Die letzte Lesung

Blau karierte Tischdecke, Rotwein und Pizza Frutti di Mare. Der Kellner im perfekt sitzenden Anzug mit nobler Fliege. Den italienischen Akzent wird er sich antrainiert haben, denn er wurde vor zwei Generationen in Deutschland geboren. Er sorgt sich dieser Tage um ältere Verwandtschaft, die noch in der Gegend von Bergamo lebt. Meine vorerst letzte Pizza außer Haus in diesem so geliebten Ambiente.

Der Erika-Mann-Platz im Zentrum. Alte Linden in der Mitte, drumherum fidele Mischung aus historischem Bestand und sachlicher Funktionalität. Ort quirliger Urbanität. Cafès, Kneipen, Restaurants. An der südöstlichen Ecke die kleine Kultbuchhandlung. Wird mein letzter Besuch im Laden auf unabsehbar der letzte bleiben? Wenige hundert Meter weiter, hinter dem Rathaus, die Stadtbibliothek. Seit zwei Wochen sichtbares Symbol einer hermetischen Gesellschaft. Dreivier Romane liegen zuhause, sie waren weniger fesselnd als erwartet. Die Leihfrist verlängert bis Sankt Nimmerlein.

Die letzte Bierbestellung bei Charlotte, genannt Charly, seit vielen Jahren Stammkraft in meiner Altstadt-Stammkneipe. Wenn ich gewusst hätte, dass diese Halbe an diesem Ort die letzte sein würde für lange Zeit, wäre es an diesem Abend bestimmt nicht die letzte geblieben.

Ich verbringe viel Zeit mit Kindern und Frau, was natürlich schön ist, und trauere manchmal den Veranstaltungen nach, die jetzt gerade wären. Der Schriftsteller Ingo Schulze im Hessischen Rundfunk.

Ingo Schulze (l.), Foto: Wiebke Haag

Ingo Schulze war der bislang letzte Schriftsteller, den ich auf einer echten Lesung, leibhaftig und vor Ort mit reichlich Zuhörerschaft erleben durfte. Damals, es war der 12. März, eine durchaus riskante Angelegenheit, obwohl mir die Eintrittskarte von einem Latexhandschuh überreicht wurde und reichlich Desinfektionsmittel strategisch günstig positioniert zur allgemeinen Verfügung standen. Doch dann der überfüllte Saal, die stickige Luft – der Besuch der Veranstaltung wurde zur Herausforderung des Schicksals. Das alles nicht einmal das reinste Vergnügen. Bei stümperhafter Moderation mit hohem Fremdschämfaktor und einem gleichmütig reagierenden Schriftsteller, der viel zu lange Passagen aus dem neuen Roman las und damit den potentiellen zukünftigen Lesern einiges an möglicher Spannung nahm.

Mitte März 2020. Kommt mir vor als wäre es schon ewig her. Die Buchmessestadt Leipzig ohne Buchmesse. Leipzig in trister Stimmung, bei bedecktem Himmel, gelegentlichem Regen und auffrischendem Nordostwind. Die Lesung von Schulze war eines der wenigen Ereignisse die vom geplanten und längst sorgfältig vorbereiteten, die Buchmesse normalerweise begleitenden Mega-Event Leipzig liest übrig blieb. Nicht wenige Buchmenschen waren trotz Messeausfall und viraler Widrigkeiten nach Sachsen gekommen. (Es war kurz vor den Verboten und wohlmeinenden Verhaltensnormen – eine Zeitenwende vor heute.) Aus Solidarität mit den kleinen Verlagen, den unabhängigen Buchhändlern, den verblüfften Autoren und Autorinnen, die langsam erkannten, dass es ab sofort an die Fundamente ihrer materiellen Existenz gehen würde. Aus Sympathie zum Hotel in dem man seit Jahren entgegen der üblichen Messetrends stets wohlfeile und freundliche Aufnahme fand.

So viele Gutscheine können wir gar nicht verkaufen, sagen die Inhaber der kleinen Buchläden, so tolle Webshops nicht ins Netz stampfen, so viele Fahrradkuriere niemals aussenden, so viel auf Kosten der eigenen Gesundheit schuften, dass die jetzt eingetretenen Verluste kompensiert werden könnten. Camus Pest und Manns Tod in Venedig sind die Seuchenbestseller, die sie in günstigen Taschenbuchausgaben den Kunden vor die Quarantäne-Schleuse legen dürfen.

