17. Juni 1953: „Wir wollen freie Menschen sein!“

Bücher und Gedanken zur Geschichte der DDR aus Anlass des 60. Jahrestages eines Volksaufstandes

“Die Wetter schlagen um: / Sie werden kälter. / Wer vorgestern noch Aufstand rief, / ist heute zwei Tage älter.” (*)

Als es 1989 in Leipzig zu den großen Montagsdemonstrationen kam, die das Ende der DDR einläuteten, war die Sorge der Menschen, dass diese Kundgebungen des Volks-Unwillens enden könnten wie 1953, wie 1968 der Prager Frühling oder wie die Studentenproteste auf dem Pekinger Platz des Himmlischen Friedens wenige Monate zuvor. Mit gewaltbereiten Polizei- und Militärtruppen, rücksichtslosem Schusswaffen-Gebrauch, Panzer-Einsätzen.

Jene Ereignisse, die am 17. Juni 1953 ihren Höhepunkt erreichten, waren die Folge von Arbeiterstreiks, die einige Tage vorher begonnen hatten. Bauarbeiter protestierten gegen die Erhöhung der Arbeitsnormen und damit direkt gegen die Regierung eines Arbeiter- und Bauernstaates, von dem sie annehmen sollten, dass er ihre Interessen vertritt. Am Mittwoch, dem 17. Juni, kam es zum Generalstreik und zu Großdemonstrationen in Berlin, Leipzig und vielen anderen Städten, sowie zu Angriffen aufgebrachter Massen gegen Einrichtungen, die die Staatsmacht repräsentierten: Parteigebäude der SED in Halle und Leipzig, die Stasi-Zentrale in Jena, die Stadtverwaltung in Görlitz.

17-juni-1953_arbeiteraufstand, Landesarchiv Berlin

Quelle: Landesarchiv Berlin

Bereits am Vortag waren Truppen der sowjetischen Besatzungsmacht in Alarmbereitschaft versetzt und russische Panzer in Stellung gebracht worden. Am 17. Juni eskalierte die Situation. Rotarmisten feuerten in Berlin in die aufgebrachte Menschenmenge, Panzer überrollten Demonstranten. Am nächsten Tag wurde der Aufstand mit größter Gewalt niedergeschlagen. Zurück blieben Tote und Verletzte. Und schon am 19. Juni, einem Freitag, verhängten Schnellgerichte Todesurteile gegen 17 angebliche Anführer, die sofort vollstreckt wurden. Der 60. Jahrestag dieser Ereignisse bietet eine gute Gelegenheit die Beschäftigung und Auseinandersetzung, nicht nur mit dem Juni 1953, sondern mit vier Jahrzehnten DDR-Geschichte, wieder etwas zu intensivieren.

Zwei Bücher von Hermann Vinke können dabei sehr hilfreich sein. Sie sind alles andere als trocken aufbereiteter Geschichtsstoff; sie sind kurzweilig und dabei wesentlich seriöser als manche sogenannte Dokumentation der letzten Jahre im TV. “Die DDR. Eine Dokumentation mit zahlreichen Biografien und Abbildungen” hat mir sehr geholfen, die Ereignisse von 1953 hier kurz, knapp, aber wie ich hoffe einigermaßen korrekt wiederzugeben. Das Buch rekapituliert die ganze DDR-Geschichte, einschließlich Vorgeschichte und Ereignissen in den Jahren nach dem Weltkrieg, die zum Entstehen eines zweiten deutschen Staates führten. Neben den politisch Handelnden von Pieck bis Honecker, werden Persönlichkeiten aus allen gesellschaftlichen Bereichen vorgestellt. Breiten Raum gibt der Autor den Tendenzen und Entwicklungen die dann schließlich zu offenen Grenzen, dem Fall der Mauer und zur Wiedervereinigung führten.

