Stadt ohne Messe

Über die Gefahr weiterer Verluste

2018 erschien ein ebenso originelles wie großartiges Buch der Schriftstellerin und Buchgestalterin Judith Schalansky. Das Verzeichnis einiger Verluste. Im Herbst desselben Jahres konnte ich Werk und Autorin auf der BuchWien (eine Art österreichische Buchmesse) kennenlernen. Es war zu einer unbeschwerten Zeit, als Gedränge in Messegängen und in überfüllten Veranstaltungsräumen sorglos selbstverständlich waren. Niemand ahnte, dass ein gutes Jahr später Begriffe wie Corona, Covid-19, Epidemie und Pandemie in aller Munde sein würden.

Judith Schalansky schreibt, in dem von ihr selbst gestalteten, bibliophil anmutenden Band, von dem, was nicht mehr ist. Dem kaspischen Tiger, der ausgestorben ist, dem Hafen von Greifswald, dessen Verbindung zum Meer inzwischen verlandet ist, dem Palast der Republik in (Ost)-Berlin, einst vitales Repräsentations- und Veranstaltungszentrum des DDR-Staates, inzwischen abgerissen. 

Von den Sieben Büchern des Mani, eines Predigers und Missionars, Begründer des Manichäismus; Glaubensrichtung und verfasste Schriften des Persers, der im 3. Jahrhundert n. Chr. lebte, sind bis auf Rudimente aus der Welt verschwunden. Schalansky schreibt über die Sängerin und Dichterin Sapphos, von deren legendären Liebesliedern die aufgefundenen Schnipsel allenfalls eine Ahnung ermöglichen. Sollte sich Judith Schalanskys Verlag eines Tages zu einer erweiterten Neuauflage ihres Buches entschließen, wird sie möglicherweise einen Beitrag über die verschwundene Leipziger Buchmesse hinzufügen müssen.

Die Leipziger Buchmesse 2022 wurde abgesagt. So ging es dieser Tage durch Presse, Funk und Foren. Coronabedenken und Querrechner in großen Medienkonzernen, die ihre Teilnahme zunächst zugesagt hatten, später zurückzogen, gaben den Ausschlag für die Entscheidung von Stadt, Freistaat und Messeleitung. Um welche Art Firmen handelt es sich?

Zum Beispiel das Holtzbrinck-Konglomerat. In Deutschland findet man unter dessen Dach traditionelle Marken wie S. Fischer, Rowohlt, Kiepenheuer & Witsch, Droemer Knaur. Das große Rad dreht der Konzern international. Über MacMillan Publishers gehört er zu den großen Mitspielern im Geschäft mit der Vermarktung digitaler wissenschaftlicher Information. Dass hier Milliardenumsätze generiert werden, ist weniger bekannt. Science journals, Datenbanken, Forschungsdaten und deren Management, sprich Verwertung und Vermarktung, übersteigen die Erlöse traditioneller Literaturverlage um ein X-faches. Dazu kommen Beteiligungen an Zeitungsverlagen, Fernsehsendern, Plattformen und Streamingdiensten. Bleibt ein Name wie Holtzbrinck, für Bertelsmann, Bonniers und Co. gilt Gleiches, einer Angebotsmesse fern, fehlen dieser mehr als nur ein paar Stände.

Allerdings wird in der aktuellen Berichterstattung kaum deutlich, dass man die Marke Leipziger Buchmesse nicht auf seine Standaufbauten reduzieren kann. Nicht auf adrettes Verkaufspersonal, reichlich fließenden Perlwein, stets gut gefüllte Schälchen mit Knabberzeug. Es geht keineswegs lediglich um die nicht auszurottende Prospekt- und Flyerflut, um verschenkte Kugelschreiber, um bunte Luftballons für den Konsumentennachwuchs.

Leipzig im März, ob es schon blüht oder, wie nicht selten, das Winterweiß zurückkehrt, ist neben der traditionellen Messe der Buch- und Medienbranche ein dicker Strauß weiterer Veranstaltungen und Ereignisse. Wie die Manga-Comic-Con, das junge farbenfrohe Event, zu der Fans aus ganz Deutschland anreisen, um sich, als Comic- oder Mangafiguren verkleidet, zu treffen, auszutauschen, miteinander zu feiern – für viele ein lang erwarteter Jahreshöhepunkt.

