Hermann Hesse und Ulm. Das Buch

Bis heute hat der aus dem lauschig-engen Calw stammende Dichter Hermann Hesse (1877 – 1962) ein großes Leserpublikum in Deutschland und der Welt. Er wurde und wird darüber hinaus als unangepasste Persönlichkeit, als Pazifist und Gegner des Naziregimes geschätzt. Nicht zuletzt links und rechts der Donau.

Die Stadt Ulm zählt inzwischen um die 120.000 Einwohner. Mit der bayerischen Nachbarstadt Neu-Ulm sind es nahezu 180.000. Viele Menschen lieben diese Städte, leben gerne hier, kommen als Touristen oder finden einen attraktiven Arbeitsplatz und bleiben auf Dauer.

Dass Hermann Hesse eine ganz besondere Beziehung zu Ulm (und zu Neu-Ulm) hatte, entdeckten die beiden Bibliothekare Jan Haag und Bernd Michael Köhler. Als sie der Sache intensiver nachgingen stießen sie auf bibliographische und archivarische Quellen die belegen, dass dieses Verhältnis Hesses zu Ulm, Neu-Ulm (und Blaubeuren!), zu Freunden und Bekannten in der Region, sehr viel weitreichender und vielfältiger war als es die bisher bekannten biographischen Publikationen wiedergeben. Ihre Recherche-Ergebnisse und die daraus resultierenden Erkenntnisse haben sie in einem kleinen Buch zusammengefasst.

“Seien Sie gegrüßt, liebe Freunde in Ulm. Hermann Hesse und die schwäbische Donaustadt”, stieß auf breites Interesse in Ulm und Umgebung, sowie darüber hinaus bei vielen die sich für diesen Schriftsteller und regionale Bezüge in der deutschen Literaturgeschichte interessieren. Die neuen Quellen, die die beiden Autoren entdeckten und auswerten konnten, fanden große Beachtung in der einschlägigen Hesseforschung. Der ausführliche bibliographische Anhang des Buches dokumentiert die gesamten ausgewerteten Quellen. Ein kleines, feines Weihnachtsgeschenk oder eine originelle Aufmerksamkeit zwischendurch für Literatur- oder Ulmfreunde. 

Kaufen Sie auf jeden Fall vor Ort in ihren lokalen Buchhandlungen. Bei den meisten können Sie das auch bequem online erledigen. Die entsprechenden Plattformen sind im Netz unschwer zu finden. Viele Buchhandlungen bieten daneben telefonische und E-Mail-Bestellungen an und haben Lieferdienste eingerichtet. 

Schwäbischen Geldbeuteln, die sich nur schwer öffnen, sei an dieser Stelle verraten: Das Buch ist in den Stadtbibliotheken Ulm und Neu-Ulm vorhanden und kann dort unter Beachtung der geltenden Regularien entliehen werden.

Haag, Jan; Köhler, Bernd Michael: “Seien Sie gegrüßt liebe Freunde in Ulm”. Hermann Hesse und die schwäbische Donaustadt. Klemm+Oelschläger, 2018. Gebunden, 114 Seiten, Euro 12,80 ISBN 978-3-86281-132-8

***

Eine Besprechung des Buches in der Ulmer Südwest Presse ist hier zu finden.

***

Hfier einige kurze Einblicke in den Text des Buches:

In seinem selbstironischen Reisebericht Die Nürnberger Reise berichtet Hermann Hesse von einer Lesung in Ulm im Jahr 1925. Haag/Köhler schildern wie es danach weiter ging:

“Nach der Lesung saß man bei der Familie von Lydie und Eugen Link in der Neutorstraße 7 mit dem Museumsleiter und einigen wenigen anderen beim Wein zusammen. Gut vorstellbar, dass noch ein Eugen dabei war. Eugen Zeller, der zudem ganz in der Nähe, in der Bessererstraße 9, wohnte. Eine solche vertraute und überschaubare Runde hatte Hesse frühzeitig in der für ihn typischen Weise eingefordert, wie einem Brief an Eugen Link vom 18. Oktober 1925 zu entnehmen ist: Den auftauchenden Vorschlag zu einem Bankett oder einem Zusammensitzen eines größeren Kreises nach dem Vortrag bitte ich unbedingt abzulehnen. Sonst riskieren Sie, daß Sie mich morgen in Ihrem Gastzimmer erhängt finden.

Vier Jahre später las der eigenwillige Hesse wieder in Ulm:

“Nach der Lesung 1925 im Museum mit seinem verhältnismäßig kleinen Veranstaltungsraum war der Wunsch entstanden, den Dichter erneut in Ulm zu erleben. Diesmal hatte man den deutlich größeren Saal angemietet, um den zu erwartenden Ansturm zu bewältigen. Dennoch musste erneut eine erhebliche Zahl Interessierter wieder nach Hause geschickt werden. Der übervolle Saal wurde als ein sprechender Beweis für das aufsteigende, kulturelle Interesse der Ulmer interpretiert. Auch Jacques Offenbachs Schöne Helena, die zur gleichen Zeit im städtischen Theater ihre Reize spielen ließ, konnte den Ansturm auf die Vorlesung literarischer Werke nicht mindern.”

Über Hesses eigene literarische Vorlieben ist unter anderem zu erfahren:

“Was Hermann Hesse und Eugen Zeller teilten, war ihre Leidenschaft für den Landsmann, unfreiwilligen Landpfarrer und Dichter aus Berufung, Eduard Mörike (1804 – 1875). Der Ulmer Lehrer (Zeller, J. H.) sammelte Bücher und Gegenstände aus dessen Nachlass. Hesse war sehr an diesen Devotionalien interessiert und wandte sich mit einer entsprechenden Bitte an den Freund. Ihrem Wunsche ein Mörike-Original zu besitzen, bin ich gerne zur Verfügung, war die Antwort. … Doch von den eigenen Schätzen gedachte er nichts abzugeben. Zeller vermittelte den Kontakt zu Fanny, der zweiten Tochter Mörikes, die zeitweise mit ihrem Mann in Neu-Ulm … “

Herta Müller in Tübingen

Am 17. August wird Herta Müller 70 Jahre alt. 2009 wurde ihr der Nobelpreis für Literatur verliehen. Kurz nach Bekanntgabe durch die Schwedische Akademie hatte ich Gelegenheit die Schriftstellerin bei einer Veranstaltung in Tübingen zu erleben. Über diesen Abend schrieb ich einen Beitrag für con=libri, den ich heute noch einmal präsentieren möchte.

„Wenn Wörter zusammenkommen, die sich nicht kennen, entsteht Poesie.“

Am Abend des 23. November 2009 war Herta Müller auf Einladung der Universität und der Buchhandlung Osiander in Tübingen zu Gast. Im Festsaal der Universität sprach sie mit dem Literaturwissenschaftler Jürgen Wertheimer und las anschließend aus ihrem aktuellen Buch „Atemschaukel“.

Wortbewegte, Literaturfreunde, alle Liebhaber des Gedruckten und Gebundenen wissen, welche Buchhandels- und Bibliotheksdichte – und damit welchen Buchreichtum – das schwäbische Universitätsstädtchen auf engstem Raum, in schmalen Gassen, zu bieten hat. Hier verliert sich nichts, wie etwa im großmäuligen München oder im chronisch unaufgeräumten Berlin. Hier haben Heckenhauer und Osiander, Gastl und Cotta, die traditionsreiche Universitätsbibliothek, eine Geschichte die Jahrhunderte zurückreicht. Ein steter Reigen seliger Geister wandelt zwischen Stift und Österberg, zwischen Schloss und Pressels Gartenhaus. Der Besucher, der Student, der Gast und der Gegenwarts-Literat folgt den Spuren von Hölderlin und Hegel, Mörike und Hesse, Ernst Bloch und Hans Mayer.

Herta Müller kommt gerne nach Tübingen. In keiner anderen deutschen Stadt war sie so oft. Weil die Leute hier an sie geglaubt hätten, sagt sie, und das Publikum immer so großzügig und nachsichtig gewesen wäre. 2000 und 2001 sprach sie, von Jürgen Wertheimer eingeladen, im Rahmen der Tübinger Poetik-Dozentur. Die „Atemschaukel“ ist im lokalen Buchhandel derzeit das meistverkaufte Buch.

