Bücher und Gedanken zur Geschichte der DDR aus Anlass des 60. Jahrestages eines Volksaufstandes
“Die Wetter schlagen um: / Sie werden kälter. / Wer vorgestern noch Aufstand rief, / ist heute zwei Tage älter.” (*)
Als es 1989 in Leipzig zu den großen Montagsdemonstrationen kam, die das Ende der DDR einläuteten, war die Sorge der Menschen, dass diese Kundgebungen des Volks-Unwillens enden könnten wie 1953, wie 1968 der Prager Frühling oder wie die Studentenproteste auf dem Pekinger Platz des Himmlischen Friedens wenige Monate zuvor. Mit gewaltbereiten Polizei- und Militärtruppen, rücksichtslosem Schusswaffen-Gebrauch, Panzer-Einsätzen.
Jene Ereignisse, die am 17. Juni 1953 ihren Höhepunkt erreichten, waren die Folge von Arbeiterstreiks, die einige Tage vorher begonnen hatten. Bauarbeiter protestierten gegen die Erhöhung der Arbeitsnormen und damit direkt gegen die Regierung eines Arbeiter- und Bauernstaates, von dem sie annehmen sollten, dass er ihre Interessen vertritt. Am Mittwoch, dem 17. Juni, kam es zum Generalstreik und zu Großdemonstrationen in Berlin, Leipzig und vielen anderen Städten, sowie zu Angriffen aufgebrachter Massen gegen Einrichtungen, die die Staatsmacht repräsentierten: Parteigebäude der SED in Halle und Leipzig, die Stasi-Zentrale in Jena, die Stadtverwaltung in Görlitz.
Bereits am Vortag waren Truppen der sowjetischen Besatzungsmacht in Alarmbereitschaft versetzt und russische Panzer in Stellung gebracht worden. Am 17. Juni eskalierte die Situation. Rotarmisten feuerten in Berlin in die aufgebrachte Menschenmenge, Panzer überrollten Demonstranten. Am nächsten Tag wurde der Aufstand mit größter Gewalt niedergeschlagen. Zurück blieben Tote und Verletzte. Und schon am 19. Juni, einem Freitag, verhängten Schnellgerichte Todesurteile gegen 17 angebliche Anführer, die sofort vollstreckt wurden. Der 60. Jahrestag dieser Ereignisse bietet eine gute Gelegenheit die Beschäftigung und Auseinandersetzung, nicht nur mit dem Juni 1953, sondern mit vier Jahrzehnten DDR-Geschichte, wieder etwas zu intensivieren.
Zwei Bücher von Hermann Vinke können dabei sehr hilfreich sein. Sie sind alles andere als trocken aufbereiteter Geschichtsstoff; sie sind kurzweilig und dabei wesentlich seriöser als manche sogenannte Dokumentation der letzten Jahre im TV. “Die DDR. Eine Dokumentation mit zahlreichen Biografien und Abbildungen” hat mir sehr geholfen, die Ereignisse von 1953 hier kurz, knapp, aber wie ich hoffe einigermaßen korrekt wiederzugeben. Das Buch rekapituliert die ganze DDR-Geschichte, einschließlich Vorgeschichte und Ereignissen in den Jahren nach dem Weltkrieg, die zum Entstehen eines zweiten deutschen Staates führten. Neben den politisch Handelnden von Pieck bis Honecker, werden Persönlichkeiten aus allen gesellschaftlichen Bereichen vorgestellt. Breiten Raum gibt der Autor den Tendenzen und Entwicklungen die dann schließlich zu offenen Grenzen, dem Fall der Mauer und zur Wiedervereinigung führten.
