“Es begab sich aber zu der Zeit …”

Gedanken über das Erzählen aus naheliegendem Anlass.

Nun feiern wir also wieder jene kleine Geschichte, die seit 2000 Jahren große Teile der Menschheit weniger in Kirchen denn in einen wochenlangen Konsumrausch treibt. Bewohner des christlichen Erdkreises stürmen die Handelshäuser, erwerben gefällte Nadelbäume, installieren Engels- und Sternenschmuck, singen Choräle und sentimentale Weisen. Eine uralte Geschichte löst dies aus. Sie gehört zu den ältesten, die sich Menschen immer und immer wieder erzählen. Immer dann wenn das Jahr auf dem Kalender nur noch wenige Tage hat. 

Da es nun schon viele unternommen haben, einen Bericht von den Ereignissen zu verfassen … (Evangelium nach Lukas, Vorrede)

Es waren vier Chronisten, inzwischen als Evangelisten bekannt, die mehrere Generationen nach dem eigentlichen Geschehen, nachdem die Geschichte bereits in vielen Variationen von Mund zu Mund gegangen war, erstmals schriftliche Aufzeichnungen anfertigten, die uns als Überlieferungen erhalten blieben. In vier durchaus von einander abweichenden Versionen.

Dies ist ihr Kern: Eine hochschwangere, sehr junge Frau und ihr Partner, Zimmermann von Beruf, folgten im römisch besetzten Palästina einer Aufforderung des Kaisers Augustus, sich zwecks Volkszählung in ihren Heimatort Bethlehem zu begeben. Als das Paar dort eintraf, musste es feststellen, dass alle Herbergen bereits belegt waren. In einem schlichten Stall wurde ihnen schließlich Obdach gewährt. Die Verhältnisse waren einfach: Futterkrippe für Tiere, Stroh, ein Ochse, ein Esel; später kamen Hirten vom Felde hinzu. Ein gesunder Junge kam zur Welt; die Futterkrippe ward zu seiner ersten Wiege.

Der Knabe wuchs zu einem recht eigenwilligen (kritischen) jungen Mann heran, der seine jüdischen Glaubensbrüder und -schwestern mit Prophezeiungen, Weisheiten und Reformvorschlägen unterhielt, dessen systemkritische Haltung jedoch von den Obrigkeiten mit Skepsis betrachtet wurde. Er verscherzte es sich mit der jüdischen Geistlichkeit gleichermaßen wie mit den Organen der Besatzungsmacht. Letztere verurteilte den aufrührerischen Geist zum Tode am Kreuz. 

Das Kreuz und der Gekreuzigte wurden alsbald zu den Hauptsymbolen seiner sich rasch vergrößernden Anhängerschaft. Aus dem Kind im Stall war ein Religionsgründer geworden, der einige bedenkenswerte Verhaltensregeln hinterließ. Und hätten seine Nachfolger durch die unruhigen Jahrhunderte hinweg seine Maximen etwas ernster genommen, wäre die heutige Welt möglicherweise ein kleines Stück friedfertiger und unversehrter.

Es gibt viele solcher uralter Erzählungen, die Zeiten, Kriege und Kulturen überlebt haben und heute immer noch in aller Munde sind, die niedergeschrieben werden, in immer neuen Varianten, die als Bücher gedruckt erscheinen, in Theatern aufgeführt oder verfilmt werden. Geschichten aus tausendundeiner Nacht, von den Irrfahrten eines Odysseus, den Abenteuern des unbeholfenen Don Quijote, von Eulenspiegeleien, Geschichten über Wundertaten und Utopien. Unsterbliche Erzählstoffe, inzwischen gerne als Narrative bezeichnet. Bis heute immer wieder hervorgeholt, dabei verändert, ausgeschmückt oder übersteigert.

Alte Menschen erzählen gerne vom eigenen Leben, von Vergangenheiten, die sie für wert halten dass Nachfolgende davon erfahren, von Erlebnissen, Schrecken, Tiefpunkten, die sie dauerhaft belasten und von den schönen Höhepunkten eines langen Lebens, die unvergessen geblieben sind. Sie sprechen über Krieg und Vertreibung, Not und Krankheit, von Geburten und Todesfällen, kleinen Freuden und großen Enttäuschungen. Ihr Erzählen hat oft therapeutischen Charakter oder die Form einer Beichte.

Kinder möchten erzählt bekommen. Sie lieben Geschichten, die man ihnen vorliest oder aus dem Stegreif erzählt. Da darf es einfallsreich bis absurd zugehen. Unheimlich oder lustig. Über Außerirdische und Aliens, Prinzen und Prinzessinnen, sprechende Tiere, Zeitreisende, Gestalten aus der Vergangenheit wie Piraten oder Höhlenmenschen. Grenzen setzen nur die Phantasie der Erzähler und Erzählerinnen, der Autorinnen und Autoren. Kinder fordern heraus, indem sie mit ihrem Denken scheinbar Unveränderbares in Frage stellen. Durch Konventionen beschränkte Unsagbarkeiten einfach aussprechen.

Eigentlich gibt es keinen Menschen, der nichts zu erzählen hätte. Doch nicht jeder hat eine Sprache dafür zur Verfügung. Die einen können nicht sprechen, nicht frei reden, nicht erzählen – andere können nicht zuhören. Nach den Kinderjahren werden harmonische Momente zwischen Sender und Empfänger seltener. Das Erzählen, die Gespräche werden immer mehr, immer häufiger von Dogmen beherrscht, von stur verteidigten Standpunkten. Andere Werdegänge, Prägungen, Bildungswege erschweren das gegenseitige Verstehen. 

