1875, 1955, 2015!

Notizen zu einem Thomas-Mann-Jahr

Er ist bereits seit 60 Jahren tot und geboren wurde er vor 140 Jahren. Am 6. Juni 1875 in der damaligen Stadtrepublik Lübeck. Runde Zahlen. Anlass genug für die Thomas-Mann-Gemeinde ein Jubiläums- und Jubeljahr auszurufen. Dabei ist Thomas Mann eine literarische Größe der regelmäßig und Jahr für Jahr sehr viel mehr Aufmerksamkeit zuteil wird als den meisten anderen toten Dichtern. Eine Aufmerksamkeit die sicher nicht unbedingt in direktem Zusammenhang mit der Häufigkeit der Lektüre seiner Originalwerke steht. Dafür wird über dieses Werk, und noch viel lieber rund um die Person des Autors mitsamt seiner originellen Familie, fleißig herausgegeben, veranstaltet, ausgestellt und aufgeführt.

In Herbstvorschauen der Verlage, die dieser Tage die Druckereien verlassen oder als PDF-Dokumente auf einschlägigen Websites erscheinen, wird Vorfreude auf zwei Bücher geweckt, die in der zweiten Jahreshälfte in die gut sortierten Buchläden kommen. Tilmann Lahme kennen Kundige bereits als Verfasser einer profunden, sehr lesenswerten Golo-Mann-Biographie. Er hat nach dem Studium für die FAZ gearbeitet und lehrt heute an der Universität Lüneburg. Seit vielen Jahren beschäftigt er sich intensiv mit der Familie Mann. Im Herbst legt er nun als Ergebnis dieser Forschungen seine Monographie “Die Manns. Geschichte einer Familie” vor, die – wie könnte es anders sein – bei S. Fischer erscheinen wird.

Zentralbild Thomas Mann bürgerlich-humanistischer Schriftsteller von Weltgeltung. geb.: 6.6.1875 in Lübeck gest.: 12.8.1955 Kilchberg (Schweiz) 1929 erhielt er den Nobelpreis. 41175-29, Scherl Bilderdienst,

Thomas Mann 1929 im Hotel Adlon. (Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-28795)

Lahme hat dafür die gesamte interfamiliäre Korrespondenz, darunter viele bisher nicht bekannte oder nicht beachtete Dokumente, ausgewertet und die verschiedenen Konstellationen und Abhängigkeiten des Familien-Verbundes untersucht. Der Verlag schreibt in seiner Ankündigung: “Legenden und Deutungen erscheinen in neuem Licht. Aus den verschiedenen Perspektiven entsteht ein vielschichtiges, ungeheuer lebendiges Bild einer Familie, in der um gegenseitige Anerkennung gekämpft wurde und sich auf einmalige Weise Literatur, Politik und Leben durchdrangen.” Diese Buch dürfte verschärftes Bestseller-Potential haben und die einschlägigen Filmemacher sehe ich schon in den Startlöchern für den Wettlauf um die Rechte für bewegte Bilder.

“Er ist ein Meister, er bleibt”, beginnt Thomas Manns großer Essay über Theodor Storm. “Bürger auf Abwegen” heißt das Buch, das sich mit beiden norddeutschen Künstlern beschäftigt und in dem die literarische Würdigung und durchaus kritische Einordnung des Husumers Storm durch den Lübecker Bürger und Schriftsteller eine zentrale Rolle spielt. Es ist der von Christian Demandt herausgegebene Begleitband zur gleichnamigen Ausstellung, die vom 11. September bis 8. November diesen Jahres zunächst im Lübecker Buddenbrookhaus und anschließend bis weit ins nächste Jahr hinein im Theodor-Storm-Haus Husum zu sehen sein wird. “Er war ein Freier – trotz aller Weichheit und Sensibililät seiner Natur ein Mann trotziger Stirn…”, urteilte der Nobelpreisträger im Essay über den Vorfahren im Geiste.

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Theodor-Storm-Büste in Husum (Foto: Thorsten Schramme)

Obwohl sie keine Zeitgenossen waren – Mann hat Storm (1817 – 1888) ja bereits als eine Art “Klassiker” – wahrgenommen, gibt es so etwas wie eine Verwandtschaft zwischen diesen beiden zutiefst bürgerlich gegrägten Persönlichkeiten, deren Lebenswege und Werke von der antibürgerlichen Ambivalenz ihres Künstlertums und der schmerzlich-kreativen Auseinandersetzung mit ihren Milieus und Determinationen zeugen. Zu entdecken sind Parallelen “in ihren Auffassungen von Kunst und bürgerlicher Tätigkeit, ihrer Liebe zu Poesie und Musik, in ihren erotischen Verwirrungen, in ihrer Neugier auf das Einbrechen des Phantastischen in die vernünftig geordnete Welt…”, heißt es im Ankündigungstext des Verlages zu “Bürger auf Abwegen”.

