AusLese 2018. Der erste Teil

Höchste Zeit wieder einmal hinzuschreiben was das zurückliegende Jahr an neuen Büchern und guten Geschichten auf die Auslagetische der Buchhandlungen gelegt hatte. Dafür heißt es Anlauf zu nehmen, warten bis Worte und Sätze zu sprudeln beginnen.

Wo hatte ich denn eigentlich den neuen Haas hingelegt? Und das Buch von dieser Melandri? An Maxi verliehen? Das kann nicht sein. Hier liegt es doch. Auf den CDs.

Ja. Erst einmal etwas Musik auflegen zur Einstimmung bevor es an die Tastatur geht. Vielleicht was Weihnachtliches? Last Christmas? (Siehe dazu später unten: Thomas Bauer zum Thema Verlust der Vielfalt!) Felix Meyer könnte passen. Mal eben kurz reinhören …

Wie soll’n wir kleinen Menschen nur / mit kleinen Schritten, kleinen Schuh’n / sehen dass das nicht das Paradies / sondern nur Weihnachten ist.

Weihnachtszeit auf den Straßen / wo es schneit oder zieht, / oder regnet, so dass man die Tränen nicht sieht. / Wir kleinen Menschen haben Spaß, / sehen uns die Schönheit gut an, / doch nur von Weitem hinter Glas, / weil man nicht alles haben kann.

Weihnachtszeit in den Straßen / ist der Winter so kalt. / In weit aufgeriss’nen Augen / spiegeln sich Dreck und Gewalt …

Foto: Wiebke Haag

Die AusLese 2018. Wie immer bedenkenlos subjektiv und unvollständig.

Was dann nachher so schön fliegt. Junger Dichter. Mitte der 1980er Jahre. Die Zeit als Zivi im Altersheim ist für Volker keine leichte. Er ist dort Außenseiter, möchte Dichter werden, Lyriker. Erträumt Begegnungen mit Persönlichkeiten der Literaturszene. Als ihm auf einem Kurztrip nach Paris sein bis dahin bestes Gedicht gelingt, bewirbt er sich um Teilnahme an einem Treffen für Nachwuchsschriftsteller in Berlin. Dichterwettstreit, Alltag im Altersheim, die Atmosphäre im Berlin der Vorwendezeit, reale Begegnung mit Heiner Müller und Co., erste große Liebe. Kein leichtes Alter, wenn man so um die 20 ist.

Hilmar Klute hat eine Ringelnatz-Biografie und zahlreiche Streiflichter für die Süddeutsche Zeitung verfasst. Nun ist sein erster Roman erschienen. Temporeich und dicht geschrieben. Gelungener Einblick in die Gedankenwelt eines jungen Mannes mit all seinen Ambivalenzen und ein Stück Kulturgeschichte der alten BRD. Wirkung des Buches auf mich: Fesselnd, in einem Rutsch durchgelesen.

Klute, Hilmar: Was dann nachher so schön fliegt. Roman. – Galiani, 2018. Euro 22.

Ans Meer. Die heitere Lektüre für zwischendurch und ideales kleines Geschenk für nahezu jeden Lesertyp. Die krebskranke Carla möchte noch einmal ans Meer. Sie steigt in den Linienbus von Anton. Der ist gerade nicht so gut drauf, aber zu einer mutigen Wende in Leben und Fahrtrichtung bereit. Seine Durchsage an die Fahrgäste deshalb: Wir fahren jetzt ans Meer. Warmherzige, federleichte Geschichte über das Schwere im Leben. Von dem österreichischen Autor René Freund hatte ich bereits seinen Roman Liebe unter Fischen als Sommerlektüre vorgestellt. Er schreibt unterhaltsam ohne in Kitsch und Klischees abzugleiten. Aus meiner Sicht: In jeder Lebenslage zu empfehlen. Mir persönlich sind seine Bücher zu kurz. Die Geschichte mit Carla hat lediglich 140 Seiten. (Naja, vielleicht ist sie gerade deshalb so gut.)

Freund, René: Ans Meer. Roman. – Deuticke, 2018. Euro 16.