Wer nicht (mehr) erzählen, zuhören, lesen kann, flüchtet gerne in Alibitätigkeiten, rechtfertigt nur allzu gern allerhand Geschäftigkeit und schützt Zeitmangel vor. Gesellschaftlich akzeptiert wird vorrangig der Nachweis unmittelbarer Nützlichkeit oder Erwerbskraft.

Bücher, literarische ebenso wie gute Sachbücher, sind nichts anderes als konserviertes Erzählen. Nicht zufällig ist autofiktionales Schreiben fester Bestandteil des literarischen Kanons. Eine betagte Vertreterin dieses Genres wurde in diesem Jahr mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Wem deren Bücher möglicherweise zu dünn geraten sind, der greife zu einem Ove Knausgaard, einem Hanns-Josef Ortheil, zu Ulla Hahn, Tove Ditlevsen, Cathérine Millet, Gerhard Henschel und Hermann Lenz.

Weihnachten ist eine Zeit des Erzählens. Jene uralte Geschichte, in Kirchen vorgetragen. Familiäre Stoffe und Anekdoten, die an Festschmaustafeln die Runde machen. Jüngst Geschehenes, frisch aufbereitet: Skandale, Ärgernisse, Erstaunliches, neu Entdecktes.

Erzählen ist fast immer erinnern. An Gelingen und Mißlingen, an Vorfahren und Gefährten, Kinder und Enkel, Reisen und Naturgewalten, Begegnungen und Ängste. Die Tage an und um Weihnachten gehören zu den wenigen verbliebenen Anlässen für Generationen übergreifendes Zusammensein. Für mündlichen Austausch, Erzählen und Zuhören. Es ist jene Zeit, in der die Stuben voller Narrative sind.

„Wirklich schon wieder ein Jahr?“

„Daß bald das neue Jahr beginnt, / spür ich nicht im geringsten. / Ich merke nur: Die Zeit verrinnt / genauso wie zu Pfingsten.“ (Joachim Ringelnatz: „Silvester“)

Erwartungen werden selten übertroffen. Häufiger enden sie mit Enttäuschung und Frustration. Überraschungen hingegen sind oft die erfreulicheren Ereignisse, sie müssen und können keiner Erwartung entsprechen. Traditionell überfrachtet mit Erwartungen: Das Weihnachtsfest und die folgenden Tage, in denen uns die Zeit nicht durch Alltagsallerlei und stupide Routinen abgenommen wird. Doch der Überschuss an Frei-Zeit und die damit verbundenen Erwartungen und Ansprüche können in harmloseren Fällen zu Langeweile, bei eskalierendem Verlauf zu ernsten Konflikten oder heftigen Konfrontationen führen.

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Meine Erwartung an die arbeitsfreien, von viel Ballast befreiten Tage zwischen Heiligabend und Neujahr (eventuell sogar sechstem Januar), ist zunächst durchaus nicht unüblich. Gemütliche Stunden und kalorienreiche, ausgedehnte Mahlzeiten mit den nächsten Liebsten und allerbesten Freunden. Darüber hinaus beanspruche ich jedoch reichlich Zeit für meine ganz persönlichen Wahlverwandten. Für jene Dichter und Denker und ihre Werke, die mir nahestehen, mich ansprechen, seit Jahren begleiten. Gerne nutze ich die Spanne um den Jahreswechsel zur geduldigen (meist wiederholten) Beschäftigung mit einem geliebten “Klassiker”.

Mit Fontanes „Stechlin“ und dem „Felix Krull“ von Thomas Mann wollte ich in diesem Jahr gerne die verbleibenden Rückzugsräume füllen. Bis dato wurde nichts daraus. Denn noch liegen einige der attraktiven Neuerscheinungen des zurückliegenden Bücherherbstes auf dem Wartestapel (s. dazu auch die  „Auslese 2014“ auf diesem Blog). Und dann sind da immer wieder Überraschungen und Unerwartetes, die sich vordrängen. So landete vor einigen Tagen der im Frühjahr erschienene Rowohlt-Band „Aus dem Berliner Journal“ von Max Frisch auf dem Nachttisch. Tagebuchartige Aufzeichnungen, Skizzen, Reflektionen aus dem Jahr 1973, das Frisch und Gattin in Berlin verbrachten. Jeden Abend werden seitdem ein paar Zeilen, höchstens einige wenige Seiten, fällig. Mehr nicht, denn es ist dichter Stoff. Am besten geeignet für höhere Semester, die noch aktive Erinnerungen an die Literaturszene der 1970er-Jahre haben.

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Ebenfalls unerwartet, ein Buch, das für mich unterm illuminierten Tannengrün lag. Geschrieben von einem Verfasser, den ich bei der Sichtung der 2014er Neuerscheinungen übersehen hatte. „Steiners Geschichte“ des österreichischen Schriftstellers Constantin Göttfert. Nach dem Roman „Satus Katze“ und der Erzählung „Detroit“ sein drittes, diesmal fast fünfhundert Seiten starkes Buch. Die Geschichte einer Familie, die im österreichisch-slowakischen Grenzgebiet lebt. Karpatendeutsche, die als Vertriebene dort ankamen und nie richtig heimisch wurden. Sofort denkt man natürlich an Peter Handke. Und an „Engel des Vergessens“ von Maja Haderlap oder „Tauben fliegen auf“ von Melinda Nadj Abonji. Ich bin sehr gespannt auf diesen Roman und er wird bei der Lese-Rangfolge vielleicht ebenfalls kurzfristig vor Fontane und Mann landen.