Seltsam im Freien zu Wandeln. Mit Misstrauen bedacht ein Jeglicher der entgegenkommt, schon vorab verdächtig der Bereitschaft die nunmehr geltenden Abstands- und Anstandsregeln zu verletzen. Die Folge ist verdrucktes, huschiges Aneinandervorbei. Wenige Schritte weiter springt ein Plakat ins Auge das Dank aus- und Solidarität verspricht, und im Ohr noch den Fernsehsprecher, der von Wellen der Hilfsbereitschaft weiß und dessen Sender versichert für EUCH, also für dich und mich, da zu sein.

Das letzte Buch gelesen. In der Krise plötzlich nicht mehr lesen können. … Ich spiele Scrabble mit einer App, ich schaue Netflix, ca. dreizehn Minuten. Dann falle ich in einen tiefen Schlaf. Es läuft ganz gut, dachte ich, aber heute ist so ein Tag, an dem der Rücken schmerzt, und alles reizt, jede Kleinigkeit, und ich nicht mehr mag, und ich das auch so gerne einfach so sagen möchte: Ich mag nicht mehr. (Die Schriftstellerin Lena Gorelik über den Alltag in der Isolation, mit Kinderbetreuung, Autorinnentätigkeit und vernachlässigten individuellen Bedürfnissen.)

Seltsam kommt es nun jenen vor die Enkel haben und denen nicht mehr nahe sein dürfen. Vorlesestunden mit kuscheligem Aneinander sind Vergangenheit. Datenfernkommunkation in Ton und Bild stellt keine wirklich genügende Ersatznähe her. Da muss in höchster Not und angesichts akutem Büchermangel der beliebte Logistikdienstleister DHL bemüht werden. Und so gehen Der Räuber Hotzenplotz, die einfallsreichen Geschichten und Bilder von Janosch, Der Maulwurf Grabowski zusammen mit vielen anderen spannenden Erzählungen und bunten Bilderwelten als Fünf-Kilo-Paket auf die Reise zu den Lieben, die geographisch nah, gleichzeitig unerreichbar sind. Seltsam auch das längst erwachsene Kind in einem anderen Land zu wissen, in dem die Menschen zwar die gleiche Sprache sprechen und das ungleich näher liegt als irgend ein sagenumwobenes Timbuktu, das jedoch, gleich dem eigenen Staat, Grenzen definiert, die Begegnungen mit Hüben oder Drüben ausschließen. 

Große Reiche vergehen, ein gutes Buch bleibt. Ich glaube an gut beschriebenes Papier mehr als an Maschinengewehre, lässt Lion Feuchtwanger sein alter ego Jacques Tüverlin im Roman Erfolg feststellen. Corona ist lautlos und hinterhältig, mikroskopisch klein und mit Literatur allein nicht zu besiegen, allenfalls besser zu ertragen. Es gilt die Zeit mit guten Büchern zu überbrücken, bis der Gegner mit den Waffen moderner medizinisch-biologischer Forschung in seine Schranken gewiesen werden kann. Dann wäre neu zu hoffen: Dass die emsige Buchhandlung im Städtchen wieder öffnet, der kleine unabhängige Lieblingsverlag noch existiert, eine nächste Buchmesse angekündigt wird. Und die Generationen wieder auf einem Lesesofa vereint sind.

Sudeleien. Anfang März 2014

Frühblüher, Biller und der doppelte Leo

Einer der ersten Märztage. Frühlingsahnen in Wald, Wiese und Vorgärten. Es geht dem Abend zu. Der süddeutsche Himmel wechselt gemächlich seinen Farbton. Aus strahlendem Hell- wird tiefes Dunkelblau, wenig später Nachtschwarz. Auf der CrossOver-Welle Bayern 2 singt Carmen Consoli von „Fiori d’arancio“ (Orangenblüte). Nach einem sonnenreichen Frischlufttag im Westallgäu zurück in der kleinen Großstadt, staune ich einmal mehr über das eindrucksvolle Blätterwachstum auf dem deutschsprachigen Zeitschriftenmarkt. Während vor allem die täglich erscheinenden, gedruckten Zentralorgane unserer Presselandschaft, längst im Spätherbst ihrer Gutenberg-Existenz angekommen, dem Siechtum durch Flucht in digitale Parallelwelten zu entkommen versuchen, sprießt es heftig und bunt am guten alten Kiosk.