Freund, René: Liebe unter Fischen. Roman. – Goldmann TB, 2015. Euro 8,99

Junger Mann. Bücher zu lesen ist zwar vorteilhaft für Hirn und Gemüt, verbraucht allerdings nur rund 100 Kalorien pro Lesestunde. Nicht klären konnte ich, ob das für Arno Schmidt und James Joyces gleichermaßen gilt wie für Dora Heldt oder Dan Brown. Der 13-jährige Held in Wolf Haas neuem Roman jedenfalls muss körperlich deutlich mehr tun um seinen adipösen Neigungen entgegenzuwirken. Er ist schwer verliebt und möchte entsprechend fesch daher kommen. Leider ist die Angebetete fast zehn Jahre älter und verheiratet. Mit dem Tscho. Und der hat ganz besondere Pläne mit dem jungen Mann. Coming-of-Age-Geschichte, Roadmovie, ein sehr spezielles Dreiecksverhältnis, Kalorienzählerei, überraschende Wendungen. Ein wunderbarer Roman, voller (auf den zweiten Blick!) ausgesprochen liebevoller Protagonisten. Kein Brenner-Haas, aber einmal mehr ein Buch in ganz eigener Haas-Sprache, die zu den Figuren passt wie dafür ausgedacht. Mein Eindruck: Hin und weg.

Haas, Wolf: Junger Mann. Roman. – Hoffmann und Campe, 2018. Euro 22.

Alle, außer mir. Ein Titel mit Komma, der etwas mehr Leseerfahrung und Durchhaltebereitschaft erfordert, als die bisher vorgestellten. Für mich eines der Bücher des Jahres. Als die Lehrerin Ilaria mit dem jungen Afrikaner Attilio Profeti konfrontiert wird, der behauptet ihr Bruder zu sein, entfaltet sich eine über drei Generationen erzählte Familiengeschichte und ein tiefgreifender Ausflug in die italienische Geschichte des 20. Jahrhunderts. Im Mittelpunkt stehen neben den familiären Verwicklungen und Geheimnissen des Profeti-Clans die verdrängten Kapitel der unseligen Kolonialgeschichte des bis heute innerlich zerrissenen Italien. Fast 600 Seiten, die es Leser und Leserin nicht immer leicht machen, die dafür jeden der sich darauf einlässt in ihren Bann schlagen.

Große Literatur der in Rom geborenen Autorin Francesca Melandri und wie Kritiker fast übereinstimmend konstatieren bereits ihr drittes Meisterwerk. Ihren zweiten Roman Über Meershöhe hatte ich ebenfalls in meinen Sommerlektüren kurz vorgestellt. Er eignet sich, ebenso wie das jetzt wieder neu aufgelegte erste Buch Eva schläft, bestens für ein erstes Kennenlernen der Schriftstellerin Francesca Melandri. Wer danach zu Alle, außer mir greift, wird mit einem außergewöhnlichen Leseerlebnis belohnt. Mein Eindruck: Nachhaltig. Überrascht, was die italienische Literatur der Gegenwart zu bieten hat.

Melandri, Francesca: Alle, außer mir. Roman. Aus dem Italienischen von Esther Hansen. – Wagenbach (wo sonst?), 2018. Euro 26.

Melandri, Francesca: Über Meereshöhe. Roman. Derzeit vergriffen, erscheint 2019 bei Wagenbach neu.

Melandri, Francesca:  Eva schläft. Roman. Neuauflage 2018 bei Wagenbach. Euro 15,90.

Keyserlings Geheimnis. Nach Konzert ohne Dichter ein weiterer Künstlerroman des fleißigen Klaus Modick. Bücher von Klaus Modick kann man eigentlich immer bedenkenlos kaufen, und natürlich lesen. Ich kenne keinen richtigen Missgriff von ihm. Der gute Eduard Keyserling (1855 – 1918) ist schon längst aus der ersten Reihe der Literaturgeschichte verschwunden. Einige seiner kurzen Romane und Erzählungen sind noch greifbar (Wellen, Fürstinnen). Dass er eine schillernde Figur war, ein bewegtes Leben führte und in einer Zeit lebte, in der nicht jeder Fehltritt und jedes Missgeschick der Boulevardpresse anheim fiel, bietet Modick soliden Stoff für seinen Roman. Und die Fantasie anregende Gelegenheit um auf der Basis gesicherter Fakten sein Netz aus hinzu erdachten Möglichkeiten zu knüpfen. Für mich: Literaturgeschichte in unterhaltsamer Form aufbereitet – immer willkommen.