media_18756106--INTEGERDie im Anhang aufgeführten Museen und Gedenkstätten lohnen sicher jederzeit einen Besuch. Auch über zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung sind immer noch Städte, Regionen und Landschaften im Osten Deutschlands zu entdecken und zu erkunden. Neugierig und nachdenklich machend, regt dieses Buch dazu an. Im Vorwort schrieb Wolfgang Thierse: “Die Erinnerungen an das Leben in der DDR, an den Alltag unter den Bedingungen einer Diktatur, an den aufgeblähten Sicherheitsapparat, an die politische Justiz, an die Mangelwirtschaft verblassen allmählich. Dabei lohnt sich die Erkundung der DDR-Geschichte gerade für junge Menschen: Denn in der Beschäftigung mit der DDR lernen sie auch die heutige Bundesrepublik besser kennen und verstehen. Sie erfahren, warum Freiheit, Rechtssicherheit und Demokratie ebenso schützenswerte wie zerbrechliche Errungenschaften sind…”

Unter die Haut geht stellenweise “Gegen den Strom der Unfreiheit”, das Zeitzeugen-Buch von Hermann Vinke. Hier wird Geschichte personalisiert. Die Schicksale ganz verschiedener Menschen, ihre Erlebnisse in der DDR, in Beruf und Alltag, im Widerstand, in Haft, bei Verfolgung oder Verschleppung, werden in Form von Interviews, Portraits und Reportagen zu spannendem Lesestoff. Man liest von abenteuerlichen Fluchtgeschichten, der empörenden Wehrlosigkeit politischer Gefangener, lernt den Naturschützer Hans Dieter Knapp kennen, begegnet engagierten Frauen wie Ulrike Poppe und Bärbel Bohley, Friedensaktivisten und Kulturschaffenden. Einige recht bekannte Namen sind ebenfalls vertreten, wie der heutige Bundespräsident Joachim Gauck oder sein Nachnachfolger im Amt des Leiters der Stasi-Unterlagenbehörde Roland Jahn. Beide Bücher von Hermann Vinke haben ausführliche Personenregister, die nicht nur das Nachschlagen ermöglichen, sondern zudem auf den einen oder anderen Namen neugierig machen. Die umfangreichen Literatur- und Quellenverzeichnisse regen zu vertiefender Lektüre an.

media_25734997--INTEGERHermann Vinke war viele Jahre Journalist und als Korrespondent u. a. in den USA, Japan und Ostdeutschland tätig. Er hat zahlreiche Bücher geschrieben, darunter das sehr bekannte, auch in Schulen eingesetzte “Das kurze Leben der Sophie Scholl”, für das er mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet wurde. Seine beiden hier erwähnten Bücher sind bei Ravensburger erschienen, bieten seriöse, sorgfältig rechechierte Daten und Fakten, umfangreiches Bildmaterial, sowie zahlreiche Abbildungen von Original-Dokumenten. Es sind schöne, aufwendig gestaltete Bücher, optisch und haptisch jederzeit ein Genuss. Bücher die man immer wieder gerne in die Hand nimmt. Vom Verlag wohl vorrangig für eine jüngere Lesergruppe gedacht, bieten die Bücher von Hermann Vinke durchaus kompakte, ansprechend aufbereitete Informationen für alle Altersgruppen.

Das wichtigste belletristische Werk, das sich direkt mit den Ereignissen rund um den Arbeiteraufstand beschäftigt, hat Stefan Heym geschrieben, der in diesem April 100 Jahre alt geworden wäre. In seinem 1974 erschienenen Roman “5 Tage im Juni” wird das Geschehen chronologisch aus der Sicht von (fiktiven) Beteiligten erzählt, in deren Mittelpunkt der Arbeiter und Parteigenosse Witte steht. Zwischen den einzelnen Kapitel findet man kurze Auszüge aus Originaldokumenten, etwa aus Verlautbarungen des Zentralkommittees der SED, Pressemeldungen oder Befehlen der Militärkommandos. Dieses Buch habe ich zum erstenmal in jungen Jahren gelesen und jetzt im Rahmen der Arbeit an diesem Blog-Beitrag einige Passagen erneut. Ich war überrascht wie frisch der Schreibstil Heyms noch ist. Erzählt wird über weite Strecken in dialogischer Form, was erkennen lässt, dass Heym stark von us-amerikanischen Autoren beeinflusst wurde. Vor der Nazidiktatur war er einst über den Ozean geflohen, bekam die amerikanische Staatsbürgerschaft und verließ das Land wieder als die Auswüchse der McCarthy-Ära unerträglich wurden.