So war es nicht überraschend, dass nach der Nobelpreisverleihung und dem folgenden Medienrummel, der Andrang zur Veranstaltung mit der Autorin die bisherigen Größenordnungen sprengte. Rasch waren die Karten für die Plätze im Festsaal der Universität ausverkauft und die Nachfrage damit keineswegs befriedigt. Es mussten digitale Geister und deren Helfer bemüht werden, um zusätzlich zum Original-Schauplatz, auch im Auditorium Maximum öffentliches Sehen und Hören per Video-Übertragung zu ermöglichen, sowie eine weltweite Weitergabe ins Netz der Netze zu speisen.

Schmal, klein, noch kleiner als nach Fernseh-Eindrücken vermutet, ganz in Schwarz gekleidet, sitzt sie Jürgen Wertheimer gegenüber. Das Gespräch wird nicht einfach. Er hat eine gewisse Scheu, seit die „alte Bekannte“ zur Nobel-Preisträgerin wurde; sie wiederum hält eigentlich nicht viel von „öden Befragungen“. Wertheimer fühlt sich also in die Pflicht zur Originalität gezwungen, was ihm letztlich allenfalls ansatzweise gelingt. Denn welche Frage ist in den letzten Wochen noch nicht gestellt worden? So wollen wir, der Fragende und alle im Saal, wissen, wie sie mit Sprache umgeht und die recht schroffe Antwort lautet: „Sprache gibt es für mich nicht; sie begleitet nur, was ich sagen möchte.“ Dann wenigsten Freude am Umgang mit Sprache. Nein. Das Suchen nach dem richtigen Ausdruck hat sie manchmal satt bis zum Überdruss.

Sie macht ihre Arbeit, die in ihren Augen eine Arbeit ist, wie die anderer Menschen auch, die versuchen ihr Tagwerk möglichst gut zu erledigen. Sie erfindet auch keine Wörter, wie ihr der Frager unterstellt. Die von diesem genannten Begriffe Herzschaufel und Meldekraut seien reale Bezeichnungen. Herzschaufel ein besonders geformtes Werkzeug zum Kohle bewegen; Meldekraut eine Pflanze, die man mit etwas botanischen Sachverstand kennen müsse. Und Atemschaukel, Herztier, Hungerengel, seien natürlich ebenfalls keine Einfälle von ihr, schließlich handelt es sich bei den Einzelteilen dieser Komposita um ganz gewöhnliche Worte des Alltags.

Dann vertieft sie das Thema doch noch. „Wenn Wörter zusammenkommen, die sich nicht kennen, entsteht Poesie.“ Poesie ist also in der Alltagssprache bereits vorhanden. Aber: „Nicht alles, was mich beeindruckt, kann ich selbst in Worten ausdrücken.“ Und sie gibt zu bedenken, dass wir nicht alle Gefühle mit Worten ausdrücken können. „Nicht für Alles gibt es Wörter.“

Herta Müller sammelt Wörter. Sie schneidet sie aus Zeitungen und Zeitschriften aus und bewahrt sie. „Ich habe zig tausende in der Schublade.“ Im „Wörterbahnhof“ warten sie darauf, dass sie abfahren dürfen. Diese ausgeschnittenen Wörter gehen von der Hand in den Kopf; jene beim Schreiben vom Kopf in die Hand. Die gesammelten Wörter stammen nicht aus literarischen Werken, sondern aus profaner, tagesaktueller Medien-Produktion. Herta Müller fügt sie zu Collagen, neuer Bedeutung, neuen Inhalten zusammen.

Sie berichtet von der Vorgeschichte des Buches „Atemschaukel“: „Ohne Oskar Pastiors Details aus seinem Lageralltag hätte ich es nicht gekonnt“, erklärte Herta Müller über das Zustandekommen dieses intensiven Sprachkunstwerks, dessen Handlung in einem sowjetischen Arbeitslager für Rumäniendeutsche nach dem Zweiten Weltkrieg angesiedelt ist. Sie wollten das Buch eigentlich gemeinsam schreiben.

Der plötzliche Tod Pastiors im Herbst 2006 war ein tiefer Einschnitt. Herta Müller musste mit den Arbeiten pausieren, dann allein weitermachen. „Er hat sich so gewünscht, dass daraus ein Buch wird.“

Und dann liest sie in Tübingen aus diesem Buch. Im Saal wird es sehr still. Anspannung im Publikum. Sammlung und Aufmerksamkeit. Die Dichterin liest mit tiefer klarer Stimme. Werk und Sprache werden stärker wahrgenommen, wenn die Autorin selbst vorträgt. Rhythmus und Melodie entstehen, Thema und Variationen, das Rondo der Worte und Passagen klingt. Sie liest mehrere Kapitel und den Schluss. Dann kräftiger und spürbar herzlicher Applaus. Das ist Bewunderung und eine Form von respektvoller Zuneigung.

Draußen in der Nacht ist es herbstlich. Es regnet und ein kräftiger Wind reisst letzte Blätter von alten Bäumen. Das Dunkel in Tübingen, voll seliger Geister.

(Herta Müller, 2016, auf dem Literaturfest in München.)

Sommerorte. Leseplätze.

Platz zum Lesen und Schmökern findet sich in diesen meist wonnig warmen Wochen und Monaten vielerorts unter freiem, blauen Sonnenhimmel. Einige besonders anziehende Beispiele begleiten durch die Sommerpause auf con=libri.

***

Der Duft der Rose nimmt dich / in einen süßen Bann / rührt Dich liebkosend leise / wie eine Liederweise / mit Ahnung voller Schönheit an (Hermann Hesse: Ein Rosengarten für Dich)

DSCN0933

Das kann schon genügen: Der kleine Park, inmitten der Stadt, der alles bietet, was des urbanen Lesers Herz sich wünscht: duftende Blumenköniginnen, sonnige und schattige Plätze, geringe Passanten-Frequenz und leidlich kommode Niederlassungs-Möglichkeiten. Schnell und bequem zu erreichen, bietet er Entspannung, Wohlempfinden und Leseplatz an vielen Tagen. Ideal für Lyrik-Leser und Gedanken-Schwadroneure. Reclams broschierte Sammlung „Sommergedichte“ ist in jeder Hinsicht die passende, unschwere Last.

***

O weilten wir in jenen Lüften, / Wo keine Schranke wehrte, / Dass ich mit deinen Zauberdüften / Die Ewigkeiten nährte! – (Nikolaus Lenau: An meine Rose)

DSCN0939

Im Kuckucksheim, auf Wolke Sieben, im Himmelbett. An unerwarteten Orten findet man zur eigenen Überraschung die sommerliche Muse zum Lesen und Schreiben, Wachen und Schlafen, Denken und Träumen. Für Stunden dem Alltag verlorengehen mit sommerleichten Liebes-, außer- oder überirdischer Phantasiegeschichten.

***

Anmutig Tal! du immergrüner Hain! /Mein Herz begrüßt euch wieder auf das beste; / Entfaltet mir die schwerbehangnen Äste, / Nehmt freundlich mich in eure Schatten ein, / Erquickt von euren Höh’n, am Tag der Lieb und Lust, / Mit frischer Luft und Balsam meine Brust! (Johann Wolfgang Goethe: Ilmenau)

YAKUMO DIGITAL CAMERA

So beginnt des großen Meisters Lobgesang auf seine zweite Heimat Ilmenau, dem Städtchen am Rande des Thüringer Waldes, heute nur eine Fahrstunde von Weimar entfernt. Neben dem Bronze-Goethe am oberen Ende des Marktplatzes ist immer wieder einmal Platz für seine Bewunderer und Leser. Wer mehr von „Lieb und Lust“ erfahren will, greife zu den Elegien. Wer sich in Gedanken auf einen Spaziergang durch die klassische Vergangenheit machen möchte, der nehme gerade hier ein Buch von Sigrid Damm zur Hand. „Christiane und Goethe“ und „Goethes letzte Reise“ sind besonders geeignet.