Das ist gleichzeitig Lektüre, die auffordert über sich ausbreitendes Gezerfe rund um das Thema Zuwanderung in bundesdeutsches Staatsgebiet nachzudenken. (Undefinierbare Begriffe wie Abendland, Volk oder Nation, die allenthalben zu Rundumschlägen missbraucht werden, sind für mich nicht verwendbar.) Unsäglich die hasserfüllten Chöre. Unerträglich die politischen und wirtschaftlichen Kalkulationen die mit Menschen in Existenznot angestellt werden. Mit diesen Frauen und Männern, mit all diesen Kindern und Jugendlichen, wandern nicht nur viele, viele neue Schicksale und hoffnungsvolle Zukunftserwartungen ein. Im spärlichen Gepäck der Entwurzelten sind zudem viele, viele neue Geschichten. Reicher Stoff für Erzählungen, Romane, Gedichte, Theaterstücke und Filme der nächsten Jahre und Jahrzehnte.

EN_009783938803677Zum E-Book abgewöhnen gut und schön ist “Nordlicht – Südlicht” des Finnen Mooses Mentula, das ich kurz vor den Feiertagen auf der Facebook-Seite des Weidle-Verlags entdeckte, mir unbedingt noch beim Buchhändler meines Vertrauens besorgen musste und von dem ich bereits nach dem Anlesen auf der Heimfahrt in der Straßenbahn nicht mehr loskam. In Finnland sind die Gegensätze zwischen verstädtertem Süden und einsam-weitläufigem Norden des Landes ein wichtiges Thema. Die krassen Gegensätze der Lebensweise, die kulturellen Unterschiede, die daraus resultierenden Prägungen stehen im Mittelpunkt dieses originellen, sehr spannend zu lesenden Romans. Marianne, ein Stadtmensch aus dem Süden, hat sich in den ersten Jahren sehr wohl gefühlt in Lappland, nachdem sie den Rentierzüchter Jouni geheiratet und das Paar den Sohn Lenne bekommen hatte. Doch ganz langsam zerbricht die Idylle. Ein großer Roman, eine bestaunenswerte Übersetzungsleistung und eine traumhafte Buchgestaltung. Druck, Bindung, Satz, Papier und Ausstattung vereinen sich zu einem außergewöhnlichen haptischen Eindruck und Genuss.

In einem Spiegel-Gespräch wurde die französische Klavier-Virtuosin Hélène Grimaud nach dem Sinn von Musik gefragt. “Damit wir Menschen uns selbst erkennen.” Antwortete sie. “Damit wir die Dinge nicht nur so sehen, wie die Dinge eben sind, sondern auch so, wie sie sein könnten. Damit wir etwas derart intensiv fühlen, dass es uns verändert.” Ich finde, das gilt auch für gute Literatur.

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Wirklich schon wieder ein Jahr!

Und ein neues wartet schon. Das Musik- und Literaturjahr, das Bücher- und Konzertjahr, das Jahr der Lesungen und Inszenierungen, das Jahr neuer Erwartungen, einiger Enttäuschungen und (hoffentlich) schöner Überraschungen, das Lese- und Schreibjahr 2015.

Prosit!

Schöne Bescherung! – Der Gabentisch 2012

„Lesen ist nicht wie Musik hören, lesen ist wie musizieren.“ (Martin Walser)

Lichterglanz und Glockenbimmel. Schneegestöber, Glühweindampf und Bratwurstduft. Schon ist es wieder Mitte Dezember. Höchste Zeit für den Weg in die festlich dekorierte Lieblingsbuchhandlung. Gönnen wir uns in diesen kalten Tagen ein erwärmendes Schnupper- und Einkaufserlebnis in originellen, breit sortierten kleinen Handlungen fürs gute alte, immer wieder schön gedruckte und gebundene Buch. Hier sind meine Ideen für den Gabentisch, für unter die Tanne-Fichte, zum den Nächsten und Liebsten in die Hand drücken, oder zum Sichselbstbeschenken.

Rammstedt. In diesem Herbst ist auch der lustige, erstaunlicherweise aus Bielefeld stammende (doch längst in Berlin ansässige) Tilman Rammstedt (“Der Kaiser von China”) wieder mit einer Neuerscheinung vertreten. Und die hat es in sich. In “Die Abenteuer meines ehemaligen Bankberaters” geht es viel weniger um den Bankberater eines Protagonisten namens Tilman Rammstedt, als vielmehr um dessen Briefwechsel mit dem american heroe Bruce Willis. “Sehr geehrter Herr Willis, geht es Ihnen gut?” Der Briefverkehr verläuft allerdings sehr einseitig, denn der Schauspieler antwortet nicht. Was sich daraus entwickelt, und wie es mit dem Bankberater weitergeht ist virtuos und hochkomisch. Ein Buch für alle, die sich einfach einmal richtig amüsieren möchten. (Dumont, 2012. Euro 18,99)

Haas. Wenn es jemanden gibt der den “neuen Haas” noch nicht hat, kennt oder las, sollte man diesen Menschen auf jeden Fall mit der “Verteidigung der Missionarsstellung” beglücken. Im Gegensatz zu dem, was der Titel vielleicht vermuten lässt, handelt es sich keineswegs um eine nahe Verwandtschaft der Grauschatten-Machwerke. Raffiniert, witzig und spannend, wird uns hier echter Unterhaltungs-Mehrwert auf überdurchschnittlichem Niveau geboten. Für den erstmal auf den Geschmack gekommenen Leser leider viel zu kurz. (Hoffmann und Campe, 2012. Euro 19,90)