Im der ersten Septemberhälfte werden sich gleich zwei öffentliche Tagungen mit Gemeinsamkeiten und Trennendem der beiden großen Dichter-Persönlichkeiten beschäftigen. Von 4. bis 6. September lädt die Theodor-Storm-Gesellschaft nach Husum ein. Das traditionelle Herbst-Kolloquium der Deutschen Thomas-Mann-Gesellschaft findet die Woche drauf vom 10. bis 13. September statt. Und da gibt es dann gleich noch etwas zu feiern: Diese Vereinigung gibt es nun seit 50 Jahren. (S. Links im Anhang)

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Auch in der Stadt in der Thomas-Mann fast 40 Jahre lebte wird “Thomas Mann zu Ehren” und aus Anlass des doppelten Gedenkjahres einiges auf die Beine gestellt. Doch die offiziellen Stellen sind es weniger, die sich dabei hervortun. Diese Aufgabe stemmen – und das nicht zum ersten Mal – die rührigen Menschen des Thomas-Mann-Forums München, allen voran der vielseitige Dirk Heißerer, deren Engagement ein umfangreiches Jubiläums-Programm mit einer großen Zahl unterschiedlichster Veranstaltungen ermöglicht. Alle Informationen dazu gibt es über die Homepage des Forums (s. Anhang) oder in der Arcisstraße 12, 80333 München.

In Russland geht ein so genanntes “Deutsches Kulturjahr” zu Ende, von dem man in deutschsprachigen Medien erschreckend wenig vernommen hat. Man hätte ja recherchieren müssen. Lieber werden die beliebten und beliebigen Fertigtexte der westlichen Unterhaltungskonzerne von den abgemagerten Redaktionen verwendet, was zunehmend zur inhaltlichen Gleichschaltung der Feuilletons, der Kultur- und Medienseiten unserer Zeitungen führt. Dem “Focus” verdanke ich aber immerhin, dass ich erfahre, dass zum Abschluss des “Deutschen Kulturjahres” im Moskauer Puschkin Literaturmuseum eine Fotoausstellung über das Leben des Literaturnobelpreisträgers Thomas Mann zu sehen sein wird. Bis 30. September hat man Zeit, die russische Hauptstadt zu besuchen und dabei zu erkunden, was die Kuratoren für sehens- und mitteilenswert halten.

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Während wir bei der Beschäftigung mit Thomas Mann gleich auf mehrere ausgezeichnete Biographien (von Peter de Mendelssohn bis Hermann Kurzke) zurückgreifen können, gibt es zu Storm meines Wissens derzeit nur ein adäquates wissenschaftlich fundiertes und aktuelles Werk: “Du graue Stadt am Meer. Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert” von Jochen Missfeldt. Daneben entdeckt man Kurioses, wie den Storm-Krimi “Das Nordseegrab” des Tilman Spreckelsen. “DICHTER, ANWALT, ERMITTLER – Theodor Storm und sein geheimnisvoller Gehilfe Söt in Husum: ein Nordseeküstenkrimi voller Spannung und historischer Atmosphäre”, verspricht der Verlag. Gelesen habe ich das im April erschienene Buch des bisher hauptsächlich als Journalist hervor getretenen Autors noch nicht. Sollte ich? Es wird im übrigen der erste Band einer von Spreckelsen geplanten Reihe rund um den Ermittler Storm sein.