 ***

An einem Sommermorgen  / Da nimm den Wanderstab,  / Es fallen deine Sorgen  / Wie Nebel von dir ab. (Theodor Fontane: Guter Rat)

YAKUMO DIGITAL CAMERA

Wer wandert der rastet. Im Gebirg‘. In Hoch- oder Seitental. Auf Alm oder Alpe. Erschöpft, ermüdet, beglückt. Vielleicht bleibt das mitgebrachte Buch im Rucksack. Himmel, Natur, Aussicht sind Eindrücke genug. Wer dennoch, möglicherweise etwas zerstreut, in, sagen wir: Manns Zauberberg blättert, der erfährt dass des Berges Höh’n auch ihre Tücken haben und dass allen Gipfelstürmen der Abstieg in die Mühen der Ebene folgt.

***

Schneien die Samen aus Seide, / verflackert der Ampferbrand, – / daß sich der Taumel bescheide, / im Glase rinnt wieder der Sand. (Maria Müller-Gögler: Wiesenblüte)

 

DSCN0949

Der Weg ist das Ziel. Auch der Rückweg. Ist die Mitfahrgelegenheit verpasst oder noch in weiter Ferne, lohnt es, sich entspannt in Geduld zu üben. Eine Situation, in der man vielleicht grübelnd wissen möchte, wohin die eigene Lebensreise noch führen wird. Willkommene Gelegenheit Fragen zu stellen oder zuzulassen und möglicherweise überraschenden Antworten zu begegnen. Philosophisches müsste also zur Hand sein. Das lebenskluge, äußerst hilfreiche „Gelassenheit“ des Wilhelm Schmid oder das mutige „Warum es die Welt nicht gibt“ des jungen Denkers Markus Gabriel, der mit frischen Interpretationen herausfordert.

 

Maria Müller-Gögler

Erinnerung an eine oberschwäbische Schriftstellerin

Drei Frauen mit dem für die Region nicht untypischen Vornamen Maria sind im 20. Jahrhundert in der literarischen Landschaft Oberschwaben auf sehr unterschiedliche Weise hervorgetreten. Die stille, religiös-mysthisch dichtende Maria Menz fand mit ihren – meist in Mundart verfassten – Gedichten, naturgemäß nur ein begrenztes Publikum; ihr gedrucktes Werk ist inzwischen schwer zu bekommen. Im Heimatort Oberessendorf erinnert nur noch der Grabstein an sie. Maria Beig schrieb spröde eindrucksvolle Prosa. Mit „Rabenkrächzen“ und ihrem „Lebenslauf“ erreichte sie ein breiteres Publikum und fand einige Beachtung bei den Kritikern namhafter Medien.

Die dritte Maria – und von der soll an dieser Stelle etwas ausführlicher die Rede sein – hieß Müller-Gögler und war die vielseitigste dieser drei Schriftstellerinnen.

Das verlegerische Gesellenstück, das der spätere Suhrkamp-Chef Siegfried Unseld abzuliefern hatte, als er im Ulmer Aegis-Verlag unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg sein verlegerisches Handwerk erlernte, war ein Bändchen mit dem Titel „Maria Müller-Gögler. Gedichte“. Es erschien 1947 und das darin enthaltene Gedicht „Die Geige“ wählte Hermann Hesse als eines der für ihn zehn schönsten für die Anthologie „Geliebte Verse“ aus.

Dennoch blieb der 1900 im damaligen Oberamts-Städtchen Leutkirch geborenen und ab dem fünften Lebensjahr in Weingarten aufgewachsenen Schriftstellerin eine breitere Anerkennung zunächst verwehrt. Den führenden Verlagen der Republik war die provinzielle Herkunft der Autorin, den Verlegern des evangelisch-württembergischen Kernlandes ihre katholische Konfession, suspekt. So blieb es der Journalistin Jella Lepman in den 20er und 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts vorbehalten, die ersten beiden Romane von Maria Müller-Gögler im liberalen Stuttgarter Tagblatt erscheinen zu lassen. Nur schwer fanden sich danach kleinere Verlage die bereit waren „Die Magd Juditha“ und „Beatrix von Schwaben“ auch als Buch herauszugeben. Nach dem großen Krieg und dem Ende der Naziherrschaft erhielt das Verlangen der Leser nach der Literatur aus der Welt, von der man zwölf Jahre abgeschnitten war, Vorrang und die Dichterin aus dem Oberland wurde allenfalls am Rande wahrgenommen. Für Maria Müller-Gögler aber war Schreiben von Kindheit an zur Existenzform geworden.

Lange erschien ihr Werk sehr verstreut und sporadisch. In den siebziger Jahren hatte sich schließlich Martin Walser für die Kollegin eingesetzt. Auch ihr langjähriger Wohnort Weingarten entsann sich der Mitbürgerin. 1978 erhielt sie den Kunstpreis der Städte Ravensburg und Weingarten, zwei Jahre später das Bundesverdienstkreuz. Eine bescheidene späte Entdeckung und Anerkennung setzte damit ein. Das Literaturarchiv Oberschwaben ermöglichte eine neunbändige Werkausgabe im Thorbecke-Verlag; inzwischen sind jedoch alle Bücher nur noch antiquarisch oder in gut sortierten Bibliotheken zu bekommen.

Viele Anregungen für ihre Werke schöpfte Müller-Gögler aus der oberschwäbischen, ins Allgäu und den Bodensee übergehenden Landschaft, ihrer Natur, den hier lebenden Menschen, der Geschichte der Region. Sie entwickelte dabei bald einen eigenständigen, realistischen Erzählstil, dessen Vorbilder sie in romanischen und östlichen Literaturen fand. Der russische Atheist Paustowski zählte ebenso wie Bulgakow zu ihren Lieblingsautoren. Eine tiefe Zuneigung zu Frankreich, seiner Literatur und Musik, hat in ihren Büchern Spuren hinterlassen. Mit ihrem katholischen Glauben, dem sie ein Leben lang unbeirrt treu blieb, tritt sie niemals engstirnig oder dogmatisch auf; musste sie sich doch selbst von manchen Fesseln, in die sie durch religiös-konservative Erziehung und – damit eng verbunden – , die ihr zugedachte Rolle als Frau, gezwängt worden war, mühsam befreien. So ist das Religiöse ein Stück selbstverständlicher Lebenskultur, unabdingbar verbunden mit dem Alltag, den Festen, den Jahresläufen, den Ritualen der Menschen jener Gegend aus der die Dichterin kam und über die und für die sie schrieb.

Maria Müller-Göglers Roman „Täubchen, ihr Täubchen…“ durfte auf Anordnung des damaligen Oberbürgermeisters von der Stadtbücherei Ravensburg lange Zeit nicht ausgeliehen werden. Er handelt von den erotischen Wirrungen eines Junglehrers und setzt sich kritisch-ironisch mit dem ländlichen Schulwesen im Württemberg der Fünfziger-Jahre des 20. Jahrhunderts auseinander. Das Buch erschien erstmals 1963 und erzeugt auch heute noch beim Leser eine nachhaltige Betroffenheit. Es ist im Zusammenhang mit den aktuellen Missbrauchs-Debatten von beklemmender Aktualität.