Modick, Klaus: Keyserlings Geheimnis. Roman. – Kiepenheuer & Witsch, 2018. Euro 20.

Über Verluste. Im September durfte ich ein neues Fremdwort lernen. Ambiguität bezeichnet alle Phänomene der Mehrdeutigkeit, der Unentscheidbarkeit und Vagheit, mit denen Menschen fortwährend konfrontiert werden. So definiert Thomas Bauer, Professor für Islamwissenschaft und Arabistik, Sprachwissenschaftler und Germanist, einen Schlüsselbegriff seines Büchleins Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt. Klingt vielleicht im ersten Moment etwas akademisch und hochtrabend, ist aber in der Tat gut lesbar und verständlich. Und eine überfällige und notwendige Lektüre.

Bauer führt uns die schleichende Reduzierung von Vielfalt und das Verschwinden des Unangepassten, Unzeitgemäßen vor Augen. An die Stelle von Artenvielfalt, konkurrierender Denkschulen, origineller Sichtweisen und Lebensentwürfen sind Schubladendenken und simpler Fundamentalismus getreten. Häufig verschleiert durch den inflationär verwendeten Begriff Authentizität. Konformismus und Gleichschaltung erzeugen, so die Überzeugung Bauers, letztlich Rassismus und Fanatismus. Bedrohliche Gleichmacherei macht er aus bis in die Kreativbezirke von Kunst, Musik, Mode.

Ganz konkrete Verluste hat Judith Schalansky in einem hinreißenden Erzählband verzeichnet. In meinem Beitrag über die Buch Wien 18 habe ich das Werk bereits vorgestellt. Es kann vielleicht als erzählerische Konkretisierung zu Thomas Bauers allgemeiner Abhandlung herangezogen werden. Lesefreude und haptischen Buchgenuss bietet es allemal.

Bauer, Thomas: Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt. – Reclam, 2018. Euro 6.

Schalansky, Judith: Verzeichnis einiger Verluste. – Suhrkamp, 2018. Euro 24.

Das Ende des Jahres ist nah. Und ich bin spät dran mit meinem literarischen Rückblick. Deshalb gibt es einen zweiten Teil schon in einigen Tagen. Dann mit Krimis.

Das Lied Weihnachtszeit in den Straßen von Felix Meyer (auf dem gleichnamigen Album von 2016) ist übrigens die deutsche Version eines französisches Chansons, das im Original einst keine geringere als Edith Piaf sang: Le noel de la Rue.

Mich Thomas Bauers Bedenken anschließend, wünsche ich mir und uns Vielfalt. Dass zum Beispiel wieder mehr populäre Musik in nichtenglischer Sprache gesungen, abgespielt und gesendet würde. Mehr Französisch, Spanisch, Italienisch, Schwedisch, Polnisch, Serbisch, Deutsch und und und. Ein frommer Wunsch – ich weiß.

Schöne Bescherung! – Der Gabentisch 2012

„Lesen ist nicht wie Musik hören, lesen ist wie musizieren.“ (Martin Walser)

Lichterglanz und Glockenbimmel. Schneegestöber, Glühweindampf und Bratwurstduft. Schon ist es wieder Mitte Dezember. Höchste Zeit für den Weg in die festlich dekorierte Lieblingsbuchhandlung. Gönnen wir uns in diesen kalten Tagen ein erwärmendes Schnupper- und Einkaufserlebnis in originellen, breit sortierten kleinen Handlungen fürs gute alte, immer wieder schön gedruckte und gebundene Buch. Hier sind meine Ideen für den Gabentisch, für unter die Tanne-Fichte, zum den Nächsten und Liebsten in die Hand drücken, oder zum Sichselbstbeschenken.