Suter. Die Zeit, die Zeit. Mit diesem – einem Seufzer gleichen – Titel führt uns Martin Suter einmal mehr einen seiner leicht unbedarften Helden vor, die gerne, jedoch selten freiwillig, an allerhand Ecken und Kanten ihres Schicksals stoßen. Klassisch erzählt, flüssig zu lesen, durchaus doppelbödig. Ein Spiel mit der Zeit und auf Zeit. Suter endlich wieder auf dem Höhepunkt seines erzählerischen Könnens. Kleinkinder einmal ausgenommen, kann das Buch problemlos an breite Leserschichten verschenkt werden. (Diogenes, 2012. Euro 21,90)

>>> Haas und Suter wurden auf con = libri bereits ausführlich besprochen. <<<

Russisch 1. Vladimir Sorokin schreibt fabelhaft, satirisch, grotesk. Es ist stets feinderbes Erzählwerk, das einer der wichtigsten Autoren des heutigen Russland präsentiert. In “Der Schneesturm” erleben wir den Landarzt Garin im Kampf gegen eine rätselhafte Seuche, bzw. auf seinem Weg zum Kampf. Sein größter Gegner sind dabei der russische Winter und die märchenhaften Ereignisse, die sich auf der Fahrt zum Einsatzort abspielen. Die Schwierigkeiten und Hindernisse, die sich dem guten Doktor immer wieder in den Weg stellen, sollen, so Kenner, jedenfalls sehr viel Ähnlichkeit mit den aktuellen gesellschaftlichen Verhältnissen im Putin-Reich haben. Für alle Freunde surrealer Geschichten; trotz Schneegestöber-Idylle nicht jugendfrei. (Kiepenheuer & Witsch, 2012. Euro 17,99)

Russisch 2. Seit ich den Bonner Verleger Stefan Weidle auf der Tübinger Sahl-Tagung erleben durfte (s. dazu auch den letzten Beitrag auf con = libri), habe ich auf das Programm seines Verlages ein besonderes Auge geworfen. Hier ist immer wieder Überraschendes zu entdecken. Wie jetzt “Die Manon Lescaut von Turdej” von Wsewolog Petrow. Ein schmaler Band mit einer nicht allzu langen Erzählung. Man darf die Frage stellen, ob sie ein eigenes Buch wert ist. In diesem Fall kann das rasch und klar mit Ja beantwortet werden. Bemerkenswert, hinreißend, todtraurig. Ein Petersburger Intellektueller, im petrow_1Krieg mit einem Krankentransport unterwegs, den “Werther” (vom größten Dichter des größten Feindes geschrieben) auf Deutsch lesend, lernt das Mädchen Vera kennen und – das Klischee muss hier sein – er verfällt ihren Reizen: der physischen Präsenz, ihrer Jugend, ihrem Anderssein. Es ist der Zauber des Gewöhnlichen, der ihn anzieht, die lebenshungrige Gegenwärtigkeit eines flatterhaften Wesens. Sie kann halt lieben nur… Die Geschichte entstand bereits 1946, erschien aber erstmals 2006 in einer russischen Zeitschrift. Petrow war eigentlich Kunsthistoriker und lebte von 1912 bis 1978. Das schmächtige Buch wurde von der Darmstädter Jury zum Buch des Monats November gewählt; auf der aktuellen SWR-Bestenliste belegt es Platz 8. Das sehr informative Nachwort hat Oleg Jurjew geschrieben; die Germanistin Olga Martynova kommentierte einige wesentliche Passagen. (Weidle Verlag, 2012. Euro 16,90)

Russisch-Deutsch. Olga Martynova ist selbst eine interessante Autorin. Von ihr liegen Gedichte, Prosa und Essays vor. Sie stammt aus Russland, lebt seit über zwanzig Jahren in Deutschland und schreibt ihre Prosawerke in deutscher Sprache. Der leicht experimentell und assoziativ erzählte Roman “Sogar Papageien überleben uns” war für mich eine wirkliche Entdeckung, das, was man gemeinhin ein Leseabenteuer nennt. Im Mittelpunkt stehen Menschen, die zwischen Russland und Deutschland unterwegs sind. Wissenschaftler, Literaten, Künstler. Der Leser erfährt viel über die kulturellen Wechselwirkungen zwischen Ost und West. Die Erzählung kreist um ein dichtes Geflecht russisch-deutscher Literatur- und Liebesbeziehungen. Wir begleiten eine junge Literaturwissenchaftlerin auf ihrer sentimentalen Reise durch Gefühls- und Steppenwelten und erleben dabei rasche Richtungs- und Stimmungswechsel. In hintergründig philosophischen Passagen geht es zudem immer wieder um die allerletzten unsicheren Wahrheiten. Vielfach kommt das Buch auf Größen der russischen Literaturgeschichte zu sprechen. Hinweise, die zu weiterer Lektüre anregen können. Olga Martinova schreibt für geübte Leser. (Literaturverlag Droschl, 2010. Euro 19)
P. S.: “Mörikes Schlüsselbein” wird das nächste Buch von Olga Martynova heißen, auf das man schon sehr gespannt sein darf. Es wird im nächsten Frühjahr erscheinen. Mit der Lesung eines Kapitels daraus (“Ich werde sagen: ‘Hi’) gewann sie im Sommer den Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb.