Von zentrale Bedeutung ist seit über 20 Jahren das Lesefestival Leipzig liest, mit hunderten Lesungen und Präsentationen über die ganze Stadt verteilt. In Buchhandlungen und Apotheken, Theatern und Kulturzentren, Bahnhöfen und Kneipen, alten Sälen und angesagten Cafés. Die Auftritte bieten Autoren, deren Werke nicht auf den Sellerlisten vertreten sind, vielleicht erst am Anfang ihrer Karriere stehen, nicht zu unterschätzende Einkommensmöglichkeiten.

Dazu kommen Fortbildungen, Branchentreffs, Angebote für den Berufsnachwuchs, Leseförderung und Medienpädagogik für Kinder und Jugendliche. Schulungen und Informationen, die sich an Pädagogen, Buch- und Medienschaffende, Blogger und andere Influencer, Netzwerker, Schreibende aller Art oder solche, die es werden wollen, richten. Nicht zu vergessen die Antiquariatsmesse, ein eher ruhiger Ort im Messetrubel, der wie ein Relikt aus anderer Zeit wirkt. Hier werden sehr traditionelle Formen der Buchverehrung gepflegt, treffen sich exzellente Experten, Sammler, Händler und Neugierige.

Die Leipziger Messe bildet einen bewussten, gewollten Gegenpol zum Herbstereignis in Frankfurt. Hier stehen kleinere Verlage, die Leserschaft, Bildungs- und Leseförderung, im Fokus. Und man erlaubt sich eine Blickrichtung, die in den Osten und Südosten Europas gerichtet ist, während andernorts der dominante angelsächsische Markt im Vordergrund steht. Dieser Frühjahrshöhepunkt ist zudem von einiger merkantiler Bedeutung für die Stadt, ihren Handel, Hotels und Gastronomie.

Die Geschichte der Buchmesse in Leipzig geht weit zurück. Leipzig war nach der Reformation und dem folgenden Erfolgszug des Buchdrucks einer der wichtigsten Druckorte Europas. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts begann der Aufstieg zur bedeutenden Messestadt. Der erste Ratsmessekatalog mit Neuerscheinungen erschien 1594, vier Jahre früher als in Frankfurt am Main, das sich zum Konkurrenten entwickelte.

Auch die Stadt am Main hat eine lange Buchmessetradition, wichtige Institutionen der Buch- und Verlagswelt haben hier ihren Sitz. Hier befindet sich die Paulskirche, in der alljährlich der Friedenspreis des deutschen Buchhandels vergeben wird. Frankfurt ist die Geburtsstadt der Klassikerikone Goethe, den es später für kurze Zeit nach Leipzig zog, wo er es recht wild trieb und dabei auf Ideen kam, die im Lebenswerk Faust ihren Niederschlag fanden.

Dieser Tage, noch vor dem Leipziger Messestorno, verbreitete sich von Frankfurt am Main aus ein Raunen in der Republik. Brauchen wir Leipzig eigentlich? Sind zwei Buchmessen im Jahr notwendig? Fällt nach dreimaligem Ausfall ein endgültiges Verschwinden überhaupt auf? Sind nicht die meisten Betriebe einer einst blühenden Druck- und Verlagslandschaft, die lange die Stadt prägte, längst in den Westen oder nach Berlin abgewandert? Und ein maßgeblicher Journalist stellte in Frage, inwieweit eine unwirtschaftliche, auf staatliche und städtische Unterstützung angewiesene Veranstaltung, überhaupt vertretbar sei.

Viel Salz in der Suppe. Wer löffelt sie aus?