Rammstedt. In diesem Herbst ist auch der lustige, erstaunlicherweise aus Bielefeld stammende (doch längst in Berlin ansässige) Tilman Rammstedt (“Der Kaiser von China”) wieder mit einer Neuerscheinung vertreten. Und die hat es in sich. In “Die Abenteuer meines ehemaligen Bankberaters” geht es viel weniger um den Bankberater eines Protagonisten namens Tilman Rammstedt, als vielmehr um dessen Briefwechsel mit dem american heroe Bruce Willis. “Sehr geehrter Herr Willis, geht es Ihnen gut?” Der Briefverkehr verläuft allerdings sehr einseitig, denn der Schauspieler antwortet nicht. Was sich daraus entwickelt, und wie es mit dem Bankberater weitergeht ist virtuos und hochkomisch. Ein Buch für alle, die sich einfach einmal richtig amüsieren möchten. (Dumont, 2012. Euro 18,99)

Haas. Wenn es jemanden gibt der den “neuen Haas” noch nicht hat, kennt oder las, sollte man diesen Menschen auf jeden Fall mit der “Verteidigung der Missionarsstellung” beglücken. Im Gegensatz zu dem, was der Titel vielleicht vermuten lässt, handelt es sich keineswegs um eine nahe Verwandtschaft der Grauschatten-Machwerke. Raffiniert, witzig und spannend, wird uns hier echter Unterhaltungs-Mehrwert auf überdurchschnittlichem Niveau geboten. Für den erstmal auf den Geschmack gekommenen Leser leider viel zu kurz. (Hoffmann und Campe, 2012. Euro 19,90)

Suter. Die Zeit, die Zeit. Mit diesem – einem Seufzer gleichen – Titel führt uns Martin Suter einmal mehr einen seiner leicht unbedarften Helden vor, die gerne, jedoch selten freiwillig, an allerhand Ecken und Kanten ihres Schicksals stoßen. Klassisch erzählt, flüssig zu lesen, durchaus doppelbödig. Ein Spiel mit der Zeit und auf Zeit. Suter endlich wieder auf dem Höhepunkt seines erzählerischen Könnens. Kleinkinder einmal ausgenommen, kann das Buch problemlos an breite Leserschichten verschenkt werden. (Diogenes, 2012. Euro 21,90)

>>> Haas und Suter wurden auf con = libri bereits ausführlich besprochen. <<<

Russisch 1. Vladimir Sorokin schreibt fabelhaft, satirisch, grotesk. Es ist stets feinderbes Erzählwerk, das einer der wichtigsten Autoren des heutigen Russland präsentiert. In “Der Schneesturm” erleben wir den Landarzt Garin im Kampf gegen eine rätselhafte Seuche, bzw. auf seinem Weg zum Kampf. Sein größter Gegner sind dabei der russische Winter und die märchenhaften Ereignisse, die sich auf der Fahrt zum Einsatzort abspielen. Die Schwierigkeiten und Hindernisse, die sich dem guten Doktor immer wieder in den Weg stellen, sollen, so Kenner, jedenfalls sehr viel Ähnlichkeit mit den aktuellen gesellschaftlichen Verhältnissen im Putin-Reich haben. Für alle Freunde surrealer Geschichten; trotz Schneegestöber-Idylle nicht jugendfrei. (Kiepenheuer & Witsch, 2012. Euro 17,99)

Russisch 2. Seit ich den Bonner Verleger Stefan Weidle auf der Tübinger Sahl-Tagung erleben durfte (s. dazu auch den letzten Beitrag auf con = libri), habe ich auf das Programm seines Verlages ein besonderes Auge geworfen. Hier ist immer wieder Überraschendes zu entdecken. Wie jetzt “Die Manon Lescaut von Turdej” von Wsewolog Petrow. Ein schmaler Band mit einer nicht allzu langen Erzählung. Man darf die Frage stellen, ob sie ein eigenes Buch wert ist. In diesem Fall kann das rasch und klar mit Ja beantwortet werden. Bemerkenswert, hinreißend, todtraurig. Ein Petersburger Intellektueller, im petrow_1Krieg mit einem Krankentransport unterwegs, den “Werther” (vom größten Dichter des größten Feindes geschrieben) auf Deutsch lesend, lernt das Mädchen Vera kennen und – das Klischee muss hier sein – er verfällt ihren Reizen: der physischen Präsenz, ihrer Jugend, ihrem Anderssein. Es ist der Zauber des Gewöhnlichen, der ihn anzieht, die lebenshungrige Gegenwärtigkeit eines flatterhaften Wesens. Sie kann halt lieben nur… Die Geschichte entstand bereits 1946, erschien aber erstmals 2006 in einer russischen Zeitschrift. Petrow war eigentlich Kunsthistoriker und lebte von 1912 bis 1978. Das schmächtige Buch wurde von der Darmstädter Jury zum Buch des Monats November gewählt; auf der aktuellen SWR-Bestenliste belegt es Platz 8. Das sehr informative Nachwort hat Oleg Jurjew geschrieben; die Germanistin Olga Martynova kommentierte einige wesentliche Passagen. (Weidle Verlag, 2012. Euro 16,90)