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Foto: Wiebke Haag

Exkurs. Eine kleine Hinwegführung von den rein erzählerischen Werken, hin zu einem sehr empfehlenswerten Essay-Band des bisher vorwiegend als Übersetzer bekannten Joachim Kalka. Seine zugleich leichtfüßigen und dichten Arbeiten sind in “Die Katze, der Regen, das Totenreich. Ehrfurchtsnotizen” versammelt. Ein Titel der bewusst gewählt wurde und bereits einiges über den Inhalt verrät ohne auch nur andeuten zu können, wie komplex die einzelnen Stichworte und Themen abgehandelt werden. Großartige Kabinettstückchen. Eine Liebeserklärung an Bücher, Geschichten und Dichter. Hier schwadroniert ein im besten Sinne chronisch Lesewütiger, ein kenntnisreicher Literat und für jene gleich mit, die wie er, vom Lesen nicht lassen. Das ideale Geschenk für Menschen, die auf dem Fundament einer soliden Allgemeinbildung stehen. (Berenberg, 2012. Euro 20)

Krimi 1. Noch einmal zurück nach Russland. Zu den führenden Kriminalschriftstellerinnen des Landes gehört seit etlichen Jahren Polina Daschkova, von der bereits zahlreiche Werke in deutscher Übersetzung vorliegen. Das neueste trägt den etwas allerweltlichen Titel “Bis in alle Ewigkeit.” Darin soll eine junge Biologin an einem internationalen Forschungsprojekt auf Sylt mitarbeiten. Sie merkt bald, dass es dabei nicht mit rechten Dingen zugeht. Auch der kürzliche Tod ihres Vaters scheint dabei eine Rolle zu spielen. Daschkovas Stärken sind neben dem gekonnten Aufbau sehr spannender, breit angelegter Geschichten, die Schilderung glaubhafter Figuren, mit ihren Schicksalen, ihrem Alltag. Die meist ausführlichen Biographien werden geschickt in die Handlungsabläufe eingewoben und wir erfahren durch sie einiges über das Leben der Menschen im Russland unserer Zeit. Für Krimileser, die mehr als Mord und Totschlag wollen. (Aufbau Taschenbuch, 2012. Euro 10,99)

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Foto: Jan Haag

Krimi 2. Der neue Dühnfort erscheint Ende der Woche! Nichts gegen die fabelhaft tapfere Nele Neuhaus. Obwohl für meinen Geschmack die Zahl der Handlungsfäden in ihren Büchern etwas zu hoch ist – die Frau schreibt Klasse. Doch mein liebster deutscher Ermittler ist derzeit der Kommissar Dühnfort, dessen Erlebnisse die Münchner Schriftstellerin Inge Löhnig ersinnt. Ihr neuer Roman heißt “Verflucht seist Du”, ist der inzwischen fünfte, und die Entstehung des Buches wurde von einer großen Fangemeinde das ganze Jahr über auf Facebook mit großer Spannung verfolgt. So ist auch die Zahl der Vorbestellungen im Buchhandel bereits beträchtlich. Die bisherigen Bände überraschten und überzeugten mit ihren stimmigen, realitätsnahen Plots, dem hohen Spannungsfaktor und lebensechten Figuren. Dazu kommen wiedererkennbare Lokalitäten in und um München herum, ohne dass dabei einer der vielen nicht immer leicht erträglichen Provinz-Krimis herauskommt. Das hat vielmehr wirklich Stil, wie ihn auch die Hauptfigur, ein wählerischer Espresso- und Weißwein-Trinker, repräsentiert. Die nicht immer geradlinig verlaufenden Entwicklungen der wichtigsten Mitwirkenden sind mindestens so interessant wie die eigentliche Krimihandlung. Für alle, die immer noch nicht glauben wollen, dass es auch tolle Deutsch schreibende “Crime-Ladies” gibt. (List Taschenbuch, 14. Dezember 2012. Euro 9,99)

Krimi 3. “Denn die Gier wird euch verderben”. So pseudo-alttestamentarisch heißt die neueste Geschichte aus dem nordischen Mordloch Kiruna. Ein durchaus exotischer Schauplatz, den die schwedische Autorin Asa Larsson für sich entdeckt hat. Ihre Staatsanwältin Rebecka Martinsson macht sich einmal mehr auf, den zahlreichen verbrecherischen Spuren im Provinzsumpf zu folgen. Auf der Suche nach Mörder oder Mörderin stößt sie auf Geheimnisse deren Ursprünge bis ins Jahr 1914 zurückreichen, gerät in höchste Kreise und natürlich auch wieder in ebensolche Gefahren. Schmackhafte Krimi-Kost, angereichert mit einer Portion Gesellschaftskritik und gewürzt mit einer Prise Gewalt. Für Freunde der hohen skandinavischen Verbrechensrate eine gern genommene Neuerscheinung. (C. Bertelsmann, 2012. Euro 19,99)

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Eine musikalische Zugabe. “Passe passe le temps il n’y en a plus pour très longtemps.” Eben. Nur graugruftige Überbleibsel wie ich werden sich noch an dieses oder andere Chansons eines bärtigen, großgewachsenen Herrn erinnern. An die Chansons von hauchzarter, schlichtstarker Ausdruckskraft des großartigen, inzwischen schwer in die Jahre gekommenen, George Moustaki. Le Métèque. Ma Liberté. En Mediterranée. Ein Hauch mediteranes Lebensgefühl ist es auch, die diese einfachen, aber eindringlichen Lieder in den kalten deutschen Winter bringen. Marina Rossell hat 12 Moustaki-Titel wiederbelebt und singt sie mit kräftigem klarem Alt und in katalanischer Sprache. Das klingt wunderschön, vertraut und neu zugleich. Beim Titel “Màrmara” haucht auch noch der alte Meister selbst mit. Geschenkeignung: 45 plus undoder ausgesprochene Liebhaber der katalanischen Sprache (wer sie beherrscht kann mitsingen!). (“Marina Rossell canta Moustaki”, beim Label “world village” von harmonia mundi)

Sudeleien: Weihnachten 2011

Von Außenseitern

Beim Sovormichhinschlendern durch die vorweihnachtliche Kulisse meines Städtchens staune ich über die rasche Vergänglichkeit eines Kalenderjahres. Und wenn im Dezemberdunkel dicke feuchte Flocken herniederschweben, muss ich an die Geschichte vom kleinen Mädchen mit den Schwefelhölzern denken. Es ist eine der traurigsten, die ich kenne. Vor Jahren konnte ich einmal das Geburtshaus des phantasiereichen Dichters dieser Erzählung in der Stadt Odense auf Fünen besuchen. Als der Däne Hans Christian Andersen dort 1805 zur Welt kam, hatte er für seine weitere Zukunft die denkbar schlechtesten Voraussetzungen. Als Kind eines armseligen Schusters und einer trunksüchtigen Mutter schaffte er es mit Umwegen auf Lateinschule und Universität.

