Buttermilch. Wammerl (1) und Weißbier. Jetzt Jodeln können!
Im Chiemgau sagt man Stiegen zu den Treppen. Wie im nahen Österreich.
Brez’n an Brez’n. Semmel an Semmel. Hefezöpfe. Bäckerei an Bäckerei liegt auf dem Weg vom oberen Ende der hölzernen Apotheker-Stiege ins Herz von Traunstein, dem Stadtplatz. – Traunstein an der Traun. Vom früheren Salzhandel zeugen die Salinenhäuser und die Salinenkapelle. Es gibt ein Druckerei-Museum, das Heimat-Museum im Brotturm und das Stadt- und Spielzeugmuseum. Der Weg des empfohlenen Rundgangs führt daran vorbei. Und an den Jugendstilhäusern, dem Obelisken, der städtischen Galerie. Die Kirche eines ehemaligen Kapuziner-Klosters wird heute für Ausstellungen, Lesungen und Konzerte genutzt.
Der Fluss umschließt die Kernstadt von drei Seiten. Aus drei Himmelsrichtungen führen Stiegen und steile Wege vom Flusstal hoch zur Innenstadt. Der Stadtplatz ist großräumig heimeliger Mittelpunkt. Vor dem Eingang der barocken Pfarrkirche St.Oswald steht eine lebensnahe Ratzinger-Büste. Gleich nach dem Gotteshaus kommt der Marktbrunnen mit seiner Rolandsfigur. Rundum Cafès und Gaststätten, kleine und etwas größer Läden. Blumenpracht am Brunnen und in Kübeln auf Kopfstein-Pflaster. Samstag ist Markttag: Gemüse und Obst aus Ober- und Niederbayern, Meierei- und Molkerei-Erzeugnisse aus nahen Dörfern, noch mehr Brez’n, Semmeln und duftendes Gebäck.
“Traunstein, entsetzlich!” rief der bekennende Kleinstadtverächter und Großvater Thomas Bernhards, der Schriftsteller Johannes Freumbichler, als er in den 1930er- und 1940er-Jahren mit Frau, Tochter und Enkel mehr oder weniger freiwillig hier lebte.
Thomas Bernhard der Österreicher, der große Dramatiker und Erzähler, der Schwierige und chronisch Kranke, der Nestbeschmutzer, wurde am 9. Februar 1931 in Heerlen, Niederlande geboren. Um in der österreichischen Provinz nicht unehelich entbinden zu müssen, war die Mutter mit Unterstützung einer Freundin, weit weg in ein klösterliches Heim für ledige Mütter geflüchtet. Da hatte sich der leibliche Vater längst aus dem Staub gemacht.
Einen großen Teil seiner Kindheit verbrachte Thomas Bernhard mit den Großeltern. 1938 war man nach Traunstein gekommen. Während die Mutter zentral in der Schaumburgerstraße, Ecke Taubenmarkt wohnte, hatte sich Johannes Freumbichler mit seiner Frau, seiner umfangreichen Bibliothek und seiner unnachgiebigen Kleinstadt-Verachtung in einem nahen Dorf niedergelassen.
Die Frau sorgt als Hebamme für ein regelmäßiges Einkommen, während der Mann anarchistisch quer denkt, viel schreibt, aber wenig veröffentlicht, und mit dem Enkel Thomas gerne und oft spazieren geht. Bildungsgänge sind das für den Jungen, der in der Volksschule nicht zurecht kommt. Die Mutter ist mit der Erziehung des schwierigen, wohl hochbegabten Sohnes, völlig überfordert. Sie macht ihn für ihr persönliches Scheitern verantwortlich. 1941 verbringt der Zehnjährige deshalb einige Monate in einem Heim für schwer erziehbare Kinder und Jugendliche im thüringischen Saalfeld. 1943 wird er in einem Internat in Salzburg untergebracht.
Über diese Traunsteiner Kindheit voller Armut, Not, Missachtung und Züchtigung, schreibt Thomas Bernhard in seinem Buch “Ein Kind”. Das Leben der Mutter ist geprägt von persönlichen Enttäuschungen, Misserfolgen und fehlender gesellschaftlicher Akzeptanz. Das Kind ist von Anfang an ein Klotz am Bein. Der bescheidene mütterliche Normenkanon wird dem gerade einmal sieben Jahre alten Sohn mit Schlägen und dem Verlangen nach bedingungsloser Unterordnung nahegebracht. Im zeitgeschichtlichen Umfeld hat der nationalsozialistische Aufmarsch, die Durchdringung des Alltagslebens mit braunem Dung, längst begonnen.
“Du bist mein ganzes Unglück, Dich soll der Teufel holen! Du hast mein Leben zerstört!…Du bist ein Nichts, ich schäme mich Deiner! Du bist ein Nichtsnutz wie Dein Vater! Du bist nichts wert! Du Unfrieden-Stifter! Du Lügner! … Das ist nur eine Auswahl ihrer (der Mutter) von Fall zu Fall gegen mich ausgestoßenen Verfluchungen, die nichts als ihre Hilflosigkeit mir gegenüber bewiesen…Die größte Enttäuschung ihres Lebens, die größte Niederlage, als ich auftrat, war sie da…So war die Liebe meiner Mutter zu mir, dem unehelichen Kind, immer von dem Haß gegen den Vater dieses Kindes unterdrückt.”