Russisch-Deutsch. Olga Martynova ist selbst eine interessante Autorin. Von ihr liegen Gedichte, Prosa und Essays vor. Sie stammt aus Russland, lebt seit über zwanzig Jahren in Deutschland und schreibt ihre Prosawerke in deutscher Sprache. Der leicht experimentell und assoziativ erzählte Roman “Sogar Papageien überleben uns” war für mich eine wirkliche Entdeckung, das, was man gemeinhin ein Leseabenteuer nennt. Im Mittelpunkt stehen Menschen, die zwischen Russland und Deutschland unterwegs sind. Wissenschaftler, Literaten, Künstler. Der Leser erfährt viel über die kulturellen Wechselwirkungen zwischen Ost und West. Die Erzählung kreist um ein dichtes Geflecht russisch-deutscher Literatur- und Liebesbeziehungen. Wir begleiten eine junge Literaturwissenchaftlerin auf ihrer sentimentalen Reise durch Gefühls- und Steppenwelten und erleben dabei rasche Richtungs- und Stimmungswechsel. In hintergründig philosophischen Passagen geht es zudem immer wieder um die allerletzten unsicheren Wahrheiten. Vielfach kommt das Buch auf Größen der russischen Literaturgeschichte zu sprechen. Hinweise, die zu weiterer Lektüre anregen können. Olga Martinova schreibt für geübte Leser. (Literaturverlag Droschl, 2010. Euro 19)
P. S.: “Mörikes Schlüsselbein” wird das nächste Buch von Olga Martynova heißen, auf das man schon sehr gespannt sein darf. Es wird im nächsten Frühjahr erscheinen. Mit der Lesung eines Kapitels daraus (“Ich werde sagen: ‘Hi’) gewann sie im Sommer den Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb.

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Foto: Wiebke Haag

Exkurs. Eine kleine Hinwegführung von den rein erzählerischen Werken, hin zu einem sehr empfehlenswerten Essay-Band des bisher vorwiegend als Übersetzer bekannten Joachim Kalka. Seine zugleich leichtfüßigen und dichten Arbeiten sind in “Die Katze, der Regen, das Totenreich. Ehrfurchtsnotizen” versammelt. Ein Titel der bewusst gewählt wurde und bereits einiges über den Inhalt verrät ohne auch nur andeuten zu können, wie komplex die einzelnen Stichworte und Themen abgehandelt werden. Großartige Kabinettstückchen. Eine Liebeserklärung an Bücher, Geschichten und Dichter. Hier schwadroniert ein im besten Sinne chronisch Lesewütiger, ein kenntnisreicher Literat und für jene gleich mit, die wie er, vom Lesen nicht lassen. Das ideale Geschenk für Menschen, die auf dem Fundament einer soliden Allgemeinbildung stehen. (Berenberg, 2012. Euro 20)

Krimi 1. Noch einmal zurück nach Russland. Zu den führenden Kriminalschriftstellerinnen des Landes gehört seit etlichen Jahren Polina Daschkova, von der bereits zahlreiche Werke in deutscher Übersetzung vorliegen. Das neueste trägt den etwas allerweltlichen Titel “Bis in alle Ewigkeit.” Darin soll eine junge Biologin an einem internationalen Forschungsprojekt auf Sylt mitarbeiten. Sie merkt bald, dass es dabei nicht mit rechten Dingen zugeht. Auch der kürzliche Tod ihres Vaters scheint dabei eine Rolle zu spielen. Daschkovas Stärken sind neben dem gekonnten Aufbau sehr spannender, breit angelegter Geschichten, die Schilderung glaubhafter Figuren, mit ihren Schicksalen, ihrem Alltag. Die meist ausführlichen Biographien werden geschickt in die Handlungsabläufe eingewoben und wir erfahren durch sie einiges über das Leben der Menschen im Russland unserer Zeit. Für Krimileser, die mehr als Mord und Totschlag wollen. (Aufbau Taschenbuch, 2012. Euro 10,99)