Der fulminante Großroman “Rummelplatz” von Werner Bräunig, der 1934 in Chemnitz geboren wurde, endet mit den Ereignissen des Juni 1953. Vorher schildert er breit angelegt das Schicksal einiger junger Leute, die aus sehr unterschiedlichen – teils politischen, teils persönlichen – Gründen als Arbeiter im berühmt und berüchtigten Bergbaukombinat Wismut gelandet sind. Eine harte Realität, die mit den eigentlichen Wünschen und Sehnsüchten der Menschen wenig zu tun hat. Diese triste, von Repressionen und Unsicherheiten geprägte Alltagswelt beleuchtet der Autor aus verschiedenen Perspektiven. Dabei wird sehr gut nachvollziehbar, wie es zu den Aufständen und Ausbrüchen im Juni 1953 kommen konnte. Bräunig hat ein literarische Meisterwerk geschaffen, das erst spät die verdiente Beachtung fand. Geplant hatte er auch noch einen zweiten Teil. Die Realisierung scheiterte letztlich am exzessiven, unsteten und kräfteraubenden Lebensstils Bräunigs, der 1976 zum frühen Tod führte. Zu diesem Buch hat Christa Wolf ein Vorwort geschrieben und Angela Drescher erläutert den nicht eben geradlinigen editorischen Werdegang.

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Jüngeren Datums sind zwei ebenfalls recht dicke Familienromane. (Offensichtlich müssen Romane über das Leben, Streben und Scheitern in der DDR einen gewissen Umfang haben.) Dabei ist “Der Turm” (Erscheinungsjahr: 2008) von Uwe Tellkamp sogar schon dabei ein echter Klassiker zu werden. Hier sind die Protagonisten in akademischen Berufen tätig und bekommen, da sie nicht zur Arbeiter- und Bauernklasse gehören, vom Regime allerhand Steine in den Weg gelegt. Sie sind im Dresdner Nobelviertel Weißer Hirsch, malerisch am Elbhang gelegen, zu Hause, dem auch der Autor entstammt. Uwe Tellkamp schreibt lange, dichte Sätze, die Lektüre fällt nicht immer leicht. Dennoch oder gerade deshalb ist das Buch die herausragende Beschreibung eines Milieus, das in der ehemaligen DDR keine führende Rolle spielen durfte. Drei Jahre muss sich der junge Christian Hoffmann, Sohn eines Chefarztes, zum Militär verpflichten, um überhaupt eine Chance auf den begehrten Medizin-Studienplatz zu bekommen.

Etwas anders ist die Ausgangssituation für die Hauptfiguren in “Brüder und Schwestern” von Birk Meinhardt, das erst in diesem Jahr erschienen ist. Am Beispiel der drei Kinder des Druckereileiters Willy Werchow, lernen wir exemplarische Lebensläufe im pseudokommunistischen SED-Staat kennen. Während der eine Sohn mit dem System schon früh in Konflikt gerät und der zweite sich zum Opportunisten entwickelt, sucht die Tochter nach Geborgenheit in der Gegenwelt eines Zirkus. Birk Meinhardt ist ein ausgesprochen spannendes und deftiges Buch gelungen, das Leser rasch fesselt.