Die im Anhang aufgeführten Museen und Gedenkstätten lohnen sicher jederzeit einen Besuch. Auch über zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung sind immer noch Städte, Regionen und Landschaften im Osten Deutschlands zu entdecken und zu erkunden. Neugierig und nachdenklich machend, regt dieses Buch dazu an. Im Vorwort schrieb Wolfgang Thierse: “Die Erinnerungen an das Leben in der DDR, an den Alltag unter den Bedingungen einer Diktatur, an den aufgeblähten Sicherheitsapparat, an die politische Justiz, an die Mangelwirtschaft verblassen allmählich. Dabei lohnt sich die Erkundung der DDR-Geschichte gerade für junge Menschen: Denn in der Beschäftigung mit der DDR lernen sie auch die heutige Bundesrepublik besser kennen und verstehen. Sie erfahren, warum Freiheit, Rechtssicherheit und Demokratie ebenso schützenswerte wie zerbrechliche Errungenschaften sind…”
Unter die Haut geht stellenweise “Gegen den Strom der Unfreiheit”, das Zeitzeugen-Buch von Hermann Vinke. Hier wird Geschichte personalisiert. Die Schicksale ganz verschiedener Menschen, ihre Erlebnisse in der DDR, in Beruf und Alltag, im Widerstand, in Haft, bei Verfolgung oder Verschleppung, werden in Form von Interviews, Portraits und Reportagen zu spannendem Lesestoff. Man liest von abenteuerlichen Fluchtgeschichten, der empörenden Wehrlosigkeit politischer Gefangener, lernt den Naturschützer Hans Dieter Knapp kennen, begegnet engagierten Frauen wie Ulrike Poppe und Bärbel Bohley, Friedensaktivisten und Kulturschaffenden. Einige recht bekannte Namen sind ebenfalls vertreten, wie der heutige Bundespräsident Joachim Gauck oder sein Nachnachfolger im Amt des Leiters der Stasi-Unterlagenbehörde Roland Jahn. Beide Bücher von Hermann Vinke haben ausführliche Personenregister, die nicht nur das Nachschlagen ermöglichen, sondern zudem auf den einen oder anderen Namen neugierig machen. Die umfangreichen Literatur- und Quellenverzeichnisse regen zu vertiefender Lektüre an.
Hermann Vinke war viele Jahre Journalist und als Korrespondent u. a. in den USA, Japan und Ostdeutschland tätig. Er hat zahlreiche Bücher geschrieben, darunter das sehr bekannte, auch in Schulen eingesetzte “Das kurze Leben der Sophie Scholl”, für das er mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet wurde. Seine beiden hier erwähnten Bücher sind bei Ravensburger erschienen, bieten seriöse, sorgfältig rechechierte Daten und Fakten, umfangreiches Bildmaterial, sowie zahlreiche Abbildungen von Original-Dokumenten. Es sind schöne, aufwendig gestaltete Bücher, optisch und haptisch jederzeit ein Genuss. Bücher die man immer wieder gerne in die Hand nimmt. Vom Verlag wohl vorrangig für eine jüngere Lesergruppe gedacht, bieten die Bücher von Hermann Vinke durchaus kompakte, ansprechend aufbereitete Informationen für alle Altersgruppen.
Das wichtigste belletristische Werk, das sich direkt mit den Ereignissen rund um den Arbeiteraufstand beschäftigt, hat Stefan Heym geschrieben, der in diesem April 100 Jahre alt geworden wäre. In seinem 1974 erschienenen Roman “5 Tage im Juni” wird das Geschehen chronologisch aus der Sicht von (fiktiven) Beteiligten erzählt, in deren Mittelpunkt der Arbeiter und Parteigenosse Witte steht. Zwischen den einzelnen Kapitel findet man kurze Auszüge aus Originaldokumenten, etwa aus Verlautbarungen des Zentralkommittees der SED, Pressemeldungen oder Befehlen der Militärkommandos. Dieses Buch habe ich zum erstenmal in jungen Jahren gelesen und jetzt im Rahmen der Arbeit an diesem Blog-Beitrag einige Passagen erneut. Ich war überrascht wie frisch der Schreibstil Heyms noch ist. Erzählt wird über weite Strecken in dialogischer Form, was erkennen lässt, dass Heym stark von us-amerikanischen Autoren beeinflusst wurde. Vor der Nazidiktatur war er einst über den Ozean geflohen, bekam die amerikanische Staatsbürgerschaft und verließ das Land wieder als die Auswüchse der McCarthy-Ära unerträglich wurden.