Eine Kindheit in diesen Jahren war in vielen Häusern kein Paradies. Das Leben in der Kleinstadt keine Idylle. Arbeitslosigkeit, Inflation, Verwahrlosung und Entmündigung breiter Bevölkerungsschichten waren die Realität. Rundum ist der Tod allgegenwärtig. Thomas Bernhard wohnt mit seiner Mutter über einem Geschäft für Trauerbedarf. Die Menschen sterben aus Armut, an Banalitäten oder an früher Altersschwäche. Schon dem Achtjährigen sind Gedanken an Selbstmord geläufig. Trotz der traurigen Wahrheiten ist “Ein Kind” ein ausgesprochen fesselndes Lese-Erlebnis. Das Buch ist flüssig geschrieben. Wie bei Thomas Bernhard meist, aus einem Guss – auch im Satzbild. Die Lektüre lässt den Leser betroffen und berührt zurück.
Thomas Bernhard studierte später an Hochschulen in Wien und Salzburg u. a. Dramaturgie und Schauspiel. Er wird einer der bedeutendsten deutschsprachigen Erzähler und Dramatiker des 20. Jahrhunderts. Mit seinen oft provozierenden Texten und deren Aussagen, sorgte er immer wieder für Turbulenzen und Kontroversen im Kulturleben. Seinem Vaterland und dessen herrschender Schicht stand er kritisch und distanziert gegenüber und machte sich damit reichlich Gegner und Feinde. Immer wieder setzte sich Bernhard, der mit 16 Jahren an einer Lungentuberkulose erkrankte, die nie wieder ganz ausheilte, mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Österreichs auseinander. Er warf der Mehrheitsgesellschaft Bagetellisierung und Verdrängung der Rolle Österreichs während der Hitler-Herrschaft vor und schreckte dabei vor keiner Deutlichkeit zurück. Thomas Bernhard starb am 12. Februar 1989 in Gmunden im Salzkammergut.
Im heute alles andere als armen und tristen Traunstein, wird die Erinnerung an den Schriftsteller und an seine Kinderjahre in der Stadt lebendig gehalten. In der Buchhandlung am Stadtplatz ist “Ein Kind” gleichberechtigte Stapelware neben den in diesem August unvermeidlichen “Shades of Gray”; im Regal findet man weitere Werke Bernhards. Um die Ecke, auf dem Weg zum Taubenmarkt, kommt man am ehemaligen Wohnhaus vorbei. Eine Erinnerungstafel informiert aufmerksame Passanten. Von dort sind es nur noch wenige Schritte zur “Thomas-Bernhard-Stiege”, die zur Traun und ihren Auen hinunter führt. Von oben sieht man den Viadukt, über den in kurzen Abständen Züge nach Salzburg oder München fahren und der in der Phantasie des unangepassten Großvaters Freumbichler und seines Enkels eine besondere Rolle spielte:
“Diese Eisenbahnbrücke war das gewaltigste Bauwerk, das ich bis dahin gesehen hatte. Wenn wir nur ein ganz kleines Dynamitpäckchen an einem einzigen der Träger anringen und zur Explosion bringen, dann stürzt die ganze Brücke unweigerlich ein, sagte mein Großvater…Die Vorstellung, daß ein Päckchen Sprengstoff von der Größe unserer Familienbibel genügt, um die weit über hundert Meter lange Brücke zum Einsturz zu bringen, faszinierte mich wie nichts.”
Sie steht immer noch, die Brücke. Einen guten Blick darauf hat man von der großen Terrasse des Gasthofs und Brauerei-Ausschanks Schnitzlbaumer am Taubenmarkt. Es lohnt sich dort einzukehren, eine typische bayerische Mahlzeit zu verzehren und dabei den gemächlich dahinfahrenden Zügen hinterherzuträumen. Oder man folgt auf einem geführten literarischen Spaziergang den Spuren Thomas Bernhards. Willi Schwenkmeier, ein Lehrer, Journalist und guter Kenner des Schriftstellers und seiner Arbeiten, führt durch die historische Altstadt und zu Schauplätzen in Thomas Bernhards Werken.
Die nächsten Führungen finden am 29. September und am 6. Oktober, jeweils um 15 Uhr statt. Dauer etwa 2 Stunden, Kosten 5 Euro, Infos und Anmeldung bei der Stadtbücherei Traunstein:
Tel. (08 61) 16 44 80
E-Mail: info@stadtbuecherei-traunstein.de.
(1) Wammerl = Bayerisch für Schweinebauch, gegrillt, geräuchert, gekocht.)
Bernhard, Thomas: Ein Kind. – Salzburg und Wien, 1982
„Ein Kind“ ist der letzte Band der fünfteiligen autobiographischen Schriften Thomas Bernhards: Die Ursache. Eine Andeutung, Der Keller. Eine Entziehung, Der Atem. Eine Entscheidung, Die Kälte. Eine Isolation, Ein Kind. Die gebundenen Ausgaben aller Bände sind bei Residenz, die Taschenbücher bei dtv erschienen.