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Die Leipziger Nikolaikirche

Dieses Bild werde ich nicht mehr vergessen. Es muss 2007 oder 2008 gewesen sein, als sich zufällig in einem der von Menschen überfüllten Gängen der Leipziger Buchmesse zwei alte Männer begegneten. Es waren die Schriftsteller Günter Grass und Erich Loest, die sich dann gerührt und sprachlos lange in den Armen lagen, bis sie sich wieder trennen mussten, um Verpflichtungen des Messealltags – Lesungen, Interviews, Signierstunden – nachzukommen. Erich Loest hat Mitte der 1990er Jahre einen wichtigen Roman rund um die Wende-Ereignisse in Leipzig geschrieben. Wie schon bei Tellkamp und Meinhardt, steht auch in „Nikolaikirche“ eine Familie im Mittelpunkt. An ihr werden exemplarisch die Risse und Konflikte aufgezeigt, die durch die ganze DDR-Gesellschaft gingen. Immer mehr in den erzählerischen Vordergrund treten im Verlauf der Handlung jene Menschen der sächsischen Metropole, die mit Diskussionen, Gebeten, Andachten und Kerzen den Weg für die späteren Märsche von Zehntausenden ebneten. Besonders interessant sind Abschnitte in denen deutlich wird, welche Rolle die Kirchengemeinden in Leipzig und ihre geistlichen Vertreter in diesen so entscheidenden Monaten spielten. Sie boten Schutz und Freiraum für Versammlungen und Gespräche, sie waren dort, wo Kirche eigentlich immer sein sollte: ganz nah bei den Menschen ihrer Zeit, ihrer Umgebung.

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„Auferstanden aus Ruinen / Und der Zukunft zugewandt, / Laß uns dir zum Guten dienen, / Deutschland, einig Vaterland.“ Verse des Staatsdichters und führenden Kulturfunktionärs der DDR Johannes R. Becher und vielgesungener Beginn der DDR-Nationalhymne. Seine Vorstellung vom „einig Vaterland“ verwirklichte sich ganz anders als er sich das vermutlich vorgestellt hat. Zudem hat sein Staat neue Ruinen hinterlassen, die bis heute – z. B. wie hier in Leipzig – als pitoresk-absurde Denkmäler besichtigt werden können.

In Hermann Vinkes DDR-Buch wird auch Marion Brasch kurz erwähnt, auf Seite 179 geht es um die Jugend- und Musikszene. Marion Brasch gehörte zu den Moderatorinnen des Ostberliner Jungendradios DT 64. Im letzten Jahr hat sie einen bewegenden biographischen Roman (“Ab jetzt ist Ruhe”) über sich, ihre Eltern, Brüder und Freunde veröffentlicht. Sie ist die Schwester des 2001 verstorbenen Schriftstellers Thomas Brasch und die Tochter eines überzeugten Kommunisten und führenden Kaders der DDR-Einheitspartei SED. Ihr Buch ist ebenso traurig wie humorvoll, und bietet einen leicht lesbaren Einblick in den Alltag einer Familie, die eigentlich zu den Stützen des real existierenden Sozialismus zählen sollte, jedoch an den Vorstellungen und Widersprüchen dieser inhumanen Gesellschaft zerbrach.

media_25809071--INTEGERDie gesammelten Gedichte von Thomas Brasch (geboren 1945 im englischen Exil der Eltern, gestorben 2001 in Berlin), einem der bedeutendsten “DDR-Schriftsteller”, sind  jetzt über 1000 Seiten schwer unter dem Titel „Die nennen das Schrei“ bei Suhrkamp erschienen. “Tausend Seiten Liebe, Krieg und Sterben, Tausend Seiten Schmutz, Schutt und Scheitern. Tausend Seiten Alltag, Anarchie und Geschichte… Tausend Seiten Deutschland,” schreibt der Spiegel über dieses Buch. Das Werk eines Dichters und Erben Brechts, das es noch richtig zu entdecken, bzw. wiederzuentdecken gilt.