Er starb 1875 als international anerkannter Schriftsteller in Kopenhagen. Einen großen Teil seines Lebens verbrachte er auf Reisen, blieb ledig. Homoerotisch veranlagt, intellektuell anspruchsvoll und in viele Richtungen interessiert, führte er ein Leben als Betrachter, nicht als Teilnehmer.

Was hatte Dieter K. eigentlich verbrochen? Gut, er war ein verwöhntes Einzelkind; er trug Hosen mit Bügelfalten; und er war einen Tick begabter als wir anderen. Das reichte uns Volksschülern schon, um ihn immer wieder zu hänseln, zu schubsen, ihm ein Bein zu stellen oder ihn auch einmal für eine Stunde in den dunklen Kellerraum zu sperren. Solche Formen von Drangsal waren und sind unter Kindern und Jugendlichen üblich. Der Wiener Maler, Poet und Sänger Arik Brauer drückte es in seinem Lied “Rostiger die Feuerwehr kommt” so aus: “Wir hab’n in der Schul’ ein g’habt, den hab’n wir terrorisiert! / Der hat rote Haar’ g’habt und Brill’n mit dicke dicke Augenlasn’ln / und ich war der Allerärgste von allen. / Und heut’ tut mir das ja so leid.”

Die Außenseiter. In der Literatur dieser Welt sind sie daheim. All diese Gestalten von der meist traurigen, manchmal auch heiteren Gestalt. Die Don Quichottes, Schwejks und Oskar Matzeraths. Sie bieten allemal ergiebigen, deftigen Erzählstoff. Außenseiter gibt es in Literatur und Leben in vielen Varianten und Erscheinungsformen. Als Einzelgänger oder Sonderling, Individualisten, Egozentriker und Exoten. Es gibt den Lebenszaungast und den Eigenbrötler, den Schrat und den Kauz. Das Original, das Unikum und den Charakterkopf.

Günter Eich, Dichter und zu seiner Zeit ein innovativer Hörfunk-Autor, erhielt 1959 den Georg-Büchner-Preis. In seiner Dankesrede sprach er über jene, die “der Ritterschaft von der traurigen Gestalt angehören … Indem sie rebellieren und leiden verwirklichen sie unsere Möglichkeiten … alle die sich nicht einordnen lassen, die Einzelgänger und Außenseiter, die Ketzer in Politik und Religion, die Unzufriedenen, die Unweisen, die Kämpfer auf verlorenen Posten, die Narren, die Untüchtigen, die glücklosen Träumer, die Schwärmer, die Störenfriede, alle, die das Elend der Welt nicht vergessen können, wenn sie glücklich sind.”

Eine einzigartige, weit ausholende Studie zu diesem Thema hat in den 1970er Jahren der Literaturwissenschaftler Hans Mayer verfasst. Für ihn sind Außenseiter Menschen, denen traditionelle Rechte und Selbstverständlichkeiten einer Gesellschaft vorenthalten werden. Und er wendet sich gegen die im 20. Jahrhunderts sehr verbreitete Philosophie, dass die Interessen des Kollektivs über die Individualrechte zu stellen sind. Historisch und literaturgeschichtlich fundiert, auf sprachlich hohem Niveau, macht Mayer dies am Beispiel von Frauen, Homosexuellen und Juden deutlich. Er kann dabei nachweisen, dass nicht selten gerade die für unverrückbar geltenden kulturellen und politischen Konventionen Ursache für Mißverständnisse, Mißverhältnisse, Ungleichbehandlung, ja letztlich für die Rechtfertigung der Vernichtung von Menschen sind.

Eine besondere Form des Außenseiters ist der Künstler – oder sollte man besser sagen: will der Künstler sein? Da er sich meist bewußt und willentlich in dieser Rolle sieht, grenzt er sich damit doch deutlich von den bürgerlichen, sich ihrer Sache sicheren Mehrheiten und deren Gepflogenheiten ab. Daraus resultierende Konflikte und ans Krankhafte grenzende Symptome sind eines der Hauptmotive im Werk von Thomas Mann: “Aber in dem Maße, wie seine Gesundheit geschwächt ward, verschärfte sich seine Künstlerschaft …” Das führt unweigerlich dazu, dass man an der Peripherie des wirklichen Lebens bleibt, nirgends richtig dazugehört, nirgendwo ganz zu Hause ist und an den “Wonnen der Gewöhnlichkeit” nicht teilhaben kann. Joseph von Westphalen, ein Autor unserer Tage, schreibt: “Als Gast werde ich nicht auftauchen. Literatur lebt für mich immer noch von Ungeselligkeit und nicht von Bombenstimmung.”