In dem historischen Roman „Beatrix von Schwaben“ überträgt die Autorin die politischen Ereignisse im Deutschland der beginnenden Nazi-Zeit auf die Zeit der staufischen Ritter. Ebenso wie im Roman „Die Truchsessin“, der während der Bauernkriege spielt, fesselt den Leser die Spannung der Handlung, halten sich Erfindung und Präsentation historischer Fakten gekonnt die Waage. Beide Bücher schildern Frauenfiguren, die durch eine für ihre Zeit ungewöhnliche Eigenständigkeit in Denken und Handeln hervortreten und man darf getrost unterstellen, dass diese Protagonistinnen Persönlichkeitselemente der Autorin enthalten. Sie stehen den kriegerischen Welteroberungsplänen und Unterdrückungsfeldzügen ihrer männlichen Umwelt ablehnend gegenüber. Die Truchsessin, keine geringere als die Gattin des sogenannten Bauernjörg, drückt es im Roman so aus: „Ich habe mich immer schon gewundert, wie sich die Männer ein Leben lang mit Kriegen und Händeln herumschlagen mögen … Wir Frauen sind die Zuschauer bei den gefährlichen Spielen der Männer. Vielleicht wäre es gut darüber zu lächeln. Aber sie sorgen dafür, dass wir häufiger darüber weinen müssen.“

Die Bücher Maria Müller-Göglers sind auch deshalb und immer noch  interessant, weil die Lektüre farbigen und kenntnisreichen zeitgeschichtlichen Hintergrund und intensive, sehr gelungene Frauendarstellungen bietet. Martin Walser schrieb: „Ich habe beim Lesen dieser Autorin des öfteren verwundert den Kopf geschüttelt, weil das, was in unseren Jahren fast das einzige Entwicklungsthema geworden ist, eben die Menschwerdung der Frau, im Lebenswerk von Maria Müller-Gögler seit Jahrzehnten in jeder Tonart angeschlagen worden ist: von ätzend sarkastisch bis weltüberwinderisch-ergeben“.

In ihren persönlichen Erinnerungen („Bevor die Stürme kamen“, „Hinter blinden Fenstern“, „Das arme Fräulein“) schildert die Tochter des Finanzbeamten Adolf Gögler die ersten 25 Jahre ihres Lebens und damit des 20. Jahrhunderts. Die junge Schulmeisterin und spätere Gymnasial-Lehrerin schreibt hier fesselnde Lokal- und Regionalgeschichte, lange bevor diese Themen in Volkshochschul-Programme Einzug hielten. Sie nimmt den Leser mit in die kleinbürgerliche Welt vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg, in die abgeschlossene Sphäre eines klösterlichen Erziehungsinstituts und schließlich, als gerade erst neuzehnjährige Lehrerin, auf eine Odyssee durch die Dorfschulen.

Das oberschwäbische Weingarten im Jahr 1917

Sie verlies den im ländlich konservativen Oberschwaben für junge Frauen vorgesehen Weg, brach aus der vorbestimmenten Laufbahn aus, studierte in München und Tübingen Germanistik, Philosophie, Pädagogik und promovierte 1930 in Tübingen mit einer Arbeit über „Die pädagogischen Anschauungen der Marie von Ebner-Eschenbach„, die 1931 bei Vieweg in Buchform erschien. Nach dem Studium heiratete Maria Gögler ihren Berufskollegen Paul Müller; der gemeinsame Sohn Paul wurde 1931, die Tochter Gisela 1932 geboren. Über die Berufsstationen Schwäbisch Gmünd, Laupheim und Crailsheim, kam sie 1938 nach Ulm, wo sie am Kepler-Gymnasium unterrichtete. Nachdem die Stadt im Dezember 1944 durch Bomben fast völlig zerstört worden war, zog die Familie nach Weingarten; dort lebte die Dichterin bis zu ihrem Tod im Jahr 1987.

Maria Müller-Gögler war eine sehr musikalische Frau, spielte ausgezeichnet Geige und Klavier, zählte zu den regelmäßigen Besucherinnen in Bayreuth und Salzburg. Mit dem Thema Musik hat sie sich auch literarisch beschäftigt, unter anderem in Biographien über den aus Ravensburg stammenden Sänger Karl Erb und über den Orgelbaumeister Joseph Gabler, dessen Groß-Instrumente noch heute oberschwäbische Kirchenräume mit himmlischen Klängen füllen.

In ihren zahlreichen Gedichten fand die Dichterin harmonische Melodien, die lange nachklingen und mit denen sie nicht nur ihre Liebe zur oberschwäbischen Landschaft und Kultur immer wieder neu interpretierte. Sie schreibe „Lyrik, die sich wie eine glänzende Kuppel über ihr Schaffen wölbt,“ schwärmte Siegfried Unseld zum fünfzigsten Geburtstag der Autorin. Ihr ganzes langes Leben und ihr umfangreiches Werk hatte sie schon mit einem ihrer frühen Gedichte unter ein passendes Leitwort gestellt:

„Bewahre mich vor leerem Wort, / vor Glanz, der nicht von innen glüht, / vor Blüte, die papieren blüht, / vor Wachstum, dem das Herzblatt dorrt.“

Jetzt erst Brecht.

Augsburg. Vor 125 Jahren wurde Bert Brecht geboren.

Am 10. Februar 1898 kam Eugen Berthold Friedrich Brecht als erstes Kind seiner Eltern Berthold Friedrich Brecht und Wilhelmine Friederike Sophie Brecht, geb. Brezing, in Augsburg zur Welt. Die Familie lebte zu der Zeit in einer schmalen Gasse der Altstadt. Das Haus lag an einem der Lechkanäle, die die Stadt durchziehen.

Aigihn! werden ihn die Eltern im bayerisch-schwäbischen Dialekt gerufen haben. Er wird sich später Bert nennen. Die Namensbezeichnung Bert Brecht ist Teil der Selbststilisierung des angehenden Dichters. Schon früh gehörten Lederjacken und -mäntel zum Image. Zahlreiche Fotos zeigen einen jungen Mann in Lederkleidung mit Zigarrenstumpen im Mund.

Frontseite des Bildbandes Bertold Brecht beim Photographen. Herausgegeben und mit einem Essay von Michael Koetzle. Der Band enthält Bilder, die im Atelier des Augsburger Photographen Konrad Reßler entstanden.

Seine Herkunft hat er im gedichteten Mythos neu gedeutet.

Ich, Bertold Brecht, bin aus schwarzen Wäldern. / Meine Mutter trug mich in die Städte hinein / Als ich in ihrem Leibe lag. Und die Kälte der Wälder / Wird in mir bis zu meinem Absterben sein.

(Nach GBA 11, 119) (*)

Mit 20 Jahren ging Brecht nach München. Auf Wunsch der Eltern zum Studium. Doch schon bald verkehrte er in Theaterkreisen, wurde – als wäre er erwartet worden – aufgenommen und alsbald vielfältig engagiert. Gedichte, Balladen, Bänkelgesänge entstanden, das erste große Stück hieß zunächst Spartakus, später Trommeln in der Nacht. Er lernte Frank Wedekind kennen, die lebenslange Freundschaft mit Lion Feuchtwanger entstand.

Nächste Station war Berlin. Dort lernte er die Intendantin und Schauspielerin Helene Weigel kennen. Sie wurde seine Lebensfrau. Immer gab es auch andere Frauen – im Bett und in der Schreibwerkstatt. Die Dreigroschenoper wurde zum großen Erfolg. Als die Nazis aufmarschierten, verlor er die Orte, an die er zu gehören glaubte. Berlin, das Theater, viele seiner Gefährten und Gefährtinnen, den deutschen Sprachraum. Über zahlreiche Exilstationen landet er schließlich, wie viele andere deutsche Dichter, Denker und Wissenschaftler, in den Vereinigten Staaten.

Zurück in Deutschland entschied sich Bert Brecht für Ost-Berlin und die DDR als neue Wirkungsstätte. Die westliche Szene nahm übel, in Augsburg war er lange kein Thema. Sein Tod im August 1956 kam unerwartet. Seine westdeutsche Geburtsstadt tut sich bis in die Gegenwart schwer, angemessene Formen des Erinnerns, Würdigens und Gedenkens zu finden. Das Programm zum 125. Geburtstag fällt deshalb einerseits umfangreich und vielfältig aus, wirkt jedoch gleichzeitig von Unsicherheit und Halbherzigkeit geprägt.

Das Brecht-Festival findet seit 2010 statt. In diesem Jahr beginnt es exakt an Brechts Geburtstag und dauert zehn Tage. Es steht unter dem Motto Brecht’s People. Die Auftaktveranstaltung im Goldenen Saal, der kommunalen Prachtstube, trägt den wundersamen Titel Festival-Kickoff. Geladen ist die Augsburger Stadtgesellschaft in ihrer ganzen Breite.

Von dort geht es zur Parade, die auf dem Rathausplatz startet und in den Stadtteil Lechhausen führt, dem späteren Wohnort der Familie Brecht. Am Abend das Festbankett mit Ministern und Ministerinnen, Oberbürgermeisterin und Theaterintendant. Dazu wird allerhand Programm, sowie ein Geburtstagsessen, samt -torte geboten, zum bürgernahen Pay as you can (But pay!) von Euro 15 bis Euro 50.