“… und wir verehrten die Freiheit wie eine strahlende Schönheit in der Ferne.” sagte Joachim Gauck in seiner Dankesrede zur Verleihung des Ludwig-Börne-Preises 2011 im Rückblick auf sein Leben in der DDR. Den Satz las ich in Hermann Vinkes „Gegen den Strom der Unfreiheit“, in dem auch ein ausführliches Interview mit Gauck zu finden ist. Wie schwer es nach 1989 wurde, mit scheinbar grenzenloser Freiheit umzugehen, musste nicht nur er erfahren. Zu oft waren die Erwartungen letztlich doch sehr bescheiden auf die Erfüllung simpler Konsumwünsche ausgerichtet. Eine Entwicklung bei der sich Menschen aus ehemals westlichen und ehemals östlichen Provinzen schneller einig waren als auf vielen anderen Gebieten. Dabei blieb nicht selten die Freiheit, ja manchmal sogar die körperliche Unversehrtheit Andersdenkender auf der Strecke. Womit wir bei der im heutigen Deutschland nur noch im schiefen Licht dargestellten Rosa Luxemburg an- und damit möglicherweise etwas vom Thema “17. Juni 1953” abgekommen wären. Oder doch nicht?

(*) Das Zitat stammt aus dem Gedicht “Und der Sänger Dylan in der Deutschlandhalle” von Thomas Brasch” (in: Der schöne 27. September)

Exklusiv: Das war 2011!

So. Rum! MMXI

Literatur*Orte*Spuren mit einem ersten Jahresrückblick

Ende letzten Jahres wurden der Internet-Plattform „RikySeeks“  Informationen aus führenden Rundfunk- und Fernseh-Anstalten Deutschlands zugespielt, die erkennen ließen, dass die neuesten Jahres-Rückblicke, Ausstrahlung geplant für den Frühherbst 2011, bereits als Roh-Manuskripte existieren. „RikySeeks“ konnte an Kopien gelangen, die demnächst auf der Website www.rikyseeks.net als Faksimile der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Literatur*Orte*Spuren veröffentlicht schon heute erste Auszüge.

Januar. Die Neujahrsbotschaft des us-amerikanischen Präsidenten Barack Obama, in der dieser seinen Rücktritt zum Ende des Monats ankündigte, ging in Deutschland fast unter. Tagelang standen Meldungen über die Insolvenz der Fussballvereine TSV 1860 München und SSV Ulm 1846 im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Beide Traditions-Clubs wurden mangels Masse rückwirkend zum 1.1.2011 aufgelöst. Die Mannschaften wurden aus den jeweiligen Staffeln genommen, ihre Ergebnisse annuliert. In München erlitt der bekannte Kabarettist und 60er-Fan Ottfried Fischer einen Schwächeanfall. Der ebenfalls nicht ganz unbekannte Ulmer Oberbürgermeister Ivo Gönner kommentierte die Vorkommnisse: „Jetzt isch a Rua.“ Nicht klar wurde, auf welches Ereignis er sich damit bezog.

Februar. Seit Mitte November hielt das nahezu stabile Winterwetter an, und auch der Februar 2011 verlief kalt und schneereich. Kaputte Straßen und die vielen Einsätze der Winterdienste strapazierten die klammen Kassen der Kommunen zusätzlich. Allerorten wurde über mögliche Sparmaßnahmen nachgedacht. Und natürlich standen die Bibliotheken wieder einmal ganz oben auf den meisten Listen. Doch es gab auf diesem darbenden Kultursektor auch positive Nachrichten. In Freilassung wurde auf private Initiative und mit Unterstützung der Stadt eine Bibliothek der Gedichte gegründet. Sie wird in einem ehemaligen Bahnwärter-Häuschen am Inn eingerichtet. Freilassing ist die deutsche Nachbarstadt der österreichischen Festspielstadt Salzburg, in der am 3. Februar 1887 Georg Trakl geboren wurde. Es ist geplant die Einrichtung nach dem großen, aber im kurzen Leben sehr unglücklichen, Dichter zu benennen. „Ein Brunnen singt“, lautet das Motto, unter dem das ambitionierte Unternehmen steht und das Trakls Gedicht „Musik im Mirabell“ entstammt.