Umfassend und aus verschiedensten Perspektiven wird das komplexe Thema in der Doppelnummer 748/749 (Herbst 2011) der Zeitschrift “Merkur” behandelt. Die “Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken” hat dazu folgendes Motto auf die Titelseite gesetzt: “Sag die Wahrheit! Warum jeder ein Nonkonformist sein will, aber nur wenige es sind.” Jeder Beitrag dieses Bandes ist lesenswert. Mich besonders beeindruckt hat Gustav Seibt, der uns in einem historischen Rückblick seine ganz persönlichen Außenseiter vorstellt und originellerweise in der Fast-Gegenwart bei dem Heide-Unikum und der solitären Schriftsteller-Existenz Arno Schmidt ankommt, sowie Michael Rutschky mit seinen Thesen über die “Erfindung des Ich”, der dazu Selbstdarsteller wie den Dreitagebartträger, Piraten oder James Dean in den Zeugenstand ruft.

Wie klein muss oder darf eigentlich eine Minderheit sein, um noch als solche zu gelten? Vor dem zweiten Weltkrieg gab es Städte und Dörfer im multikulturellen Osten und Südosten Europas in denen die Juden die größte Bevölkerungsgruppe bildeten. Dennoch wurden ihnen nicht nur fundamentale Bürgerrechte – wie z. B. die freie Berufausübung – vorenthalten, sie waren auch in Konfliktfällen die ersten Sündenböcke und Opfer von Verfolgung, Progromen und Vernichtung. Eine solche vergangene Welt und das Unrecht, das in ihr begangen wurde, steht am Anfang des Lebensweges von Itsik Malpesch, der Hauptfigur in einem weitgespannten Roman-Epos des amerikanischen Schriftstellers Peter Manseau mit dem Titel „Bibliothek der unerfüllten Träume.“ Die Hauptfigur Malpesch ist Literaturfreund und Dichter, und am Ende seines Lebens, als es ihn längst nach New York verschlagen hat, der Letzte der im Jiddisch-Dialekt seiner Herkunftsregion schreiben und lesen kann.

Der Weg vom nur skeptisch betrachteten Außenseiter zum Opfer war – das zeigt die Geschichte – schon immer ein kurzer. Literaten waren leider noch nie unbeteiligt, wenn es um die Manifestation von Vorurteilen ging, wie schon Lion Feuchtwanger deutlich machte: “Auffallend ist, dass die Weltliteratur, so widerwärtig die Mehrzahl ihrer jüdischen Männer ist, beinahe ausschließlich sympathische jüdische Frauen zeigt.” Ausgrenzungen basieren auf verstärkten, nachdrücklich behaupteten Kontrasten und der ständigen Selbstvergewisserung des sogenannten “Normalen”.

Vor etwa 2000 Jahren lebte in einer Gegend, die wir heute Naher Osten nennen – in Wirklichkeit ist es ein buntgescheckter Kultur- und Sprachraum, der seit jeher unter willkürlich gezogen Grenzen leidet –  ein aufrechter Mann, der ein unstetes Wanderleben führte. Dabei setzte er sich ohne falsche Scham und ohne Rücksicht auf geltende Normen für Menschen am Rande der Gesellschaft ein: Für Arme, Huren, Kranke und Behinderte, ja sogar für die damals besonders unbeliebten, korrupten Zöllner. Er war aber auch ein großer Erzähler und Redner. Dabei brachte er einige auch heute noch bedenkenswerte Aussagen unter seine Zeitgenossen, wie das längst volksmündliche “richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet!” oder das später vom Philosophen Emmanuel Kant zum kategorischen Imperativ veredelte: “Alles, was ihr also von anderen erwartet, das tut auch ihnen!” Manche Sätze waren durchaus gesellschaftspolitisch brisanter Sprengstoff: „Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt.” –  “Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand, sondern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin.”

Das irritierte und wurde folglich nicht lange geduldet. Bald drängten die alteingesessenen Konformisten dieses Landstriches die römische Besatzungsmacht zu Konsequenzen. Jesus von Nazareth war gerade einmal Anfang 30 als er am Kreuz starb. Eine starke Minderheit unseres Planeten feiert am 24. Dezember eines jeden Jahres seinen Geburtstag. Besonders heftig und innig ist dies in Deutschland der Fall, wo die Feierlichkeiten eine Mischung aus germanischer Mythen-Beschwörung und erstarrten, von Amtskirchen diktierten Riten und Liturgien mit christlich-religiösen Alibi sind. Baum und Kreuz symbolisieren dabei ebenso widersprüchlich wie hartnäckig, die stete Vergeblichkeit vorgeblicher Sinnsuche.

Feste lesen! (3)

Alle Jahre wieder

Damals hatte Paul Geburtstag. Seitdem sind nun auch schon wieder fast vier Monate vergangen. Zwar befand sich über dem Atlantik bereits ein barometrisches Minimum, doch spannte sich ein Himmel von blauer Seide über den milden Spätsommertag und der Garten lag im Sonnendunst eines letzten, schönen Augusttages.

Paul ist der Schwager einer Kusine meiner Frau. Seine Ehrentage gehören zu den wirklichen Höhepunkten eines jeden Jahres und sind für die ganze Familie, die nähere, die weitere und entfernte Verwandtschaft, unumschiffbare Pflichttermine. Je mehr Angehörige, Freunde, Kolleginnen und Kollegen seine zum Festsaal umgerüstete Garage bevölkern, desto glücklicher ist der Jubilar. An diesem runden Geburtstag hatte die Garage einen bierzeltartigen Vorbau bekommen, dessen leichtes Leinendach im sanften Sommerwind harmonisch auf und ab schwang.