Weitere Höhepunkte des Festivals sind ein Gastspiel des Berliner Ensemble, jene einst von Brecht begründete Kompanie; eine technofuturistische Séance des Staatstheater Augsburg; eine Wrestlingshow mit dem Titel Kampf um Augsburg. Natürlich darf in dieser unserer so besonderen Zeit ein ukrainisches Element nicht fehlen: Dakh Daughters entfachen Ukrainian Fire – ein szenisches Konzert.

Das vollständige Programm gibt es in dominantem Sattgelb gedruckt und im Netz. Die grafische Gestaltung wirkt bemüht, seine Übersichtlichkeit ist begrenzt.

125. Geburtstag von BB. Natürlich läuft da reichlich mehr als das ohnehin vorgesehene Programm. Beispielhaft hier einige Brenn- und Siedepunkte der Feierlichkeiten.

Das Brechthaus lädt zu den üblichen Öffnungszeiten zur Besichtigung. Im zweiten Stock des Museums wurde eine Wohnung eingerichtet, die als Wohn- und Arbeitsplatz auf Zeit für internationale Künstlerinnen und Künstler dient. Das Haus wartet derweil auf die dringende Generalsanierung, der Museumsbereich auf Neuorientierung

Alle drei Jahre verleiht die Stadt Augsburg den Brechtpreis, der mit Euro 15.000 dotiert ist und den bisher u. a. Franz Xaver Kroetz, Christoph Ransmayr und Sybille Berg erhielten. Die turnusgemäß 2022 vorgesehene Verleihung wurde in das Jubeljahr verlegt. Sie findet pikanterweise am in die Geschichtsbücher eingebrannten 20. April statt. An wen der aktuelle Preis verliehen wird, konnte ich bis zur Abfassung dieser Zeilen nicht erfahren.

Wenn es um Brecht in Augsburg geht, spielt die Buchhandlung am Obstmarkt eine besondere Rolle. Geführt vom rührigen Buchhändler Kurt Idrizovic ist sie gut sortierte Buchhandlung, Büchergilde-Depot und Brechtshop in einem. Wann immer es in Augsburg um Brecht geht, stößt man auf Kurt Idrizovic als Ideengeber, Veranstalter und Antreiber.

Wir liegen im Laubwald, essen dort Mohnnudeln zum Tee … Nur in der Buchhandlung am Obstmarkt gibt es zum Jubiläum eine kleine Köstlichkeit: Den Band Komm und setz dich lieber Gast. Am Tisch mit Bertold Brecht und Helene Weigel. Ein Bildband von Martha Schad mit vielen Fotos, Original-Rezepten und Illustrationen – von der Autorin signiert.

Beenden möchte ich diesen kleinen, unvollständigen Ausblick auf die Brecht-Feiern in Augsburg mit dem Handtuch zum Handbuch (*). Während letzteres den Brechtfreunden schon länger mit profundem Wissen zu Dichter, Werk und Umfeld zur Hand geht, ist das Trocknungstextil brandneu im Angebot.

Augsburg war über Generationen hinweg von Betrieben der Papier- und Textilindustrie geprägt. Während Rudimente der Papiererzeugung noch durch einen finnischen Konzern in der Stadt vertreten sind, ist die Textilproduktion nicht mehr vorhanden. Das Staatliche Textil- und Industriemuseum Augsburg – kurz tim – pflegt die Erinnerung an diese industrielle Epoche. Dort entstand die Idee zu einem Handtuch mit des Dichters Konterfei, das derzeit in der Museumsweberei entsteht. Pünktlich zum 10. Februar soll es erhältlich sein.

* * *

(*) Bertold Brecht: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. 30 Bände (in 32 Teilbänden) und ein Registerband (Leinen)

(*) Knopf, Jan (Hrsg.): Brecht-Handbuch : in fünf Bänden. – Stuttgart, 2001 ff.

Ebenfalls gedruckt, geeignet als Einführung und erster Überblick: Knopf, Jan: Bertold Brecht. – Stuttgart, 2000 (Universalbibliothek; 17619)

Für das vertiefende Interesse gibt es umfangreiche Biographien von Jan Knopf und Stephen Parker.

Im Netz findet man:

augsburg-tourismus.de

brechtfestival.de

augsburg.de/brechtpreis

staatstheater-augsburg.de

buchhandlung-am-obstmarkt.de

timbayern.de

Hölderlin in Hauptwil

Jetzt aber, drin im Gebirg

Die Schweizer Gemeinde Hauptwil liegt im Kanton Thurgau zwischen Bodensee und Säntis-Massiv, westlich von Sankt Gallen. Den Mittelpunkt bildet ein kleiner Weiher, an dessen Ufer sich eine Badeanstalt befindet, die an heißen Sommertagen von den wenigen Kindern und Jugendlichen im Ort genutzt wird. Es ist eine ruhige, eher unscheinbare Siedlung. Für heutige Reisende gibt es eigentlich wenig Grund hier länger zu verweilen. Doch für Literaturfreunde lohnt sich ein Besuch, vielleicht als kleiner Abstecher während eines Urlaubs oder Wandertags im Appenzell oder dem nahen Toggenburg.

Im Januar 1801 erreichte der Dichter und Gelehrte Friedrich Hölderlin von Stuttgart kommend, nach langer Reise durch das tief verschneite Oberschwaben, über den westlichen Bodensee und schließlich von Konstanz her, die Ortschaft Hauptwil. Den größten Teil des Weges hatte er zu Fuß zurückgelegt. Er trat eine Stelle als Hofmeister bei der Familie Gonzenbach an; seine Aufgabe bestand darin, die dreizehn- und vierzehnjährigen Töchter Augusta Dorothea und Barbara Julia zu unterrichten.

IMG00123

In Hauptwil wurde er freundlich aufgenommen, wohnte in einem Zimmer zum Garten. Er fand sich rasch zurecht und war nicht unglücklich, wie er der Mutter im Brief mitteilte: Ich kann in der Tat nicht anders sagen, nach der Überzeugung, die ich mir seit 10 Tagen geben konnte, als dass die zahlreiche Familie, in der ich lebe, aus solchen Menschen besteht, unter denen man mit zufriedener Seele leben muß, so viel unschuldiger Frohsinn ist unter den jüngeren, und so ein gesunder Verstand, und edle Gutheit unter den Älteren.

Das Gehalt betrug 300 Gulden im Jahr, bei freier Kost und Logis. Die Familie Gonzenbach beherrschte den kleinen Ort. Das obere Schloss bewohnte eine ältere Linie; das untere Schloss, das sogenannte Kaufhaus, heute als Wohnhaus genutzt, die Familie des Kaufherrn Anton Gonzenbach. Bei diesem Aufenthalt in der Schweiz lernte Hölderlin die Landschaft des Alpenraums kennen und war von ihr so fasziniert, dass sich das später in hymnischer Dichtung niederschlug. Allerdings dauerte der Thurgauer Aufenthalt nicht lange. Bereits Mitte April trennte man sich wieder. In bestem Einvernehmen und voller Respekt – wie das Haus Gonzenbach versicherte.

IMG00133

Über den raschen Abschied aus Hauptwil gibt es verschiedene Spekulationen und Interpretationen. Es wurden amouröse Verwicklungen unterstellt oder politische Differenzen mit dem Dienstherrn vermutet. Doch am wahrscheinlichsten ist, dass sich Anzeichen geistiger Erkrankung bei Hölderlin bemerkbar machten.

Bei einem Spaziergang durch das gegenwärtige Hauptwil kann man feststellen, dass die Gemeinde pfleglich mit der Erinnerung an den Hölderlin-Aufenthalt umgeht. Am ehemaligen Wohnhaus der Familie Gonzenbach ist eine Erinnerungstafel angebracht. Es gibt einen Hölderlin-Weg. Und im Oberen Schloss, dessen Seitenflügel heute ein Altersheim beherbergt, wurde ein Erdgeschoss-Raum zu einem kleinen Hölderlin-Museum umgestaltet. Es ist eine schlichte, sachlich und gleichzeitig liebevoll gestaltete Einrichtung. An den Wänden erzählen einheitliche Tafeln von dem Ereignis und ein wenig über das Drumherum. Die Tür steht meist offen. Der Raum ist den ganzen Tag über frei zugänglich.