März. Zur Buchmesse in Leipzig erschien die gesetzte Neuausgabe von Arno Schmidts „Zettel’s Traum“ als E-Book. Im Rahmen einer speziell für dieses Projekt geschlossenen Partnerschaft von Suhrkamp, der Arno-Schmidt-Gesellschaft (Bargfeld) und Apple, ist die elektronische Version des gedruckt 1536 starken Buches nur auf dem neuen I-PO zu bekommen. Das Modell wird dem Werk und den Intensionen des Autors durch sein ungewöhnliches Format (35,8 x 27,4 Cent-I-Meter) in hervorragender Weise gerecht. Der I-PO ist selbstverständlich mit einem hochauflösenden Tatsch-Screen ausgestattet.

April. Bei Bodengrabungen im Lonetal nahe Ulm, entdeckten Forscher der Universität Tübingen Spuren einer bisher unbekannten Frühkultur. Diese allerersten Siedler im damals noch breiteren Flusstal der schwäbischen Alb, verfügten offensichtlich bereits über erstaunliche Kulturtechniken. So wurden Tontafeln mit eingeritzten Zeichen gefunden, die darauf hindeuten, dass der Lonetal-Mensch ein Rechensystem verwendete, das auf den Zeichen 0 und I aufgebaut war. Für genauere Analysen wurden Kryptographen der Universität Ulm herangezogen. Die Tübinger Archäologen haben erste Erkenntnisse über diese „ostschwäbische Digital-Kultur“, wie sie vorläufig genannt wird, inzwischen publiziert. (AJA, 114, pp 557-561, doi: 10.3764/aja.114.3.557)

Mai. Einzelne Medienberichte über den 100. Geburtstag Max Frischs stießen auf wenig Interesse. Im Mittelpunkt stand einmal mehr der Fussball. Nach zahlreichen zweiten Plätzen in verschiedenen Wettbewerben, wurde Bayer Leverkusen erstmals deutscher Fussball-Meister, vor Dortmund und Mainz. Der VfB Stuttgart stieg als Tabellenletzter aus der Fußball-Bundesliga ab. Manager Fredi Bobic erklärte seinen Rücktritt. In einer gemeinsamen Erklärung von Vorstand und Trainer, der auch in der zweiten Liga Bruno Labbadia sein wird, hieß es: „Der Verein strebt den sofortigen Wiederaufstieg an.“ Bayern München wurde Drittletzter. In zwei spannenden Relegationsspielen konnte sich der Rekordmeister gegen den fränkischen Rivalen von Greuther Fürth durchsetzen und den Klassenerhalt sichern. Nur fünf Tage später gewann der FC Bayern das Champions-League-Finale in London gegen die überraschend ins Endspiel gelangte Mannschaft des FC Kopenhagen.

Juni. Das auswärtige Amt in Berlin riet jungen Frauen für diesen Sommer dringend von Aufenthalten in Italien ab. Nach der Einführung einer Audienzpflicht für deutsche Frauen bei Ministerpräsident Berlusconi wurde empfohlen, in der bevorstehenden Urlaubszeit andere Reiseziele zu wählen. Über mögliche Altersober- oder -untergrenzen in diesem Zusammenhang machte Günther Jauch, der Sprecher des neuen Außenministers und Vizekanzlers vonundzu Guttenberg, keine Angaben.

Juli. Die erfolgreiche Tatort-Reihe der ARD wurde überraschend abgesetzt. Nach über vierzig Jahren war im Sommer Dreh-Schluss. Aus diesem Anlass fand eine große finale Party in Ludwigshafen statt. Alle noch aktiven Kommissare und Kommissarinnen, Ermittler und Rechtsmediziner, sowie viele Ehemalige, feierten gemeinsam am Rhein-Ufer. Die Kölner hatten einen Curry-Wurst-Stand aufgestellt, die Münchener Kommissare steuerten einige Fässer bestes bayerisches Exportbier bei und Axel Milberg, alias Borowski, brachte aus Kiel frischgeräucherte Sprotten. Bis zum nächsten Morgen wurde gefeiert, gezecht und in Erinnerungen geschwelgt. (Zwei Tage später, am 17. Juli, wurde in Frankfurt das Finale der Frauen-WM im Fussball ausgetragen … zwischen Nigeria und Australien! Endstand: 1 : 2) Die allerletzte Tatort-Folge wurde dann Mitte Oktober gesendet. Sie trägt den Titel „Taxi aus Leipzig.“