Fiele Leipzig tatsächlich wie auch immer gearteten Zwängen oder Absichten zum Opfer, wären die Leidtragenden kleine unabhängige Verlage, die hier ihren Platz haben, weil sie in Frankfurt untergehen würden und sich den Auftritt ohnehin nicht leisten können. Es wäre dies der von Ladenketten unabhängige Buchhandel, eine Vielzahl Autoren und Autorinnen, denen Präsentations- und Einkommensmöglichkeiten entfielen. Betroffen wäre eine begeisterte Leserschaft samt Lesernachwuchs, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dieses kleinen und besonderen Kulturbereichs. Betroffen wären einmal mehr die Messebauer. Die Gastronomie und die Gastgeber der sächsischen Metropole.

Die Konsequenz wäre darüber hinaus eine tendenzielle Verschiebung von Marktsegmenten hin zu den großen globalen Playern, wäre eine Zunahme der Monopolisierung, eine Gemengelage, in der es für Originalität, Nischenprodukte, Neues, immer schwerer würde einen Platz, einen Weg zum Publikum zu finden. Der Vorrang für Absatzchancen und grenzenlose Gewinnorientierung bedeutet einen Verzicht auf Vielfalt und Ideenreichtum. In Leipzig wurden bisher Kompetenzen und Kreativität unterstützt und gefördert. Ein Nährboden, eine Talentschmiede, auf die mittel- und langfristig ausgerechnet die Marktgrößen im Interesse der Zukunft ihrer Geschäftsmodelle angewiesen sind. 

Inzwischen protestieren betroffene Interessengruppen gegen das aus ihrer Sicht kurzsichtige und unangebrachte Vorgehen und verurteilen die vorschnelle Absage. Sie fordern ein klares Bekenntnis zur Fortsetzung der Leipziger Buchmesse. Sehr schnell meldete sich die Kurt-Wolff-Stiftung zu Wort, ein Zusammenschluss eben jener kleineren unabhängigen Verlage, und bekräftigte die Teilnahmebereitschaft für dieses und kommende Jahre. Eine Solidaritätsaktion, die sich für den Erhalt der Leipziger Buchmesse einsetzt, verbunden mit einer Unterschriftensammlung, läuft im Netz und findet regen Zuspruch.

Sehr deutlich wird die Süddeutsche Zeitung in ihrer Ausgabe vom Samstag, den 13. Februar: 

Verstörung. Berlinale, Londoner Buchmesse, Lit.Cologne. Alle Großveranstaltungen finden statt, nur die Leipziger Buchmesse nicht. Chronologie eines kulturellen Desasters in Deutschland. 

Resümierend heißt es im Blatt: Die Leipziger Buchmesse hätte stattfinden können, wenn die drei großen westdeutschen Verlagskonzerne sich aufgerafft … hätten. Wenn es in den Konzernzentralen ein Bewusstsein gegeben hätte für die Rolle, die die Leipziger Buchmesse in der ostdeutschen Gesellschaft spielt …, und … was für ein wichtiger Brückenkopf sie ist für die liberalen, demokratischen Gesellschaftsteile in Polen, Ungarn, der Ukraine

Ein Bewusstsein für gesellschaftspolitische Verpflichtungen und eine Mitverantwortung für demokratische Gesellschaftsteile ist eben nicht profitabel, Ostdeutschland und ganz Osteuropa kein vielversprechendes Geschäftsfeld.

Unter dem Titel Drei Jahre ohne den Frühling der Literatur macht sich der Leipziger Schriftsteller Clemens Meyer, einst Gewinner des Preises der Leipziger Buchmesse, in der Leipziger Volkszeitung Gedanken über die geistige Leere, die im Frühjahr mit der dritten abgesagten Buchmesse in Leipzig einhergehen wird. Er glaubt, dass man in Leipzig vieles ertragen kann, was dem Osten zugemutet wird, wenn die Literatur fünf Tage Einzug hielt. Wir müssen sie ja nur ein wenig pflegen, unsere Dichter und ihre Werke. Die letzten Buchhandlungen unserer Stadt (und damit meine ich die kleinen, privat geführten) sind die Denkmäler einer immer währenden Revolution, friedlich, aber gar nicht niedlich …

Bleibt die Hoffnung, dass Judith Schalanskys Verzeichnis einiger Verluste noch viele Neuauflagen erleben wird, und dass diese ohne ein ergänzendes Kapitel auskommen.

Bis nächstes Jahr – in Leipzig!