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Foto: Jan Haag

Krimi 2. Der neue Dühnfort erscheint Ende der Woche! Nichts gegen die fabelhaft tapfere Nele Neuhaus. Obwohl für meinen Geschmack die Zahl der Handlungsfäden in ihren Büchern etwas zu hoch ist – die Frau schreibt Klasse. Doch mein liebster deutscher Ermittler ist derzeit der Kommissar Dühnfort, dessen Erlebnisse die Münchner Schriftstellerin Inge Löhnig ersinnt. Ihr neuer Roman heißt “Verflucht seist Du”, ist der inzwischen fünfte, und die Entstehung des Buches wurde von einer großen Fangemeinde das ganze Jahr über auf Facebook mit großer Spannung verfolgt. So ist auch die Zahl der Vorbestellungen im Buchhandel bereits beträchtlich. Die bisherigen Bände überraschten und überzeugten mit ihren stimmigen, realitätsnahen Plots, dem hohen Spannungsfaktor und lebensechten Figuren. Dazu kommen wiedererkennbare Lokalitäten in und um München herum, ohne dass dabei einer der vielen nicht immer leicht erträglichen Provinz-Krimis herauskommt. Das hat vielmehr wirklich Stil, wie ihn auch die Hauptfigur, ein wählerischer Espresso- und Weißwein-Trinker, repräsentiert. Die nicht immer geradlinig verlaufenden Entwicklungen der wichtigsten Mitwirkenden sind mindestens so interessant wie die eigentliche Krimihandlung. Für alle, die immer noch nicht glauben wollen, dass es auch tolle Deutsch schreibende “Crime-Ladies” gibt. (List Taschenbuch, 14. Dezember 2012. Euro 9,99)

Krimi 3. “Denn die Gier wird euch verderben”. So pseudo-alttestamentarisch heißt die neueste Geschichte aus dem nordischen Mordloch Kiruna. Ein durchaus exotischer Schauplatz, den die schwedische Autorin Asa Larsson für sich entdeckt hat. Ihre Staatsanwältin Rebecka Martinsson macht sich einmal mehr auf, den zahlreichen verbrecherischen Spuren im Provinzsumpf zu folgen. Auf der Suche nach Mörder oder Mörderin stößt sie auf Geheimnisse deren Ursprünge bis ins Jahr 1914 zurückreichen, gerät in höchste Kreise und natürlich auch wieder in ebensolche Gefahren. Schmackhafte Krimi-Kost, angereichert mit einer Portion Gesellschaftskritik und gewürzt mit einer Prise Gewalt. Für Freunde der hohen skandinavischen Verbrechensrate eine gern genommene Neuerscheinung. (C. Bertelsmann, 2012. Euro 19,99)

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Eine musikalische Zugabe. “Passe passe le temps il n’y en a plus pour très longtemps.” Eben. Nur graugruftige Überbleibsel wie ich werden sich noch an dieses oder andere Chansons eines bärtigen, großgewachsenen Herrn erinnern. An die Chansons von hauchzarter, schlichtstarker Ausdruckskraft des großartigen, inzwischen schwer in die Jahre gekommenen, George Moustaki. Le Métèque. Ma Liberté. En Mediterranée. Ein Hauch mediteranes Lebensgefühl ist es auch, die diese einfachen, aber eindringlichen Lieder in den kalten deutschen Winter bringen. Marina Rossell hat 12 Moustaki-Titel wiederbelebt und singt sie mit kräftigem klarem Alt und in katalanischer Sprache. Das klingt wunderschön, vertraut und neu zugleich. Beim Titel “Màrmara” haucht auch noch der alte Meister selbst mit. Geschenkeignung: 45 plus undoder ausgesprochene Liebhaber der katalanischen Sprache (wer sie beherrscht kann mitsingen!). (“Marina Rossell canta Moustaki”, beim Label “world village” von harmonia mundi)

Herbst-Lese 2012: Martin Suter und Wolf Haas

In ihren neuen Romanen unterhalten uns zwei Erfolgsautoren hintergründig und gekonnt: Der Schweizer spielt dabei mit dem Phänomen Zeit, sein österreichischer Kollege mit der Mutter aller menschlichen Missverständisse – der Sprache.