IMG00136

Von Hauptwil gelangt man in einer halben Stunde Autofahrt nach Sankt Gallen und damit in das quirlige, umtriebige City-Leben einer großen Kleinstadt. In der Mitte der Stadt liegt der Klosterkomplex. Dort lebte bis im Jahre 912 der Mönch Notker, auch genannt der Stammler, einer der ersten großen Dichter und Gelehrten des deutschen Sprachraums. In der Sankt Galler Stiftbibliothek werden über 900 wertvolle Handschriften verwahrt.

“Es begab sich aber zu der Zeit …”

Gedanken über das Erzählen aus naheliegendem Anlass.

Nun feiern wir also wieder jene kleine Geschichte, die seit 2000 Jahren große Teile der Menschheit weniger in Kirchen denn in einen wochenlangen Konsumrausch treibt. Bewohner des christlichen Erdkreises stürmen die Handelshäuser, erwerben gefällte Nadelbäume, installieren Engels- und Sternenschmuck, singen Choräle und sentimentale Weisen. Eine uralte Geschichte löst dies aus. Sie gehört zu den ältesten, die sich Menschen immer und immer wieder erzählen. Immer dann wenn das Jahr auf dem Kalender nur noch wenige Tage hat. 

Da es nun schon viele unternommen haben, einen Bericht von den Ereignissen zu verfassen … (Evangelium nach Lukas, Vorrede)

Es waren vier Chronisten, inzwischen als Evangelisten bekannt, die mehrere Generationen nach dem eigentlichen Geschehen, nachdem die Geschichte bereits in vielen Variationen von Mund zu Mund gegangen war, erstmals schriftliche Aufzeichnungen anfertigten, die uns als Überlieferungen erhalten blieben. In vier durchaus von einander abweichenden Versionen.

Dies ist ihr Kern: Eine hochschwangere, sehr junge Frau und ihr Partner, Zimmermann von Beruf, folgten im römisch besetzten Palästina einer Aufforderung des Kaisers Augustus, sich zwecks Volkszählung in ihren Heimatort Bethlehem zu begeben. Als das Paar dort eintraf, musste es feststellen, dass alle Herbergen bereits belegt waren. In einem schlichten Stall wurde ihnen schließlich Obdach gewährt. Die Verhältnisse waren einfach: Futterkrippe für Tiere, Stroh, ein Ochse, ein Esel; später kamen Hirten vom Felde hinzu. Ein gesunder Junge kam zur Welt; die Futterkrippe ward zu seiner ersten Wiege.

Der Knabe wuchs zu einem recht eigenwilligen (kritischen) jungen Mann heran, der seine jüdischen Glaubensbrüder und -schwestern mit Prophezeiungen, Weisheiten und Reformvorschlägen unterhielt, dessen systemkritische Haltung jedoch von den Obrigkeiten mit Skepsis betrachtet wurde. Er verscherzte es sich mit der jüdischen Geistlichkeit gleichermaßen wie mit den Organen der Besatzungsmacht. Letztere verurteilte den aufrührerischen Geist zum Tode am Kreuz. 

Das Kreuz und der Gekreuzigte wurden alsbald zu den Hauptsymbolen seiner sich rasch vergrößernden Anhängerschaft. Aus dem Kind im Stall war ein Religionsgründer geworden, der einige bedenkenswerte Verhaltensregeln hinterließ. Und hätten seine Nachfolger durch die unruhigen Jahrhunderte hinweg seine Maximen etwas ernster genommen, wäre die heutige Welt möglicherweise ein kleines Stück friedfertiger und unversehrter.

Es gibt viele solcher uralter Erzählungen, die Zeiten, Kriege und Kulturen überlebt haben und heute immer noch in aller Munde sind, die niedergeschrieben werden, in immer neuen Varianten, die als Bücher gedruckt erscheinen, in Theatern aufgeführt oder verfilmt werden. Geschichten aus tausendundeiner Nacht, von den Irrfahrten eines Odysseus, den Abenteuern des unbeholfenen Don Quijote, von Eulenspiegeleien, Geschichten über Wundertaten und Utopien. Unsterbliche Erzählstoffe, inzwischen gerne als Narrative bezeichnet. Bis heute immer wieder hervorgeholt, dabei verändert, ausgeschmückt oder übersteigert.

Alte Menschen erzählen gerne vom eigenen Leben, von Vergangenheiten, die sie für wert halten dass Nachfolgende davon erfahren, von Erlebnissen, Schrecken, Tiefpunkten, die sie dauerhaft belasten und von den schönen Höhepunkten eines langen Lebens, die unvergessen geblieben sind. Sie sprechen über Krieg und Vertreibung, Not und Krankheit, von Geburten und Todesfällen, kleinen Freuden und großen Enttäuschungen. Ihr Erzählen hat oft therapeutischen Charakter oder die Form einer Beichte.

Kinder möchten erzählt bekommen. Sie lieben Geschichten, die man ihnen vorliest oder aus dem Stegreif erzählt. Da darf es einfallsreich bis absurd zugehen. Unheimlich oder lustig. Über Außerirdische und Aliens, Prinzen und Prinzessinnen, sprechende Tiere, Zeitreisende, Gestalten aus der Vergangenheit wie Piraten oder Höhlenmenschen. Grenzen setzen nur die Phantasie der Erzähler und Erzählerinnen, der Autorinnen und Autoren. Kinder fordern heraus, indem sie mit ihrem Denken scheinbar Unveränderbares in Frage stellen. Durch Konventionen beschränkte Unsagbarkeiten einfach aussprechen.

Eigentlich gibt es keinen Menschen, der nichts zu erzählen hätte. Doch nicht jeder hat eine Sprache dafür zur Verfügung. Die einen können nicht sprechen, nicht frei reden, nicht erzählen – andere können nicht zuhören. Nach den Kinderjahren werden harmonische Momente zwischen Sender und Empfänger seltener. Das Erzählen, die Gespräche werden immer mehr, immer häufiger von Dogmen beherrscht, von stur verteidigten Standpunkten. Andere Werdegänge, Prägungen, Bildungswege erschweren das gegenseitige Verstehen. 

Wer nicht (mehr) erzählen, zuhören, lesen kann, flüchtet gerne in Alibitätigkeiten, rechtfertigt nur allzu gern allerhand Geschäftigkeit und schützt Zeitmangel vor. Gesellschaftlich akzeptiert wird vorrangig der Nachweis unmittelbarer Nützlichkeit oder Erwerbskraft.

Bücher, literarische ebenso wie gute Sachbücher, sind nichts anderes als konserviertes Erzählen. Nicht zufällig ist autofiktionales Schreiben fester Bestandteil des literarischen Kanons. Eine betagte Vertreterin dieses Genres wurde in diesem Jahr mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Wem deren Bücher möglicherweise zu dünn geraten sind, der greife zu einem Ove Knausgaard, einem Hanns-Josef Ortheil, zu Ulla Hahn, Tove Ditlevsen, Cathérine Millet, Gerhard Henschel und Hermann Lenz.

Weihnachten ist eine Zeit des Erzählens. Jene uralte Geschichte, in Kirchen vorgetragen. Familiäre Stoffe und Anekdoten, die an Festschmaustafeln die Runde machen. Jüngst Geschehenes, frisch aufbereitet: Skandale, Ärgernisse, Erstaunliches, neu Entdecktes.

Erzählen ist fast immer erinnern. An Gelingen und Mißlingen, an Vorfahren und Gefährten, Kinder und Enkel, Reisen und Naturgewalten, Begegnungen und Ängste. Die Tage an und um Weihnachten gehören zu den wenigen verbliebenen Anlässen für Generationen übergreifendes Zusammensein. Für mündlichen Austausch, Erzählen und Zuhören. Es ist jene Zeit, in der die Stuben voller Narrative sind.