Geradezu inflationär sind Titel-Kreationen mit einem etwas schwammigen Begriff, der wohl irgendwelche halbgaren Sehnsüchte weckt: „Land“. Den Kombinations-Phantasien der Verlags-Kreativen sind keine Grenzen gesetzt. So entdecken wir die metaphysische „Landidee“, den ins mystische verweisenden „Landzauber“, oder bodenständigere Varianten wie „Land der Berge“ und „Land und Forst“. Zwölfmal jährlich grüßt uns „Servus in Stadt & Land“, deren aktuelle Ausgabe – ganz am Puls des Frühlings – verspricht: „Alles erwacht.“ Für den naturnahen Junkie erscheint regelmäßig die „Landapotheke“. Wer bei „Landlust“ an die flotten Mädels vom aktuellen „Bäuerinnen-Kalender“ denkt, liegt völlig falsch. Ob es Schmusekater gibt, die ihrer Heidi ein Jahresabo von „Geliebte Katze“ zum Jahrestag schenken, bleibt offen. Der Titel „Sauen“ hingegen ist deutlich genug, es sei denn schwäbisches Kundenpotential denkt dabei an forciertes Joggen.

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Katze vor Frühlingsboten

Unter den wohlgestalteten Werbeträgern besonders reichhaltig vertreten ist die mundgerechte Kategorie „Essen und Trinken“. Wer nach dem Durchblättern von „Sauen“ wissen möchte, was aus eben diesen werden kann, erfährt es zum Beispiel in „Kochen und Genießen“, „La Tavola“ oder in der schlicht deutlichen „beef!“, die mit ihren sechs Ausgaben pro Jahr Leser und Gaumen erfreuen möchte. Das fleischlose Glück versprechen „Vegetarisch Fit“ und „Kraut & Rüben“. Wenn dennoch etwas schief geht, hilft der „Naturarzt“. Auf falsche Fährte führt „Filethäkeln“. Der Titel hat absolut gar nichts mit besonders feiner Fleischzubereitung zu tun, sondern gehört aufs weite Feld der Handarbeits-Journale, deren reiche Vielfalt die große Zahl jener Zeitschriften ergänzt, die traditionsreich seit gefühlten Jahrhunderten mit anmutigen Frauennamen von Brigitte bis Verena treue Käuferinnenschichten finden.

Für die nächsten Monate ist weiterer Zuwachs in den Auslagen gut sortierter Bahnhofsbuchhandlungen und den Sortimenten breit aufgestellter Lesezirkel zu erwarten. Wie man hört stehen diese Titel unmittelbar vor der Markteinführung: „LandFlucht“, „Mark und Bein“ „Dinkel und Bohne“, „Vegan im Alter“, „Mein Fleisch & ich“. Fordern Sie heute noch Probeexemplare bei den herausgebenden Verlagen an!

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Frühlingsboten vor Hintergrund

Dem aller Unhandlichkeit zum Trotz auflagen-erfolgreichen Wochenblatt „Die Zeit“ konnte ich neulich entnehmen, dass dem notorischen Konfliktsucher und Möchtegern-Großschriftsteller Maxim Biller der deutschsprachige Schreiber-Nachwuchs zu lau ist. Weil bildungsbürgerlich mittelschichtig verweichlicht, weil mit verwechselbarem Geruch der Nachwuchsdichter-Ställe in Leipzig und Hildesheim, weil themenschwach und faden Einheitsbrei erzeugend. Dem zeternden Gelegenheits-Romancier fehlt das Migrantische, das frisch Reingeschmeckte, das radikal-würzige Junggemüse von Balkan, Balaton und Baikal.

