Ein Roman von Ellen Sandberg der zu denken gibt.
Es endet mit einem kurzen Telefonat und einer Verabredung zu einem Treffen der beiden Hauptfiguren. Einer Frau und einem Mann. Es ist einer der gelungensten Dialoge die ich in letzter Zeit von einer deutschsprachigen Autorin oder einem Autor gelesen habe. Das Buch ist aus. Als Leser bleibe ich nach dieser Lektüre mit ausgesprochen gemischten Gefühlen im Lesesessel zurück.
Zurückgelassen mit der Frage, ob man Spannung und unterhaltsame Kurzweil dieses Romans genießen darf angesichts der Thematik die hier behandelt wird. Die Abläufe der erzählten Gegenwart haben ihre Auslöser, ihre Ursachen, in zwei unfassbaren Verbrechenskomplexen: Den Kriegsverbrechen deutscher Soldaten im besetzten Griechenland gegen Ende des Zweiten Weltkriegs und den Euthanasiemorden im Dritten Reich. Schatten aus brauner Vergangenheit fallen auf die Protagonisten im München der Gegenwart.
1944 arbeitete die junge Krankenschwester Kathrin in einem Heim für geistig und körperlich behinderte Menschen. Für die Nazis sind das lebensunwerte Randexistenzen. Ärzte missbrauchen sie für Experimente, lassen sie verhungern, töten sie. Die Vorgänge werden als Erlösung für die Patienten beschönigt. Politisch deklariert als Befreiung von unnötigem Ballast für den Volkskörper. Euthanasie ist das Stichwort. Unmenschlicher Zynismus die Folge. Kathrin, dem charismatischen Chefarzt der Einrichtung mehr wie zugeneigt, ist zwiegespalten; schließlich erstellt sie mit Hilfe eines Arztes in Ausbildung Dokumentationen einiger besonders krasser Fälle.
Ihre Nichte Vera erfährt über siebzig Jahre später durch mehrere Zufälle von der Existenz dieser Unterlagen. Die Journalistin hat Probleme mit ihrer beruflichen Orientierung. Sie droht als Redakteurin eines Zeitgeist-Journals für Frauen zu versauern, während ihre wahren Ambitionen doch in eine ganz andere Richtung gehen. Deshalb sieht sie es als willkommene Chance den Verbrechen aus der Zeit des Dritten Reichs nachzugehen und darüber zu schreiben. Vom Ergebnis dieser Arbeit erhofft sie sich einen Karrieresprung.
Sie ahnt nicht, dass gleichzeitig sehr viel entschlossenere Kreise und gefährlichere Kräfte dabei sind, die belastenden Unterlagen aus der Welt zu schaffen. Diesen Auftrag soll Manolis Leftis ausführen. Ein gut bezahlter Spezialist für zweifelhafte Machenschaften, Handlanger für Menschen, die sich selbst die Hände nicht schmutzig machen. Er hatte griechische Vorfahren und ist in zweiter Generation traumatisiert durch Massaker die deutsche Soldaten gegen Ende des Zweiten Weltkriegs im Heimatdorf seiner Eltern und Großeltern verübten.
Aus dieser Konstellation macht Ellen Sandberg eine ungemein spannende, großartig konstruierte Geschichte mit allerhand Nebenhandlungen und geschickt eingeflochtenen historischen Reflexionen. Dass sie dieses mitreisende Erzählen bestens beherrscht hat sie unter ihrem Namen Inge Löhnig mit Kriminalromanen rund um den Münchner Kommissar Dühnfohrt bereits mehrfach sehr erfolgreich nachgewiesen. Waren die Dühnfort-Bücher beste Gesellenstücke, so gelingt ihr mit Die Vergessenen die Meisterarbeit als Autorin von Spannungsliteratur.
Gründlich recherchiert und nach langer Vorarbeit nunmehr veröffentlicht, entwickelte sich der Titel rasch zu einem unerwarteten Bestseller. Neben den spannenden Passagen sind es vor allem die schicksalhaften Momente, die schockierenden Szenen, die Ellen Sandberg so eindrucksvoll und anhaltend berührend gelingen. Und eben die Frage aufwerfen, ob man sich dieser belletristischen Unterhaltung uneingeschränkt hingeben darf.
Natürlich ist es nicht das einzige Buch dessen fikive Erzählung auf grausigen historischen Fakten beruht. Die Literaturgeschichte ist voll davon, gerade die der unterhaltenden Literatur. Man muss so lesen dürfen. Das ist nicht verwerflich, da man sicher sein kann, dass bei fast allen Leserinnen und Lesern etwas zurückbleiben wird. Eindrücke die über die Genugtuung an guter Lektüre hinausgehen, die kleine Widerhaken einpflanzen, Erkennnisfetzen ins Bewusstsein drücken, dass es Teile der deutschen Geschichte gibt, die nicht vergessen werden dürfen, die selbst gegenwärtigen und zukünftigen Generationen deutlich machen können, was nicht und nie mehr sein dürfte. Dass aber unsere Welt noch längst nicht frei davon ist.
Ellen Sandbergs Die Vergessenen ist ein Buch dass von Vielen gelesen werden kann und sollte. Wenn es in letzter Zeit ein Buch gab über das man mit Freunden, Bekannten, Mitlesern sprechen und diskutieren muss, dann ist es dieses.
Sandberg, Ellen: Die Vergessenen. – Penguin Verlag, 2017. Euro 13