Der fulminante Großroman “Rummelplatz” von Werner Bräunig, der 1934 in Chemnitz geboren wurde, endet mit den Ereignissen des Juni 1953. Vorher schildert er breit angelegt das Schicksal einiger junger Leute, die aus sehr unterschiedlichen – teils politischen, teils persönlichen – Gründen als Arbeiter im berühmt und berüchtigten Bergbaukombinat Wismut gelandet sind. Eine harte Realität, die mit den eigentlichen Wünschen und Sehnsüchten der Menschen wenig zu tun hat. Diese triste, von Repressionen und Unsicherheiten geprägte Alltagswelt beleuchtet der Autor aus verschiedenen Perspektiven. Dabei wird sehr gut nachvollziehbar, wie es zu den Aufständen und Ausbrüchen im Juni 1953 kommen konnte. Bräunig hat ein literarische Meisterwerk geschaffen, das erst spät die verdiente Beachtung fand. Geplant hatte er auch noch einen zweiten Teil. Die Realisierung scheiterte letztlich am exzessiven, unsteten und kräfteraubenden Lebensstils Bräunigs, der 1976 zum frühen Tod führte. Zu diesem Buch hat Christa Wolf ein Vorwort geschrieben und Angela Drescher erläutert den nicht eben geradlinigen editorischen Werdegang.
Jüngeren Datums sind zwei ebenfalls recht dicke Familienromane. (Offensichtlich müssen Romane über das Leben, Streben und Scheitern in der DDR einen gewissen Umfang haben.) Dabei ist “Der Turm” (Erscheinungsjahr: 2008) von Uwe Tellkamp sogar schon dabei ein echter Klassiker zu werden. Hier sind die Protagonisten in akademischen Berufen tätig und bekommen, da sie nicht zur Arbeiter- und Bauernklasse gehören, vom Regime allerhand Steine in den Weg gelegt. Sie sind im Dresdner Nobelviertel Weißer Hirsch, malerisch am Elbhang gelegen, zu Hause, dem auch der Autor entstammt. Uwe Tellkamp schreibt lange, dichte Sätze, die Lektüre fällt nicht immer leicht. Dennoch oder gerade deshalb ist das Buch die herausragende Beschreibung eines Milieus, das in der ehemaligen DDR keine führende Rolle spielen durfte. Drei Jahre muss sich der junge Christian Hoffmann, Sohn eines Chefarztes, zum Militär verpflichten, um überhaupt eine Chance auf den begehrten Medizin-Studienplatz zu bekommen.
Etwas anders ist die Ausgangssituation für die Hauptfiguren in “Brüder und Schwestern” von Birk Meinhardt, das erst in diesem Jahr erschienen ist. Am Beispiel der drei Kinder des Druckereileiters Willy Werchow, lernen wir exemplarische Lebensläufe im pseudokommunistischen SED-Staat kennen. Während der eine Sohn mit dem System schon früh in Konflikt gerät und der zweite sich zum Opportunisten entwickelt, sucht die Tochter nach Geborgenheit in der Gegenwelt eines Zirkus. Birk Meinhardt ist ein ausgesprochen spannendes und deftiges Buch gelungen, das Leser rasch fesselt.
Dieses Bild werde ich nicht mehr vergessen. Es muss 2007 oder 2008 gewesen sein, als sich zufällig in einem der von Menschen überfüllten Gängen der Leipziger Buchmesse zwei alte Männer begegneten. Es waren die Schriftsteller Günter Grass und Erich Loest, die sich dann gerührt und sprachlos lange in den Armen lagen, bis sie sich wieder trennen mussten, um Verpflichtungen des Messealltags – Lesungen, Interviews, Signierstunden – nachzukommen. Erich Loest hat Mitte der 1990er Jahre einen wichtigen Roman rund um die Wende-Ereignisse in Leipzig geschrieben. Wie schon bei Tellkamp und Meinhardt, steht auch in „Nikolaikirche“ eine Familie im Mittelpunkt. An ihr werden exemplarisch die Risse und Konflikte aufgezeigt, die durch die ganze DDR-Gesellschaft gingen. Immer mehr in den erzählerischen Vordergrund treten im Verlauf der Handlung jene Menschen der sächsischen Metropole, die mit Diskussionen, Gebeten, Andachten und Kerzen den Weg für die späteren Märsche von Zehntausenden ebneten. Besonders interessant sind Abschnitte in denen deutlich wird, welche Rolle die Kirchengemeinden in Leipzig und ihre geistlichen Vertreter in diesen so entscheidenden Monaten spielten. Sie boten Schutz und Freiraum für Versammlungen und Gespräche, sie waren dort, wo Kirche eigentlich immer sein sollte: ganz nah bei den Menschen ihrer Zeit, ihrer Umgebung.