Nur so aus dem Bauch heraus und ohne Anspruch auf Vollständigkeit habe ich daraufhin ein paar Namen aneinander gereiht:

Terézia Mora, Sasa Stanisic, Olga Grjasnowa, Ilija Trojanow, Olga Martynova, Lena Gorelik, Vladimir Vertlib, Julya Rabinowich, Catalin Dorian Florescu, Selim Özdogan, Hilal Sezgin. (Links spare ich mir. Alle hier aufgeführten sind leicht im Netz und auf den entsprechenden Buchhandels-Plattformen zu finden. Dort erfährt man Näheres über ihre Herkunft, sprachliche Sozialisation und bis heute publizierten Werke.) Dem von eigenen Zweifeln freien, nur gelegentlich von lästiger Justiz behinderten Erfolgsschriftsteller Biller schlage ich vor, mit einem Buchhändler seines Vertrauens, wahlweise einem beschlagenen Komparatisten, über diese und andere Namen ins Gespräch zu kommen. Ein Zugewinn an Erkenntnis ist ihm sicher. (1)

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Hier wirkt der LandMann. („Er setzt seine Felder und Wiesen in Stand.“)

Was, außer Bauern im Außeneinsatz, im Märzen sicher kommt, ganz gleich ob die Landschaften bereits blühen oder noch von Schnee und Eis bedeckt sein werden wie im letzten Jahr, das ist die Leipziger Buchmesse. Und damit die schönsten Frühlingsboten aus der Dichter poetischen Gärten im Wettstreit um den Preis der Leipziger Buchmesse. In der Kategorie Belletristik stehen diese Titel – und nach ersten Eindrücken meine ich: durchaus zu recht – auf der Short-List:

Sasa Stanisic, Vor dem Fest (Luchterhand): Geschichten, Mythen und Legenden aus dem Heimatarchiv eines Dorfes. Kraft- und phantasievolle Erzählung.

Per Leo, Flut und Boden (Klett-Cotta): Der Historiker Leo verarbeitet die eigene Familiengeschichte zum Roman. Licht und Schatten deutscher Vergangenheit werden dabei differenziert betrachtet.

Katja Petrowskaja, Vielleicht Esther (Suhrkamp): „Was es bedeutet, die Spuren einer verzweigten Familie zu sichern, wenn nichts sicher ist, außer dem Verschwinden, davon wird hier erzählt…“ (Verlagstext). Ein weiterer erzählender Ost-Import auf dem deutschen Buchmarkt. Bachmann-Preis 2013.

Fabian Hischmann, Am Ende schmeißen wir mit Gold (Berlin Verlag): Noch ein Debütant. Eine junge Stimme die sich an das bewährte Genre des weit ausholenden Familienromans wagt. Im Stil noch etwas unreif.

Martin Mosebach, Das Blutbuchenfest (Hanser): Es mag viele Gründe geben Mosebach nicht zu mögen, aber literarisch hat er mit diesem Buch einen Glanzpunkt gesetzt. Sein Frankfurter Gesellschaftsroman vor dem Hintergrund des Balkankrieges, ist das Werk eines reifen, erfahrenen Autors.

Bei der Online-Wahl des Publikumspreises habe ich mich für „Flut und Boden“ von Per Leo (2) entschieden. Natürlich aus Interesse am Thema und nach den Eindrücken einer Leseprobe, hauptsächlich jedoch aus einem etwas kuriosen Grund, der mit dem Namen des Autors zu tun hat. Vor einiger Zeit habe ich die familienbiographischen Aufzeichnungen „Haltet Euer Herz bereit“ des Berliner Journalisten Maxim Leo (3) gelesen. Die ostdeutschen Lebensläufe von drei Generationen Leos werden in diesem Buch sehr eindrucksvoll beschrieben. Und ich habe mich gefragt, haben diese beiden schreibenden Leos etwas miteinander zu tun? Gibt es da Verwandtschaft oder ähnlich Verbindendes? Ich bin noch nicht dahintergekommen und nehme entsprechende Hinweise gerne entgegen.

Mehr über Menschen und Bücher rund um die Leipziger Messe- und Literatur-Tage gibt es in der zweiten Märzhälfte hier auf con=libri.