August. Auf geht’s! Das Müchener Oktoberfest fand dieses Jahr erstmals bereits im August statt. Schweißgebadet sprach OB Uhde nach ungewöhnlichen 11 Schlägen das traditionelle “ozapft is!”. Anschließend wurde das neue Team des FC Bayern München präsentiert. Mannschaftsführer Bastian Schweinsteiger versprach unter dem tosenden Beifall der stammwürzig erhitzten Menge, in dieser Saison die Meisterschale wieder nach München zu holen. Dem schloss sich der neue Trainer Thomas Tuchel an und ergänzte, dass natürlich auch der Champions-League Titel erneut gewonnen werden soll. Die Begeisterung im überfüllten Zelt war grenzenlos. Spontan und gemeinsam stimmte man den traditionellen Spider-Murphy-Song „Schickeria“ an und stemmte die Maßkrüge gen Zelthimmel.

September. Früher Wintereinbruch in Deutschland. In Castrop-Rauxel und Buxtehude brach die Fernwärmeversorgung, in Leipzig und Zwickau der Straßen- und in München, Berlin und Hamburg der S-Bahn-Verkehr zusammen. Erste Testfahrten auf der Neubau-Strecke der Bahn zwischen Wendlingen und Ulm, die für die zweite Monatshälfte mit einer Draisine geplant waren, wurden aus Sicherheitsgründen abgesagt.

Oktober. Auf der Frankfurter Buchmesse wurde wie jedes Jahr, so auch 2011, einmal mehr der endgültige Durchbruch des E-Book gefeiert. Zugelassen waren in diesem Jahr nur Aussteller, die mindestens einen Titel in einer elektronischen Reader-Version anbieten konnten. Den diesjährigen Deutschen Buchpreis erhielt Oliver Bendel für seinen neuen Handy-Roman „Handygirl – Part III“. In diesem Teil spielt unsere Freundin Liza in einem Theaterstück mit. „Frühlings Erwachen“ von Frank Wedekind. Kathi sitzt auf der Ersatzbank und Handygirl hat eine neue Aufgabe als Superheldin.

November. Im Print-Bereich machten in diesem Herbst gleich zwei Publikationen außerordentlich Furore und erfreuten die zuletzt nicht verwöhnte Buch-Branche mit stattlichen Extra-Umsätzen. Gefeiert und in ganz Deutschland bestens verkauft, wurde das neue Buch von Uwe Tellkamp. „Im Sturm“ erzählt, wie einmal zu DDR-Zeiten der ganze Stadtteil Weißer Hirsch durch einen Schneesturm vom Rest Dresdens abgeschnitten war. Den Bewohnern des Nobel-Viertels wurde daraufhin ähnlich langweilig, wie den Lesern von Tellkamps Werken. Für Schlagzeilen sorgte auch Hape Kerkeling mit seinem neuesten Verkaufserfolg “Ich bin wieder da!”. Innerhalb weniger Tage war die Erstauflage von 1 Million Exemplaren verkauft. BILD hatte Auszüge vorab veröffentlicht und seine verkaufte Auflage damit ebenfalls beträchtlich steigern können. Til Schweiger hat die Filmrechte erworben. Für die Titelrolle ist Nora Tschirner vorgesehen.

Dezember. Erstmals fanden zu Beginn des Monats die „Freilassinger-Lyrik-Tage“ in der „Georg-Trakl-Bibliothek“ statt. Aus ihren Werken lasen, neben einigen vielversprechenden jungen Talenten, die bekannten Dichter Michael Lenz, Jan Wagner und Morten Söndergaard.

Geschenk-Renner unter deutschen Weihnachtsbäumen im zu Ende gehenden Jahr 2011: Der E-Book-Reader von ALDI. Auf dem Modell „Weimar“ sind Goethe und Schiller vorinstalliert.