Acht EnergiesparTipps für Menschen die lesen

Der Blackout lauert, die Gasspeicher laufen leer, kalte und dunkle Zeiten stehen uns bevor. Dem können wir mit vereinten Kräften entgegenwirken. Energiesparen auf breiter Front ist angesagt. Wir Buchmenschen sind natürlich dabei. con=libri macht nachhaltige Vorschläge.

E i n s

Lesen Sie bei Tageslicht. Wenn es im Stübchen dämmert, setzen Sie die Lektüre an einem hellen Fleck im Freien fort.

Z w e i

Machen Sie bei nahender Nacht eine Fahrt gen Westen. (Nicht geeignet für automobile Fahrzeuglenker.) Wir empfehlen die Nutzung der Bahn, es gibt ausgezeichnete Ost-West-Verbindungen. Zur notwendigen Erholung nutzen Sie die Rückfahrt.

D r e i

Lesen Sie keine Bücher, die sehr spannend oder fesselnd sind. Wenn Sie nicht mehr aufhören können zu lesen, erliegen Sie sehr leicht der Versuchung elektrische Beleuchtung einzuschalten.

V i e r

Die Gewohnheit bei der Lektüre Heißgetränke zu genießen ist nicht mehr zeitgemäß. Ihre Erzeugung verschlingt jede Menge Energie. Greifen Sie zum coolen Drink oder einem kellerkühlen Mineralwasser.

Hat es raus: So geht Ressourcen schonendes Lesen und Schreiben.

F ü n f

Halten Sie sich möglichst oft zum Lesen in öffentlichen Einrichtungen wie Bibliotheken, Archiven, Volkshochschulen, Kaufhaus-Cafeterien, Wartezimmern oder -sälen auf. So sparen Sie heimische Ressourcen.

S e c h s

Unbedingt beachten: Der Weg zur Buchhandlung des Vertrauens sollte zu Fuß oder dem Rad (kein E-Bike!) zurückgelegt werden. Da gut sortierte unabhängige Buchhandlungen heutzutage nicht mehr an jeder urbanen Ecke zu finden sind, kommen natürlich auch öffentliche Verkehrmittel in Frage, die zudem den Vorteil bieten, dass die Lektüre nahezu lückenlos fortgesetzt werden kann.

S i e b e n

Lesen beim Baden in vollen Wannen ist, wenn es denn jemals praktiziert wurde, leider vorbei. Volle Wannen sind out. Leser in the Länd wissen ohnehin um den Wert des Waschlappens. Im Idealfall bleibt dabei eine Hand frei für Buch, Zeitschrift oder what älls.

A c h t

E-Book Reader sind grundsätzlich kontraindiziert. Ausnahme: Wenn sie außer mit E-Books mit Strom aus erneuerbaren Ressourcen geladen werden. In diesem Zusammenhang wird es höchste Zeit die einseitige Abhängigkeit von Produkten waffenstarrender Großmächte zu überwinden. (Kindle adè!)

Weitere Infos, nebst nützlicher Tipps für Zeiten versiegender Rohstoffe und krisengesättigter Weltlagen geben gerne und jederzeit die Börsengäng deutscher Buchhändler (m,f,d), sowie die Stiftung Lesende e. V.

Kommentare

Dieses Dokument enthält keine Kommentare.

Neulich ging ich

Neulich ging ich über die Ilse-Aichinger-Brücke in Wien. 

Im letzten November wurde in Wien aus der Schwedenbrücke die Ilse-Aichinger-Brücke. Das Bauwerk führt über den nicht sehr breiten Donaukanal vom Ersten Bezirk, der sogenannten Inneren Stadt, in den Bezirk Leopoldstadt. Ilse Aichinger wurde hier 1921 geboren, sie wuchs in den Donaustädten Linz und Wien auf.

In Wien verstarb die Dichterin 2016. Zum 100. Geburtstag wurde ihr dieser Gedenkort gewidmet. Es ist jene Stelle, an der Aichinger 1942 zusehen musste, wie ihre Großmutter zusammen mit weiteren jüdischen Wienerinnen und Wienern deportiert wurde.

Die Welt ist aus dem Stoff, / der Betrachtung verlangt

So beginnt ihr Gedicht, das später unter dem Titel Winterantwort bekannt wurde. Ein Auszug daraus ist als Schriftzug, gefräst aus einer Metallleiste, Teil des heutigen Brückengeländers. Gestaltet von Aichingers Schwiegertochter Elisabeth Eich. Vor der Enthüllung trug der Schriftsteller Joseph Winkler Aichingers Winterantwort vor. Zahlreiche Wiener Künstler und Literaturfreunde begingen die Einweihung des Kunst- und Erinnerungswerkes mit einem Spaziergang über die Brücke.

Ich war vom Schwedenplatz aus, einem umtriebigen Knotenpunkt der Wiener Linien (wie der öffentliche Nahverkehr firmiert), auf die Brücke gegangen. Das war Anfang März dieses Jahres. Nach einem Winter, der keiner war, milde Tage und trotz Stickoxyden und Feinstaub, in der Luft ein frühes Ahnen von Vorfrühling. Die Wiener Luft ist nicht nur in diesem Bereich schlecht. Auf den Straßen nie endender dichter Autoverkehr. Zwischen engen Häuserschluchten gestaute Emissionen. Steht man in der Mitte der Brücke, sorgt ein kühler Wind für etwas Frische.

In der Nähe ist der kümmerliche Rest einer ehemaligen Stadtbefestigung zu besichtigen. Im Kanal, den die Ilse-Aichinger-Brücke überquert, fließt ein eher trübes Gewässer. Restaurant- und Partyschiffe liegen dauerhaft vor Anker. Eine Fähre, die Wien auf dem Wasser mit dem nahen Bratislava verbindet, legt hier ab.

In Aichingers Winterantwort erklingt gegen Ende die Stimme der verlorenen Großmutter. Sie fragt verzweifelt:

Ist es nicht ein finsterer Wald, / in den wir gerieten?

Die Antwort der Dichterin, als Stimme der trauernden Enkelin, verspricht Trost, Hoffnung, zarte Zuversicht:

Nein, Großmutter, er ist nicht finster, / ich weiß es, ich wohnte lang / bei den Kindern am Rande, / und es ist auch kein Wald.

Kommentare

Dieses Dokument enthält keine Kommentare.

Trotz alledem!

Leipzig im März 2022. Ein Rückblick auf die Tage an denen so getan wurde als sei Buchmesse.

Die Leipziger Buchmesse 2022 wurde abgesagt. So ging es Anfang Februar durch Presse, Funk und Foren. Müßig, einmal mehr die Gründe für diese Entscheidung aufzuzählen. Zu erzählen bleibt, was dennoch geschah.

Den Kern der Veranstaltung bildete in den zurückliegenden coronafreien Jahren bekanntlich die eigentliche Messe auf dem Leipziger Messegelände im Norden der Stadt, mit aufwändigen Ausstellungsständen, Präsentationen, Lesungen, Diskussionen und einer breiten Medienpräsenz. 

Angestoßen von den Verlegern Leif Greinus (Voland & Quist) und Gunnar Cynybulk (Kanon Verlag), ermöglicht von zahlreichen Unterstützern und Helfern, wurde in diesem Jahr ein sogenanntes buchmesse popup auf die Beine gestellt. In einer ehemaligen Fabrikhalle des werk 2, einem der soziokulturellen Dreh- und Angelpunkte der Stadt, im beliebt-berüchtigten Stadtteil Connewitz. Gedacht als Trostpflästerchen, um die entstandene Leere, die Lücke, mit einer spontanen, einmaligen Aktion zu füllen.

Irgendwie fand die Leipziger Buchmesse in diesem Jahr trotzdem statt. Die Medien finden überragend positive Worte für das alternative Messeprogramm der Popup-Buchmesse. Die Rede ist von Selbstbehauptung und Erfindungsgeist. Urteilte das Börsenblatt des Deutschen Buchhandels, das maßgebliche deutsche Fachblatt für die Buchbranche. Und in der WELT war zu lesen: …die von 60 unabhängigen Verlagen improvisierte Pop-up-Buchmesse in Leipzig war ein Ereignis.

