Bin ich das?

Zu Michael Angeles „Der letzte Zeitungsleser“

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“Zeitungen lesen.” So lautet die Anweisung des Otto Trsnjek an seinen Lehrling Franz Huchel in Robert Seethalers Roman “Der Trafikant”. “Die Zeitungslektüre nämlich sei überhaupt das einzig Wichtige, das einzig Bedeutsame und Relevante am Trafikantendasein; keine Zeitung zu lesen hieße ja auch, kein Trafikant zu sein, wenn nicht gar: kein Mensch zu sein.”

Trafiken sind kleine, enge, völlig überfrachtete Läden in österreichischen Städten. Dort kann man Lotterie-Lose erwerben, Rauchwaren, Zeitschriften und eben Zeitungen kaufen. Seit Jahren ist der Verkauf gedruckter Tageszeitungen jedoch rückläufig, ebenso wie die Zahl der Titel, die im Nachbarland oder in unserer Republik erscheinen.

Meine Friseurin, die als zweites berufliches Standbein zusammen mit ihrem Mann einen Kiosk in unserer Stadt betreibt (Kioske spielen ja in Deutschland etwa die Rolle wie die Trafiken in Österreich), will von dieser Entwicklung hingegen noch nichts bemerkt haben. Ihre Stammkunden verhielten sich unverändert, versicherte sie mir. Sie muss dann allerdings auf Nachfrage einräumen, dass ihre Verkaufsstelle vorwiegend von Personen mindestens mittleren Alters frequentiert wird. Eine zudem meist konservative Klientel, Lehrer der nahen Gymnasien, Richter, Anwälte, Justizbedienstete, der Justizeinrichtungen um die Ecke. Junge Kundschaft habe sie so gut wie nicht.

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In einem wehmütigen Großessay gibt der Journalist Michael Angele den Grabstein für die gedruckte Tageszeitung in Auftrag, und verfasst zugleich einen launisch anekdotenreichen und sehr persönlichen Nachruf. Er wird, wenn dem letzten Blatt sein Stündchen geschlagen hat, als Zeitungsautor und notorischer Leser, gleich zweifach Hinterbliebener sein. Auch ich würde dann zu den zurückgelassenen Waisen gehören. Denn Zeitungslektüre gehört für mich seit ich denken kann zu den unverzichtbarsten Alltäglichkeiten.

Lange vor der Zeit als ich die ersten Karl-May-Bände verschlang, von den Wildwest- und Wüsten-Abenteuern nicht mehr genug bekommen konnte, hatte erstes mühsames Entziffern von Schlagzeilen begonnen. Natürlich mit dem örtlichen Lokalblatt, das unser Haushalt abonniert hatte, wie es fast alle Familien in unserer Umgebung abonniert hatten, und dessen tägliche Ausgabe bereits zu früher Stunde durch den Briefschlitz der Haustür fiel. Wohl gab es Menschen in der Umgebung, die kein Zeitungs-Abonnement hatten – doch die hielt man damals für etwas sonderlich, ja fast haftete ihnen ein leichter Hauch des Asozialen an.

Später kaufte ich mir hin und wieder die “Süddeutsche” oder die “Stuttgarter Zeitung”. Einzelausgaben waren damals selbst mit schmalem Taschengeld erschwinglich. In den rebellischen Jugendjahren wurde die zu jener Zeit deutlich linksliberale “Frankfurter Rundschau” ebenso unentbehrlich wie sichtbar getragenes Statussymbol und Glaubenbekenntnis. Als ich nach der Schulzeit in einem Verlag lernte und arbeitete, der Fachliteratur für die Uhren- und Schmuckbranche herausgab, wurde die “Neue Zürcher Zeitung” (NZZ) erst zur beruflichen Pflicht- und bald schon zu einer der Lieblingslektüren. Ich genoss den leicht überfordernden intellektuellen Anspruch und den globalen Geist des Blattes, lernte, was ein gutes Feuilleton ist.

Michael Angele beginnt sein Buch, dessen Satzspiegel der Breite einer Zeitungsspalte entspricht, mit der bekannten Geschichte Thomas Bernhards, in der dieser durch halb Österreich fährt auf der Suche nach der aktuellen Ausgabe der “Neuen Zürcher Zeitung”. Nachzulesen in Bernhards autobiographischer Erzählung “Wittgensteins Neffe”.

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Angele entwickelt in seiner Trauerarbeit eine anschauliche Soziographie der guten alten Tageszeitung, deren Tage aus Sicht der meisten Medien-Propheten gezählt sind, sowie eine kleine Typologie prägnanter Leser-Charaktere. Das Zeitunglesen war und ist für viele Menschen gute Gewohnheit und fester Bestandteil alltäglicher Rituale. Sich über das Gelesene zu wundern, zu ärgern, mit anderen auszutauschen, gehört zur lieb gewonnenen Interaktion zwischen Blatt und Leser. Welche Überraschungen hält doch so eine aufgeschlagene Doppelseite weit über die erwartbaren Informationen, Ereignisberichte, Sportergebnisse und Werbeanzeigen bereit?