Am Morgen dieses wunderbaren und zudem arbeitsfreien Tages, hatte ich noch im Bett, die zum wiederholten Male unterbrochene Lektüre von Tellkamps „Der Turm“ wieder aufgenommen. Auf Seite 371: „Ruhe. Wie ein Boot nach einem letzten Ruderzug schien der Tag zu treiben, nicht mehr in Anstrengung, noch nicht am Ziel, der Himmel, an dem nur noch wenige, federleichte Wolkenbrauen staunten, dehnte sich zu Luftballonbläue … “ Irgendwann meldete sich dann der Tag, riefen Frau und Kinder, nahmen die Dinge ihren festlich unabänderlichen Verlauf, verlangten Gespräch und Gesang, Speis und Trank die volle Konzentration.

Schon bald nach Pauls Geburtstag galt es den Hochzeitstag zu begehen und wenige Wochen später in kurzer Folge die Geburtstage unserer Kinder, mit all ihren Vor- und Nachbereitungen. Am zweiten Wochenende im Oktober wurde Großtante Hilde 90 und vierzehn Tage später im nahegelegenen ländlichen Vorort drei Tage Kirchweih gefeiert. Anfang November weihten Kulturdezernat und Elternbeirat die neue barrierefreie Eingangshalle des Schulzentrums ein, mit im Schulchor sangen die Kinder; Freiwillige waren für Kaffee-, Bier-, Würstchen- und Kuchen-Verkauf gesucht worden. Ende desselben Monats hatte der Schach-Club „Weiße Dame“ hundertjähriges Jubiläum; drei Tage gehörten den Festlichkeiten, einschließlich überregional besetztem und von der örtlichen Volksbank mit attraktiven Preisen ausgestattetem Turnier. Anfang Dezember schied tränenreich Kollege Zeitblom aus dem aktiven Dienst, der Abend klang feuchtfreulichtraurig im Stammlokal des zukünftigen Pensionärs aus.

365 Tage hat das Jahr. An den meisten muss man arbeiten. An allen anderen aber könnte man eigentlich von morgens bis abends lesen. Es spräche wenig dagegen. Aber allzu oft kommt Allzuoft. Höhepunkte des Kalendariums und des Kirchenjahres sind Tiefpunkte für leidenschaftliche Leser. Da vorher (Sekt), aus Anlass (Sekt), zum Essen (Wein) und zum Schluss (Bier und Schnaps) noch reichlich Prozentiges genossen wird, ist es nach der Feier auch meist vorbei mit Schmökern. Es bleibt das Bett, mit unruhigem Schlaf und dem durch Zwiebelrostbraten, Torte und Trinkgenüsse verursachten Alptraum. In diesem stehe ich vor dem Regal und beim Versuch einen Band der neuen kommentierten Frankfurter Werkausgabe zu greifen, löst sich die ganze Konstruktion mitsamt hunderten, nach den Regeln für die alphabetische Katalogisierung (Kennern sprechen von den „RAK“) sortierter Bände von der Wand.

Unter solchen Umständen kommt auch diesmal das Weihnachtsfest heran und wieder verfolgten wir mit Hilfe des Abreißkalenders, auf dessen letztem Blatt ein Tannenbaum gezeichnet ist, pochenden Herzens das Nahen der unvergleichlichen Zeit. Schneeflocken fallen und legen sich auf die weiße Decke, die schon Tagen in den Straßen der Stadt liegt. Die Laternen geben nur spärliches Licht; in den Häusern aber wird es von Minute zu Minute heller.

Unter dem reichgeschmückten Tannenbaum, im Schein der Kerzen, vor erwartungsfrohen, festlich gestimmten, kleinen und größeren Menschen, da liegen sie auch dieses Jahr wieder: Die Klassiker wie der immer aktuelle „Werther“, „Krieg und Frieden“ neben „Vor dem Sturm“, „Buddenbrooks“ neben den Rilke-Gedichten, Neuerscheinungen von Grass und LeCarré, von Melinda Nadj Abonji und Mariam Kühsel-Hussani, Erzählungen und Romane, Kunst- und Bildbände, Koch- und Kinderbücher, neben Socken und Taschentüchern, Gut- und Geldscheinen in diskreten Kuverts, zwischen Lebkuchen und Likören. Da liegen sie. Alle Jahre wieder.

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Danksagung: Ich danke meiner Familie für ihr Verständnis, ganz besonders aber meiner Frau, die mir die Arbeit an diesem Blog mit ihrer Zuversicht stets erleichtert. Außerdem danke ich Robert Musil, Thomas Mann und Theodor Fontane, ohne die dieser Beitrag nicht möglich gewesen wäre. Allen Genannten und Nichtgenannten wünsche ich eine fröhliche und – soweit es die Umstände erlauben und sie noch leben  – lektürereiche Weihnachtszeit.

Weihnachten 2009

Wort und Weg


Wir sind, da wo wir sind, auf Zeit, und auch so niemals ganz.

Wenn wir sprechen oder schreiben, wollen wir verstanden werden.

Wenn wir gehen, wollen wir ankommen.

*

Das Dazugehörigkeitsverlangen lässt uns Worte sagen, die uns nicht gehören.

Der Mensch will bleiben, aber er muss gehen.

Beim Schreiben und Lesen sind wir auf dem Nachhauseweg. (1)

*

Das Einfache verwahrt das Rätsel des Bleibenden und des Großen.

Die wissende Heiterkeit ist ein Tor zum Ewigen.

*

Alles spricht den Verzicht in das Selbe.

Der Verzicht nimmt nicht. Der Verzicht gibt.

Er gibt die unerschöpfliche Kraft des Einfachen.

*

Der Zuspruch macht heimisch in einer langen Herkunft. (2)


1)

Nach: Stadler, Arnold: Rede zur Verleihung des Kleist-Preises am 22. November 2009 in Berlin.

2)

Heidegger, Martin: Der Feldweg. – Frankfurt, 1953.