„Auferstanden aus Ruinen / Und der Zukunft zugewandt, / Laß uns dir zum Guten dienen, / Deutschland, einig Vaterland.“ Verse des Staatsdichters und führenden Kulturfunktionärs der DDR Johannes R. Becher und vielgesungener Beginn der DDR-Nationalhymne. Seine Vorstellung vom „einig Vaterland“ verwirklichte sich ganz anders als er sich das vermutlich vorgestellt hat. Zudem hat sein Staat neue Ruinen hinterlassen, die bis heute – z. B. wie hier in Leipzig – als pitoresk-absurde Denkmäler besichtigt werden können.
In Hermann Vinkes DDR-Buch wird auch Marion Brasch kurz erwähnt, auf Seite 179 geht es um die Jugend- und Musikszene. Marion Brasch gehörte zu den Moderatorinnen des Ostberliner Jungendradios DT 64. Im letzten Jahr hat sie einen bewegenden biographischen Roman (“Ab jetzt ist Ruhe”) über sich, ihre Eltern, Brüder und Freunde veröffentlicht. Sie ist die Schwester des 2001 verstorbenen Schriftstellers Thomas Brasch und die Tochter eines überzeugten Kommunisten und führenden Kaders der DDR-Einheitspartei SED. Ihr Buch ist ebenso traurig wie humorvoll, und bietet einen leicht lesbaren Einblick in den Alltag einer Familie, die eigentlich zu den Stützen des real existierenden Sozialismus zählen sollte, jedoch an den Vorstellungen und Widersprüchen dieser inhumanen Gesellschaft zerbrach.
Die gesammelten Gedichte von Thomas Brasch (geboren 1945 im englischen Exil der Eltern, gestorben 2001 in Berlin), einem der bedeutendsten “DDR-Schriftsteller”, sind jetzt über 1000 Seiten schwer unter dem Titel „Die nennen das Schrei“ bei Suhrkamp erschienen. “Tausend Seiten Liebe, Krieg und Sterben, Tausend Seiten Schmutz, Schutt und Scheitern. Tausend Seiten Alltag, Anarchie und Geschichte… Tausend Seiten Deutschland,” schreibt der Spiegel über dieses Buch. Das Werk eines Dichters und Erben Brechts, das es noch richtig zu entdecken, bzw. wiederzuentdecken gilt.
“… und wir verehrten die Freiheit wie eine strahlende Schönheit in der Ferne.” sagte Joachim Gauck in seiner Dankesrede zur Verleihung des Ludwig-Börne-Preises 2011 im Rückblick auf sein Leben in der DDR. Den Satz las ich in Hermann Vinkes „Gegen den Strom der Unfreiheit“, in dem auch ein ausführliches Interview mit Gauck zu finden ist. Wie schwer es nach 1989 wurde, mit scheinbar grenzenloser Freiheit umzugehen, musste nicht nur er erfahren. Zu oft waren die Erwartungen letztlich doch sehr bescheiden auf die Erfüllung simpler Konsumwünsche ausgerichtet. Eine Entwicklung bei der sich Menschen aus ehemals westlichen und ehemals östlichen Provinzen schneller einig waren als auf vielen anderen Gebieten. Dabei blieb nicht selten die Freiheit, ja manchmal sogar die körperliche Unversehrtheit Andersdenkender auf der Strecke. Womit wir bei der im heutigen Deutschland nur noch im schiefen Licht dargestellten Rosa Luxemburg an- und damit möglicherweise etwas vom Thema “17. Juni 1953” abgekommen wären. Oder doch nicht?
(*) Das Zitat stammt aus dem Gedicht “Und der Sänger Dylan in der Deutschlandhalle” von Thomas Brasch” (in: Der schöne 27. September)