Von Manfred Flügge liegt seit einigen Wochen “Das Jahrhundert der Manns” vor. Flügge kommt das Verdienst zu, vor knapp zehn Jahren eine dringend benötigte Biographie über den Thomas-Bruder Heinrich veröffentlicht zu haben. Weniger gelungen war sein Versuch über “Die vier Leben der Martha Feuchtwanger”, dessen über 400 Seiten vor allem mit Klatsch, Tratsch und intimen Indiskretionen zu imponieren versuchen. Nun also die “Manns”. Da er nicht der erste ist, der sich gleich die ganze Familie vornimmt (s. oben, sowie z. B. Reich-Ranickis, “Thomas Mann und die Seinen” oder die „andere Geschichte der Familie Mann“ mit dem Titel „Im Netz der Zauberer“ von Marianne Krüll) darf man gespannt sein, was er uns Neues und Interessantes zu bieten hat. “Das politische Denken und Handeln sowie die wichtigsten literarischen Werke der Manns stellt er in engem Zusammenhang mit Zeit- und Lebensgeschichte dar,” kündigt der Klappentext die Intension des Verfassers an. Das wäre ja schon mal was.

HörJüngere Zeitgenossen mögen staunen. Obwohl unser im Jahr 2015 einmal mehr gefeierter Autor bereits im 19. Jahrhundert zur Welt kam und für jüngere Erdenbürger schon seit Urzeiten tot ist, kann man ihn durchaus in Bild und Ton sehen und hören. Es gibt einiges Filmmaterial von ihm und seinem Umfeld und vor allem gibt es Tonaufnahmen. Jetzt neu erschienen im Hörverlag sind 17 Stunden Original Thomas Mann auf 17 CDs. Er liest/las darauf u. a. aus dem “Felix Krull”, dem “Zauberberg”, “Joseph und seine Brüder”. Zu hören sind außerdem die Reden “Deutsche Hörer”, die er mit der BBC aufnahm und die für die Landsleute im Nazi-Deutschland gedacht waren. Und Thomas Mann erzählt von der Musik, die er gerne hörte und von der es dann auch Hörbeispiele gibt. Diese Vorträge zeugen auch von der darstellerischen Begabung des Schriftstellers, deutlich wird das vor allem wenn er mal heiter-ironisch, mal getragen bis tragisch aus den eigenen Romanen und Erzählungen liest.

*****

Lahme, Tilmann: Die Manns. Geschichte einer Familie. – S. Fischer, 2015 (ersch. 8. Okt. 2015). Euro 24,99

Demandt, Christian (Hrsg): Bürger auf Abwegen. Thomas Mann und Theodor Storm. – Wallstein, 2015 (ersch. 1. Sept. 2015). Euro 24,90

Missfeldt, Jochen: Du graue Stadt am Meer. Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. – Reclam, 2014 (TB-Ausg., Original: Hanser, 2013). Euro 14,95

Spreckelsen, Tilman: Das Nordseegrab. Ein Theodor-Storm-Krimi. – Fischer TB, 2015. Euro 9,99

Flügge, Manfred: Das Jahrhundert der Manns. – Aufbau Verlag, 2015. – Euro 22,95

Mann, Thomas: Die große Originalton-Edition. 17 Audio-CDs und 1 Audiobook. – der Hörverlag, 2015. UVP Euro 49,99

Theodor-Storm-Gesellschaft

Deutsche Thomas-Mann-Gesellschaft

Thomas-Mann-Forum München e. V.

 

4 Gedanken zu „1875, 1955, 2015!

  1. Hat dies auf Sätze&Schätze rebloggt und kommentierte:
    „Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken.“
    Das schreibt der „Zauberer“ im „Zauberberg“. Und deshalb denken wir heute an seinen Geburtstag – Thomas Mann, geboren am 6. Juni 1875.
    Anlass auch, auf den Blog eines klugen Kopfes aufmerksam zu machen und seine heutigen Notizen zu einem Thomas-Mann-Jahr:

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  2. Vielen Dank für die prima Besprechung. Wirklich viel Neues scheinen die Bücher über die Autoren aber nicht zu bieten, oder? Vor allem, was „Familie Mann“ angeht. Einen erfrischend neuen Zugang sehe ich tatsächlich im „Storm-Krimi“. Ich höre am Ende ein wenig heraus, dass es wohl besser sei, sich noch einmal den Originaltexten zu widmen.

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  3. Für mich hat es in diesem Beitrag über Thomas Mann, dessen Ferienhaus wir vor nicht zu langer Zeit in Nida besucht haben und der auch viele Jahre in der Schweiz gelebt hat, viel Neues, wie z.B. „Bürger auf Abwegen“ oder „Das Jahrhundert der Manns“. Ich danke sehr für die vielseitigen Angebote.L.G. Martina

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  4. Den Bezug zu Theodor Strom finde ich interessant! Ich bin schon neugierig auf die einschlägigen Neuerscheinungen.
    Grüße aus Berlin
    Norman

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