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Thomas Taler hat vor einem Jahr seine langjährige Lebensgefährtin verloren. Sie wurde erschossen. Ein erster Verdacht fiel auf den älteren Nachbarn von der anderen Straßenseite. Er ist Witwer und geht in seinem gepflegten Garten etwas seltsamen Tätigkeiten nach. Doch es blieb beim Verdacht. Dem Einzelgänger und Sonderling konnte nichts nachgewiesen werden. Außerdem leidet der alte Mann an Parkinson und ist nicht mehr in der Lage mit einer Waffe zu zielen. Ein Mißtrauen bleibt allerdings, und die beiden Männer beobachten und belauern sich.

Schließlich kommt es – nicht ganz freiwillig – doch zu einer Annäherung dieser kammerspielartig verstrickten Hauptfiguren. Die Männer entdecken, dass sie ein ähnliches Verlust-Schicksal teilen und von einem gemeinsamen Wunsch besessen sind. Sie würden am liebsten Geschehenes, ihnen Widerfahrenes, rückgängig machen. Für die Realisierung wäre nichts weniger erforderlich als ein Eingriff in den Ablauf dessen, was man gemeinhin Zeit nennt. Herr Knupp hat sich den Theorien von wissenschaftlichen Außenseitern verschrieben, die die Existenz von Zeit leugnen. Er plant ein ambitioniertes Projekt und es gelingt ihm Thomas Taler als Mitstreiter zu gewinnen.

Martin Suter gehört zu den meistgelesenen deutschsprachigen Unterhaltungs-Schriftstellern. In seinen besten Büchern gelingt ihm immer etwas mehr, als nur den Leser mit handwerklich gut gemachter Kurzweil zufrieden zu stellen. Sie behandeln in origineller, manchmal überraschender Weise, ein zentrales Thema, das sachlich und erzählerisch gekonnt vertieft wird. In “Der letzte Weynfeldt” gewährte der Autor den Lesern Einblicke in die Welt des Kunsthandels; im Roman “Ein perfekter Freund” ging es um Fragen von Identität und Moral; und in “Small World” gelang es Suter die Problematik der Alzheimer-Erkrankung stilvoll, mit Fingerspitzengefühl und gleichzeitig fesselnd zu verarbeiten.

Die männlichen Hauptfiguren in den Romanen des Schweizers, der überwiegend in Guatemala und Spanien lebt, sind wirklich keine Helden. Eher durchschnittlich, unsicher, mit sich selbst nicht zufrieden, gelingt ihnen wenig, beruflicher Erfolg und Ambitionen halten sich entsprechend  in Grenzen. Sie sind oft so etwas wie der Gegenpol zu jenen bürgerlichen Karrieristen und Erfolgsmenschen, mit denen sie sich, um ihr Leben zu bestreiten und zu bestehen, Tag für Tag auseinandersetzen müssen, an denen sie leiden oder scheitern.

In seinem Roman “Die Zeit, die Zeit”, gelingt es Suter erneut, ein faszinierendes Grundthema mit einer phantasievollen Geschichte zu verweben. Nachdenklich verfolgt man die Auseinandersetzung mit der zentralen Frage des Buches, ob so etwas wie die Zeit überhaupt real existiert oder nur aus Vorstellung und Wirken des Menschen entsteht. Ist Zeit nur eine Illusion, die wir durch die ständigen und unaufhaltsamen Veränderungen empfinden? Pflanzen wachsen, Menschen altern, um uns herum ist nicht endendes Werden, Wandeln und Vergehen. Aber ist das wirklich Zeit?

Lesen Sie in diesem spannenden Buch auf gar keinen Fall den Schluss zuerst, wie Sie es sonst vielleicht gerne machen. Sie würden sich nicht nur um viel Lesevergnügen bringen, sie wären vielleicht auch verwirrt. Dieses Buch hat ein wirklich überraschendes Ende. Aber ist das Ende wirklich eine Überraschung? Und vor allem: Ist das Ende wirklich das Ende?