Bedauerlich, die Rettungs- und Sanierungsversuche des Traditionsmediums führen dazu, dass wir statt des vielfältigen Spektrums an fundierten Informationen und prägnanten Meinungen, zunehmend mit Kitsch, Tratsch und Trash abgespeist werden. Gleichlautende Agenturmeldungen und großformatige Bebilderung vermießen noch den letzten Standhaften ihre Treue. Aus distanzierter objektivierter Betrachtung wird vielfach seichte Propaganda, Anbiederung an Werbekunden, billige Kopie der für Online-Medien gebräuchlichen Formensprache. Neugier und Wissensdurst werden mit Hollywood-Scheidungen, Promi-Schicksalen und penetrant wiederholten Politiker-Statements abgespeist.

Rettungsversuche bestehen neuerdings in veränderten Wochenend-Ausgaben, die längere hintergründige Artikel, aber auch unterhaltsame Bestandteile bieten, um so zu entspannter Sonntags-Letüre anzuregen. Das ist sicher ein wichtiger neuer Weg. Zu den Stärken der Zeitung alter Prägung zählte allerdings insbesondere die regelmäßige lokale und regionale Berichterstattung. Mit ihrem Verschwinden würde in Zukunft ein fundamentales Element der demokratisch-parzipativen Demokratie vermisst.

Dicke Wochenzeitungen können diese Funktion nicht ersetzen. Leistungsfähige Lokalredaktionen fallen leider seit Jahren immer häufiger den Spardiktaten zum Opfer. Konzentrationsprozesse auf Verlagsebene und fusionierte redaktionelle Mantelteile lassen die Vielfalt, den Kontrastreichtum und die Pluralität immer weiter schrumpfen. Feuilletons müssen weichen, qualifizierte Literaturkritik verschwindet. Schaut man auf die wöchentlichen Filmseiten sieht man nur noch allerseits wiedergekäute Propaganda für ohnehin leichtgängige Blogbuster und billige Massenware.

Neulich wurde die Optik, das Layout meiner Lokal- und Regionalzeitung neu gestaltet – relaunched. Das Ergebnis ist insgesamt erschütternd, die Einsichtsbereitschaft der Verantwortlichen in ihr Misslingen gering, wie Stellungnahmen und Interviews zu entnehmen ist. In einem Gespräch mit der eigenen Zeitung äußerte sich der Chefredakteur überraschend zuversichtlich über die Zukunftsfähigkeit seines und anderer vergleichbarer Blätter: „Es gibt kein anderes Medium, das in dieser Breite und Tiefe Themen aufbereitet. In dem Konzert der sozialen Netzwerke, in dem jeder seine Meinung ungeprüft … herausposaunen darf, müssen Zeitungen und ihre Redakteure als verlässlicher Anker funktionieren, die die Diskussion bündeln und objektivieren. Das ist eine hohe Verantwortung, der wir sicher nicht immer ganz gerecht werden können. Aber ich sehe niemand außer den Zeitungen, der diese Rolle einnehmen könnte.“ (*)

Ob er recht behalten wird? In Stefan Zweigs Erzählung “Buchmendel”, 1929 erschienen, betritt der Protagonist ein Wiener Kaffeehaus, “altwienerisch bürgerlich und vollgefüllt mit kleinen Leuten, die mehr Zeitungen konsumierten als Gebäck.” Als ich bei einem Wienbesuch vor einigen Wochen zum wiederholten Male im gemütlich morbiden “Jelinek” auf eine Melange einkehrte, lagen die vielen deutschsprachigen und internationalen Blätter beiseite geschichtet und unbeachtet auf einem Sideboard. Die Kaffehaus-Besucher des Jahres 2016 starrten auf Smartphones oder tippten in schicke Laptops.

Ich gehöre, wie Michael Angele, zu jenen Übriggebliebenen, die sich wünschen, dass es in Zukunft gedruckte Tageszeitungen und kluge, fähige Redakteure geben wird, die einem Anspruch, wie ihn der oben zitierte Chefredakteur formulierte, gerecht werden und in Form einer ansehnlichen, äußerlich ansprechenden gedruckten Tageszeitung umsetzen können und dürfen. Damit ich und meine Generation nicht zu den letzten gehören. Den letzten Zeitungslesern.

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(*) Es handelt sich um die in Ulm erscheinende SÜDWEST PRESSE

(Das Gespräch mit Chefredakteur Ulrich Becker erschien in der Ausgabe vom 1. Oktober 2016. Das Blatt veröffentlichte zahlreiche Stellungsnahmen von Lesern zum Relaunch, die in der Mehrheit tendenziell eher positiv ausfielen. Wesentlich negativer und ablehnender waren Wortmeldungen die auf einer separaten Social Media Plattform zu finden sind. Um auf dem Forum schreiben zu dürfen ist eine separate Registrierung erforderlich. In das gedruckte Blatt wurden diese kritischen Äußerungen nicht übernommen.)