(1)  Wille, A. T.: Die Osterweiterung der deutschen Literatur. – Würzburg : Kaiserbuden & Altfrau, 2014 oder 15 (in print)

(2)  Leo, Per: Flut und Boden. – Klett-Cotta, 2014

(3)  Leo, Maxim: Haltet Euer Herz bereit. – Heyne, 2011 (Originalausg. bei Blessing, 2009)

Leipziger Begegnungen 2013

Autoren, Bücher, Themen rund um die diesjährige Buchmesse und das Literaturfest “Leipzig liest”

Der zweite Teil

“Ich habe in meinem ganzen Leben außer meinem Sparbuch noch nie ein Buch gelesen.” Behauptete neulich in einem Interview Heinz Georg Kramm, besser bekannt als Heino, seineszeichens LandaufLandab-Sänger („Schwarzbraun ist die Haselnuss“). Und der nachdenkliche Alphabet und verwirrte Vielleser wundert sich, auf was man im Land gut gefüllter Festgeldkonten und hormongesteuerter SUV-Piloten noch so alles stolz sein kann. – “Vorsicht Buch!” möchte man da hilfreich und warnend zugleich zurufen. Und so heißt denn auch – aber nicht nur deshalb – die neue Image-Kampagne der Buchbranche, die in Leipzig gestartet wurde und die in Zukunft die Republik flächendeckend überziehen soll. Wen sie wohl erreichen kann und ob sie bei hartnäckigen Fällen wie Herrn Kramm noch etwas bewirken wird?

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Das Buch sucht neue Leser- und Käuferschichten. Dazu schlägt die Buchbranche ab sofort kräftiger auf die Werbe-Trommel.

Hier können auch Kleine groß rauskommen. Die Buchmesse in Leipzig ist der ideale Platz für kleinere und unabhängige Verlage sich einem offenen Publikum vor Ort und einer breiteren Öffentlichkeit via berichtender Massenmedien zu präsentieren. Deshalb kommen sie Jahr für Jahr gerne wieder (und weil Frankfurt sowieso zu teuer ist!). Die meist schmalen, dafür oft sehr phantasievoll gestalteten Stände, gehören für Kenner zu den wirklichen Messe-Höhepunkten. Mit der “Leseinsel junger Verlage” wurde zudem für die Autoren dieser Marken ein ideales Podium geschaffen um leibhaftig und vor sehr interessierten und aufgeschlossenen Menschen aus den frisch verlegten Werken vorzutragen.

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Anselm Neft liest aus seinem Roman „Hell“ der im Satyr-Verlag erschienen ist.

Kurt Wolff war eine der profiliertesten Verleger-Persönlichkeiten in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Einige Zeit Weggenosse von Ernst Rowohlt, etablierte er 1912 sein eigenes Unternehmen. Im Leipziger Kurt Wolff Verlag erschienen neben vielen anderen Franz Kafka und Gottfried Benn, Georg Trakl, Frank Werfel und Walter Hasenclever. Die im Jahr 2000 gegründete Kurt Wolff Stiftung – deren Vorstand der umtriebige Stefan Weidle (Weidle Verlag) anführt – hat sich die Förderung einer “vielfältigen Verlags- und Literaturszene” zum Ziel gesetzt. Jährlich verleiht sie auf der Leipziger Buchmesse den Kurt Wolff Preis in mehreren Kategorien.

In diesem Jahr ging der Hauptpreis an den Wallstein Verlag, “der seit gut einem Vierteljahrhundert in sorgfältigen und gestalterisch anspruchsvollen Editionen die deutsche Literatur seit dem 18. Jahrhundert mit der Zeit- und Wissenschaftsgeschichte verknüpft und zugleich der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur eine herausgehobene Plattform bietet.” Den Förderpreis bekam das noch ganz junge Berliner Unternehmen “binooki.” Die Gründerinnen Selma Wels und Inci Bürhaniye verlegen zeitgenössische türkische Belletristik in deutscher Sprache. Zielgruppe sind in erster Linie die vielen Mitbürger im Lande mit türkischen Wurzeln, aber auch bei deutschen Muttersprachlern sollen diese, meist erstmals ins Deutsche übersetzten Werke, das Interesse an der aktuellen Literaturszene in der Türkei wecken.

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Der Leipziger Messestand von „Binooki“. Das Regalsystem ist nicht von Ikea, sondern besteht aus leeren Weinkisten. Die Verlegerinnen streuten das Gerücht, dass sie die darin enthaltenen Flaschen selbst ausgetrunken hätten.

