“Es begab sich aber zu der Zeit …”

Gedanken über das Erzählen aus naheliegendem Anlass.

Nun feiern wir also wieder jene kleine Geschichte, die seit 2000 Jahren große Teile der Menschheit weniger in Kirchen denn in einen wochenlangen Konsumrausch treibt. Bewohner des christlichen Erdkreises stürmen die Handelshäuser, erwerben gefällte Nadelbäume, installieren Engels- und Sternenschmuck, singen Choräle und sentimentale Weisen. Eine uralte Geschichte löst dies aus. Sie gehört zu den ältesten, die sich Menschen immer und immer wieder erzählen. Immer dann wenn das Jahr auf dem Kalender nur noch wenige Tage hat. 

Da es nun schon viele unternommen haben, einen Bericht von den Ereignissen zu verfassen … (Evangelium nach Lukas, Vorrede)

Es waren vier Chronisten, inzwischen als Evangelisten bekannt, die mehrere Generationen nach dem eigentlichen Geschehen, nachdem die Geschichte bereits in vielen Variationen von Mund zu Mund gegangen war, erstmals schriftliche Aufzeichnungen anfertigten, die uns als Überlieferungen erhalten blieben. In vier durchaus von einander abweichenden Versionen.

Dies ist ihr Kern: Eine hochschwangere, sehr junge Frau und ihr Partner, Zimmermann von Beruf, folgten im römisch besetzten Palästina einer Aufforderung des Kaisers Augustus, sich zwecks Volkszählung in ihren Heimatort Bethlehem zu begeben. Als das Paar dort eintraf, musste es feststellen, dass alle Herbergen bereits belegt waren. In einem schlichten Stall wurde ihnen schließlich Obdach gewährt. Die Verhältnisse waren einfach: Futterkrippe für Tiere, Stroh, ein Ochse, ein Esel; später kamen Hirten vom Felde hinzu. Ein gesunder Junge kam zur Welt; die Futterkrippe ward zu seiner ersten Wiege.

Der Knabe wuchs zu einem recht eigenwilligen (kritischen) jungen Mann heran, der seine jüdischen Glaubensbrüder und -schwestern mit Prophezeiungen, Weisheiten und Reformvorschlägen unterhielt, dessen systemkritische Haltung jedoch von den Obrigkeiten mit Skepsis betrachtet wurde. Er verscherzte es sich mit der jüdischen Geistlichkeit gleichermaßen wie mit den Organen der Besatzungsmacht. Letztere verurteilte den aufrührerischen Geist zum Tode am Kreuz. 

Das Kreuz und der Gekreuzigte wurden alsbald zu den Hauptsymbolen seiner sich rasch vergrößernden Anhängerschaft. Aus dem Kind im Stall war ein Religionsgründer geworden, der einige bedenkenswerte Verhaltensregeln hinterließ. Und hätten seine Nachfolger durch die unruhigen Jahrhunderte hinweg seine Maximen etwas ernster genommen, wäre die heutige Welt möglicherweise ein kleines Stück friedfertiger und unversehrter.

Es gibt viele solcher uralter Erzählungen, die Zeiten, Kriege und Kulturen überlebt haben und heute immer noch in aller Munde sind, die niedergeschrieben werden, in immer neuen Varianten, die als Bücher gedruckt erscheinen, in Theatern aufgeführt oder verfilmt werden. Geschichten aus tausendundeiner Nacht, von den Irrfahrten eines Odysseus, den Abenteuern des unbeholfenen Don Quijote, von Eulenspiegeleien, Geschichten über Wundertaten und Utopien. Unsterbliche Erzählstoffe, inzwischen gerne als Narrative bezeichnet. Bis heute immer wieder hervorgeholt, dabei verändert, ausgeschmückt oder übersteigert.

Alte Menschen erzählen gerne vom eigenen Leben, von Vergangenheiten, die sie für wert halten dass Nachfolgende davon erfahren, von Erlebnissen, Schrecken, Tiefpunkten, die sie dauerhaft belasten und von den schönen Höhepunkten eines langen Lebens, die unvergessen geblieben sind. Sie sprechen über Krieg und Vertreibung, Not und Krankheit, von Geburten und Todesfällen, kleinen Freuden und großen Enttäuschungen. Ihr Erzählen hat oft therapeutischen Charakter oder die Form einer Beichte.

Kinder möchten erzählt bekommen. Sie lieben Geschichten, die man ihnen vorliest oder aus dem Stegreif erzählt. Da darf es einfallsreich bis absurd zugehen. Unheimlich oder lustig. Über Außerirdische und Aliens, Prinzen und Prinzessinnen, sprechende Tiere, Zeitreisende, Gestalten aus der Vergangenheit wie Piraten oder Höhlenmenschen. Grenzen setzen nur die Phantasie der Erzähler und Erzählerinnen, der Autorinnen und Autoren. Kinder fordern heraus, indem sie mit ihrem Denken scheinbar Unveränderbares in Frage stellen. Durch Konventionen beschränkte Unsagbarkeiten einfach aussprechen.

Eigentlich gibt es keinen Menschen, der nichts zu erzählen hätte. Doch nicht jeder hat eine Sprache dafür zur Verfügung. Die einen können nicht sprechen, nicht frei reden, nicht erzählen – andere können nicht zuhören. Nach den Kinderjahren werden harmonische Momente zwischen Sender und Empfänger seltener. Das Erzählen, die Gespräche werden immer mehr, immer häufiger von Dogmen beherrscht, von stur verteidigten Standpunkten. Andere Werdegänge, Prägungen, Bildungswege erschweren das gegenseitige Verstehen. 

Wer nicht (mehr) erzählen, zuhören, lesen kann, flüchtet gerne in Alibitätigkeiten, rechtfertigt nur allzu gern allerhand Geschäftigkeit und schützt Zeitmangel vor. Gesellschaftlich akzeptiert wird vorrangig der Nachweis unmittelbarer Nützlichkeit oder Erwerbskraft.

Bücher, literarische ebenso wie gute Sachbücher, sind nichts anderes als konserviertes Erzählen. Nicht zufällig ist autofiktionales Schreiben fester Bestandteil des literarischen Kanons. Eine betagte Vertreterin dieses Genres wurde in diesem Jahr mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Wem deren Bücher möglicherweise zu dünn geraten sind, der greife zu einem Ove Knausgaard, einem Hanns-Josef Ortheil, zu Ulla Hahn, Tove Ditlevsen, Cathérine Millet, Gerhard Henschel und Hermann Lenz.

Weihnachten ist eine Zeit des Erzählens. Jene uralte Geschichte, in Kirchen vorgetragen. Familiäre Stoffe und Anekdoten, die an Festschmaustafeln die Runde machen. Jüngst Geschehenes, frisch aufbereitet: Skandale, Ärgernisse, Erstaunliches, neu Entdecktes.

Erzählen ist fast immer erinnern. An Gelingen und Mißlingen, an Vorfahren und Gefährten, Kinder und Enkel, Reisen und Naturgewalten, Begegnungen und Ängste. Die Tage an und um Weihnachten gehören zu den wenigen verbliebenen Anlässen für Generationen übergreifendes Zusammensein. Für mündlichen Austausch, Erzählen und Zuhören. Es ist jene Zeit, in der die Stuben voller Narrative sind.

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