Bei diesen und vielen ähnlichen Einschätzungen, die Print und Online zu finden waren, ist viel Wohlwollen im Spiel. Meiner Meinung nach zu viel. Dass diese Initiative im werk 2 ein Ereignis war, dem kann ich immerhin zustimmen. Nur mit einer etwas anderen Interpretation als in den medialen Urteilen.

Bei allem Respekt für den Wagemut und die Tatkraft der Veranstalter und ihrer Helfer. 10.000 Besucher sollen es an drei Tagen gewesen sein. Mag sein. Jedenfalls wurde der Auftrieb zum Durchtrieb im Zweistunden-Rhythmus. Aufgeteilt in praktikable, den Corona-Einschränkungen gerecht werdende Herden. Online eingecheckt, drei-G-abgecheckt und als buchaffiner Schwarm ein- und losgelassen. Und schon ging es rund im meist richtungsgleichen Kreisverkehr, um Stände und ausgelegte Bücher der etwa 60 überwiegend kleineren, unabhängigen Verlage.

Statt professionell gestalteter Messestände schlichte Tische, bedeckt mit Buch an Buch und allerhand ergänzenden Materialien. Flohmarktanmutung. Da fehlten nicht nur die gewohnten Gratishäppchen und -tröpfchen, die Kugelschreiber mit Verlagslogo, die Lesezeichen oder die Luftballons für die quengelnden Kleinen. Es fehlte schlicht zu Vieles, was anziehend, einladend, werbend wirken konnte. Von der löblichen Initiative und ihrer Umsetzung war ja nicht unbedingt Erleuchtung zu erwarten, etwas mehr Beleuchtung zur Erhellung des verbreiteten Dämmers wäre schön und praktisch gewesen. So waren in der umgerüsteten Werkshalle auf die Entfernung alle Bücher grau. Und erst beim Nähertreten, für das oft energisches Drängeln erforderlich war, wurden aus den Schatten hinter den Tischen beflissene Anbieter und nicht immer kompetente Auskunftgeber.

Nun ist das werk 2 nur einer von vielen spannenden Veranstaltungsorten in Leipzig. Nur eine der zahlreichen schönen, manchmal kuriosen Lokalitäten. An mehreren dieser bewährten Orte fanden ebenfalls Veranstaltungen statt, die zu normalen Buchmessezeiten unter dem Label Leipzig liest ihren Platz gefunden hätten. Wie z. B. in der Südbrause, einst der proletarischen Wochenreinigung dienend, nun Gastronomie und beliebter Treffpunkt. In direkter Nachbarschaft zum werk 2 stellten hier unter anderem Bov Bjerg, Fatma Aydemir, Vladimir Vertlib und der frisch gekürte Buchpreisträger Tomer Gardi ihre neuesten Bücher vor.

In der Alten Handelsbörse, ein Schmuckstück, zentral im Stadtzentrum gelegen, hatte der MDR seine Bühne aufgebaut. Hier stand in Gesprächsrunden und Diskussionen häufig Politisches im Vordergrund, kam man sehr schnell vom rein Literarischen auf das aktuelle Kriegsgeschehen und seine Folgen. 

Im Kreativviertel Plagwitz gibt es die Schaubühne Lindenfels. Hier weckte Österreich Vorfreude auf seinen Auftritt als Gastland der Buchmesse 2023. Unter dem Titel Wildes Österreich gab es eine Lange Nacht der österreichischen Literatur. Ebenfalls in der Schaubühne präsentierte sich Tschechien, mit einem Abend, der Echo Tschechien hieß. Dem in Deutschland sehr bekannten und beliebten Jaroslav Rudis war zudem eine eigene Veranstaltung gegönnt. Und am Abend der portugiesischen Literatur wurden die Gäste mit Ola Portugal begrüßt. Hier gab es zu Literarischem großartige Musik von dem Komponisten und Liedermacher Rodrigo Leao.

Vom zukünftigen Gastland Österreich, so war zu erfahren, wird es einen Literatur-Podcast geben. Er soll Interesse wecken an Büchern, Menschen und Geschichten aus dem Nachbarland: Literaturgespräche mit Katja Gasser. Die künstlerische Leiterin des Gastland-Auftritts spricht zweimal im Monat mit österreichischen Autorinnen und Autoren über Leben und Schreiben und darüber, wie beides wechselwirkt. Die nächste Ausgabe ist für den 4. April geplant. Dann ist Teresa Präauer die Gesprächspartnerin.

Besonders repräsentativ und prächtig ist die Kongresshalle am Zoo, die tatsächlich aus mehreren Sälen besteht. Auf der Bühne des größten wurde das Blaue Sofa aufgestellt. Das Möbel von ZDF, ORF, DLF Kultur und Bertelsmann gehört zu den beliebtesten Institutionen des Messegeschehen sowohl in Leipzig wie auch im Herbst in Frankfurt. Es erfordert einige Konzentration, um zum Eingang der Kongresshalle am Zoo zu gelangen. Lässt man die vermissen, kann es einem gehen wie mir. Erst als die vielen Eltern mit kleinen Kindern und Kinderwagen nicht mehr zu übersehen waren, ging mir auf, dass ich in der falschen Schlange stand, nämlich jener zum Leipziger Zoo.

Vor dem richtigen Eingang herrschte dann keineswegs großer Zuspruch. Man wurde zügig eingelassen und betrat den Saal, dessen Reihen eher spärlich besetzt waren. Welch ein Kontrast zum sonst üblichen begeisternden Anstürmen und Drängeln auf den Messen. Statt den dort üblichen Menschenaufläufen herrschte diesmal eine Art Seminarcharakter. Statt Begeisterungswellen gesitteter Beifall des aufmerksamen Publikums. 

Eine interessante, intime Atmosphäre der Aufmerksamkeit und Hinwendung, die vielleicht den auftretenden Schriftstellerinnen und Schriftstellern gar nicht so unrecht war. Zu erleben waren an den zwei Sofa-Tagen Karl-Markus Gauß, der Träger des Leipziger Preises zur Europäischen Verständigung, Florian Weber und Judith Kuckart, Lucy Fricke, deren neuer Roman Die Diplomatin beweist, dass es auch in deutscher Sprache Schreibende gibt, die einen guten Unterhaltungsroman zustande bringen. Michael Mittermeier, der das Publikum mit einem schlagfertigen Auftritt amüsierte. Und natürlich viele Weitere.

Zurück zum Leipziger popup im werk 2. Mitorganisator Greinus geht fest davon aus, dass es beim einmaligen Aufpoppen bleibt, dass 2023 wieder eine Messe im gewohnten Ambiente stattfinden wird. Mit Österreich als gut vorbereitetem Gastland. Im Interview mit dem Börsenblatt formulierte er seine Erwartungen: Die Leipziger Buchmesse wird 2023 wieder regulär stattfinden und die “buchmesse popup” staubsicher verpackt. Wir schmeißen allerdings nichts weg! Wenn wieder mal irgendwo eine Buchmesse abgesagt wird, haben wir eine schnell umzusetzende Alternative im Koffer.

Man kann dankbar sein für das, was in diesem Jahr realisiert wurde. Leipzig blieb präsent. Naturgemäß fehlte es an Breite, das war so nicht anders möglich. Es fehlte jedoch auch eine gewisse Tiefe. Darunter fallen für mich die vielfältigen fachlichen wie menschlichen Kontakte, die unerwarteten Begegnungen, die überraschenden Entdeckungen. Es fehlten die meisten Kollegen, Freunde und Freundinnen aus Ost- und Südosteuropa. Die Medienwirkung fiel bescheiden aus und gönnerhaft gleichlobend.

Leipzig im März 2022 verließ man mit der dringlichen Hoffnung, dass im nächsten Jahr wieder alles so sein möge wie bis 2019. Die Messe dort, wo sie hingehört. Das begleitende Lesefestival Leipzig liest. Das Gedränge in der Straßenbahnlinie 16, vor dem Blauen Sofa, in der Autorenarena und vor den vielen abendlichen Veranstaltungsorten in der Innenstadt. Pandemiefrei. In einem Europa ohne Krieg.