Eine wirklich gute Idee hatte auch der mairisch Verlag. Er ist in Hamburg ansässig, pflegt ein recht buntes Programm und erfand jetzt kurzerhand den „indiebookday“ (den es allerdings in den USA schon länger gibt ;-)), angelehnt an die unabhängigen Plattenlabel (die sog. „Indielabel“) in der Musikindustrie. Der erste deutsche indiebookday fand am 23. März statt. An diesem Tag wurden Buchliebhaber aufgefordert in einen Buchladen ihrer Wahl zu gehen und ganz gezielt ein Buch zu kaufen, das aus einem Indie-Verlag stammt. Danach sollte ein Foto des Covers, des Buches, vielleicht sogar von Käufer mit Buch, in einem sozialen Netzwerk (Facebook, Twitter, Google+) oder einem Blog unter dem Stichwort „Indiebookday“ veröffentlich werden. Wer die Aktion gut findet, wird zudem gebeten darüber zu reden oder zu schreiben. Die für den Anfang nicht ganz schlechte Resonanz dieser Kampagne kann im Netz besichtigt werden.

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Keine Werbekampagne braucht es hingegen für Zeitgenossen wie den von mir sehr geschätzten Filmregisseur und bekennenden Bücherfreund Christian Petzold (“Wolfsburg”, “Gespenster”, “Barbara”). Als ihm jüngst ein gut dotierter Preis verliehen wurde und man wissen wollte, was er mit dem Geld vorhabe, antwortete er: “Zu einer Weltreise habe ich keine Lust. Ich glaube ich kaufe mir noch mehr Bücher.”

Zur Nachahmung empfohlen. Verlassen Sie dazu die viel beschrittenen Pfade der gleichgeschalteten Konsum-Boulevards, all die von Manhattan, Esprit, H & M, C & A, K & L, P & C, Schuh-Paradiesen, Jeanshallen, MacDings und Kauf-Bums gesäumten 1A-Lagen; meiden Sie die als Buchhandlung nur noch deklarierten öden Großflächen, deren Zukunft mehr als ungewiss ist. Biegen Sie ab in die Nebenstraßen, die Winkelgassen und versteckten Plätze. Wenn Sie dort irgendwo den Hinweis “VorsichtBuch!” entdecken – ignorieren Sie ihn. Betreten Sie den Laden trotzdem. Zum zwanglosen Stöbern und Schmökern, zum Entdecken und zu angenehmen Gesprächen über Literatur (!) mit kundigen Buchhändlern und Buchhändlerinnen.

Hier beispielhaft einige aktuelle Neuerscheinungen der erwähnten kleineren undoder jüngeren, auf jeden Fall aber medienkonzern-unabhängigen Verlage, deren  Produktion Sie dort möglicherweise begegnen werden:

Satyr-Verlag

Neft, Anselm: Hell. Roman, 2013. Euro 19,90

Bartel, Christian: Grundkurs Weltherrschaft. Bekenntnisse eines Ausnahmeathleten, 2013. Euro 11,90

binooki

Canigüz, Alper: Söhne und siechende Seelen, 2012. Euro 14,90

Boralioglou, Gaye: Der hinkende Rhythmus. Roman, 2013. Euro 15,90

Wallstein

Piwitt, Hermann Peter: Die Gärten im März. Roman, Neu aufgelegt 2013. Euro 19

Kögl, Gabriele: Auf Fett Sieben. Roman, 2013. Euro 17,90

Stahl, Daniel: Nazi-Jagd: Südamerikas Diktaturen und die Ahndung von NS-Verbrechen, 2013. Euro 34,90

mairisch Verlag

Paul, Stevan: Schlaraffenland. Ein Buch über die tröstliche Wirkung von Milchreis, die Kunst, ein Linsengericht zu kochen und die Unwägbarkeiten der Liebe. 15 Kochgeschichten, 2012. Euro 18,90 (wurde in Leipzig als Geheimtip gehandelt.)

Volandt & Quist

Gomringer, Nora: Ich werde etwas mit der Sprache machen, 2011. Euro 14,90. (s. a. Teil 1 der Leipziger Begegnungen 2013)

Gomringer, Nora: Monster Poems. Mit Illustrationen von Reimar Limmer, 2013. Euro 17,90