Suter, Martin: Die Zeit, die Zeit. Roman. – Diogenes, 2012. Euro 21,90

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Das fängt ja gut an:

“‘Verrate mir bitte nicht deinen Namen’, sagte Benjamin Lee Baumgartner zu der freundlich aus ihrem kleinen Imbisscontainer auf ihn herabblickenden Burgerverkäuferin. ‘Ich finde, wenn man den Namen von einem Menschen weiß ist der Zauber schon zerstört.’”

Wolf Haas und sein Verlag kennen sich aus im Geschäft. Der Verkaufserfolg eines neuen Buches fängt nicht erst mit den ersten Sätzen an, sondern bereits mit dem Titel. “Verteidigung der Missionarsstellung”, heißt deshalb der, nach für die Leser viel zu langer Wartezeit, endlich erschienene “neue Haas”. Wolf Haas bekommt es zwar hin, dass in der Erzählung auch das im Titel anklingende Thema kurz gestreift wird; einen Gegenentwurf zu den derzeit unausweichlichen “Shades of Grey” hat er jedoch keineswegs vorgelegt. Schließlich haben wir Leser mehr verdient als die spätpubertären, spracharmen Grauszonen einer E. L. James.

Ist dieser Roman nur ein Road-Movie, das in den legendären Westen der Vereinigten Staaten entführt? Oder doch eine lange und weite Zeitreise mit ungewissem Ziel? Mehr als um Raum und Zeit geht es in dem Roman um Spielarten von Sprache, ihre Wirkung und ihr immer etwas problematisches Verhältnis zur Realität. Was ist Begriff, was Erfahrung? Was ist a priori in dieser Welt und wofür haben wir überhaupt Worte? Welchen Begriffen und Ausagen können wir trauen? Und wenn doch das Gegenteil richtig ist? Wolf Haas hat sich im Vorfeld dieses Buches u. a. mit dem polnischen Logiker und Mathematiker Alfred Tarski, sowie dem Linguisten Benjamin Whorf beschäftigt und lässt seine gewonnenen Erkenntnisse geschickt in die wendungsreiche Geschichte einfließen. Das gelingt ihm glänzend und ohne die Dramatik des laufenden Geschehens zu beeinträchtigen. Dem Leser kommt das dann weder Polnisch noch Spanisch, sondern reichlich Chinesisch vor.

Während Haas so unnachahmlich leichthin und scheinbar mühelos erzählt, uns damit die möglicherweise gar nicht existierende Zeit auf amüsante Art vertreibt, inszeniert er gleichzeitig Sprache in einer ganz einmaligen und eigenartigen Weise. Dazu ist das Buch mehrmals mit typographischen Spielereien durchsetzt, die auf den ersten Blick fast albern wirken. Doch was uns vor der Lektüre vielleicht als Seiten-Schinderei vorkommt, will uns nach der Lektüre ebenso notwendig wie selbstverständlich erscheinen. Ebenso zwingend, wie die Regie-Anweisungen in eckigen Klammern, mit denen er uns weismachen will, er habe uns allzu ausschweifende epische Passagen erspart.

An dieser Stelle ist es erforderlich, das hier zu besprechende Objekt legt das nahe, einen Zeitraum einzufügen…
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Ende des Zeitraums.

Und die Handlung? Ja, die Handlung… Ist die überhaupt wichtig? Das soll gefälligst jeder selbst herausfinden. Eine Kernaussage, die diese Erzählung in mehreren Variationen ausbreitet, ist gar nicht sehr neu: Nur die Liebe zählt. Und – wie bereits angesprochen – die Sprache. Wenn da nur nicht die Seuchen wären. Diese weltbedrohenden Pandemien. Schließlich, endlich (endlich in diesem Zusammenhang eigentlich Stopp-Wort) und nicht zu vergessen, das Phänomen Zeit. “Ich liebe Déjà-vu-Erlebnisse.”, sagt die schöne holländische Übersetzerin zu Benjamin Lee Baumgartner, der zur väterlichen Hälfte (möglicherweise) von Hopi-Indianern, einer Untergruppe der Navajo, abstammt, die bekanntlich keine Zeit kennen. “Man hat das Gefühl, dass man durch die Zeit fällt.”

So schnell bin ich schon lange nicht mehr durch ein Buch gefallen.

Haas, Wolf: Verteidigung der Missionarsstellung. Roman. – Hoffmann und Campe, 2012. Euro 19,90   (Wichtiger Hinweis: Das Buch hat leider nur 238 Seiten!)