Angele, Michael: Der letzte Zeitungsleser. – Galiani Berlin, 2016

Seethaler, Robert: Der Trafikant. – Roman. – Kein & Aber, versch. Jahr u. Aufl.

Bernhard, Thomas: Wittgensteins Neffe. Eine Freundschaft. – Suhrkamp, 2006

Zweig, Stefan: Buchmendel. Erzählungen. – S. Fischer, 1990

Auf einen kleinen Braunen ins Kafka

Sommertage in Wien

ein faulsein / ist nicht lesen kein buch / ist nicht lesen keine zeitung / ist überhaupt nicht kein lesen (Ernst Jandl, 1925 – 2000)

Wasser gab es in der Gegend immer reichlich. Die Wasserläufe aus den Quellen in Oberreinprechtsdorf wurden schon vor Jahrhunderten erschlossen und in den kaiserlichen Hof geleitet. Daran erinnert der Brunnen mit seinen sieben Wasserspendern auf dem Siebenbrunnenplatz. Logisch, dass die Eisdiele schräg gegenüber “Sette Fontane” heißt.

Der heutige 5. Bezirk, das einstige Besitztum Margareten, kam 1850 zu Wien. Im 20. Jahrhundert entstand ein Wohnquartier der Arbeiterschaft, der kleinen Angestellten, der niederen Beamten. Fast 55.000 Menschen sind inzwischen hier zuhause. Es dominieren die Gemeindebauten, kleine Ladengeschäfte für fast Alles, Handwerker, Imbisse und Kneipen. Düfte und Gerüche des Orients, aus Asien und vom Balkan kämpfen gegen die Diesel- und Benzindämpfe des stets dichten Verkehrs in engen Straßen.

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Fast ein Drittel der Margaretner sind nicht in Österreich geboren, haben eine andere Muttersprache als Deutsch. Vielleicht wirkt der Siebenbrunnenplatz auf den ersten Blick nicht eben einladend. Doch an milden Abenden ist er ideal zum lässigen Draußensein und wird zum quirligen urbanen Treffpunkt. Neben breitem Wiener Stadtteil-Dialekt hört man Unterhaltungen, Diskussionen, kleine Streitereien auf Serbisch, Türkisch, Ungarisch, Arabisch.

August 2016. Gleich um die Ecke dieses beliebten Unterzentrums eines ganz normalen großstädtischen Wohnviertels haben wir uns zum wiederholten Male während eines Wien-Aufenthalts einquartiert. Bis vor Kurzem wussten wir allerdings nicht, wo wir da gelandet sind:

“In diesem nicht besonders ansehnlichen Quartier im fünften Wiener Gemeindebezirk, in dieser Abgrundgegend also, weitgehend bevölkert von Unterschichts- und Randexistenzen, unter Menschen, von denen die wenigsten jemals ein Buch auch nur in der Hand gehalten dürften … ”.

So sieht und beschreibt der vielfach ausgezeichnete Schriftsteller und selbsternannte Wien-Kenner Marcel Beyer den Kern Margaretens. (Nachzulesen in der FAZ vom 1. Juli.)

Uns gefällt die Gegend. Bei ausgiebigen Streifzügen gedenken wir seliger Geister, die vor uns durch diese Straßen, über diese Plätze wandelten, wie der nuschelnde Mime und Barde Hans Moser, der berühmte Sozialdemokrat und langjährige Bürgermeister Bruno Kreisky. Und natürlich der von hier als internationaler Popstar durchstartende Falco. Im Garten von dessen Stamm-Beisl, dem “Alten Fassl”, verbringen wir in geselliger Runde einen angeregten Sommerabend.

Sogar Menschen mit Buch sieht man gelegentlich zwischen Wienfluss und Südbahntrasse, selbst Alphabetismus macht sich breit zwischen Wieden und Meidling, schließlich gibt es im Viertel weiterführende Schulen und höhere Lehranstalten. Eine aktuelle Bachmann-Preisträgerin mit Rotkäppchen-Anmutung wohnt in einem typischen Gemeindebau und kehrt, wie auch wir, ab und an in einer der unkomplizierten Gaststätten auf dem Siebenbrunnenplatz ein. Zum sommerlich frischen Weißwein-Spritzer, zum Bier, auf einen Eisbecher, zu Falafel oder Pizza, Schnitzel oder Backhendl.

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Ich muss noch verraten, was den zukünftigen Georg-Büchner-Preisträger letztlich herführte und seinen Mut loben. Kam er doch auf dem Weg zu Gespräch und Recherche vorbei am “Vereinslokal der Wiener Hells Angels.” Das hat er gewagt, um “eine der größten Dichterinnen, die das zwanzigste Jahrhundert hervorgebracht hat”, zu treffen und darüber zu berichten. Friederike Mayröcker, die “seit ihrer Geburt am 20. Dezember 1924, vier Uhr nachmittags”, in dieser “Abgrundgegend”, diesem Margareten, lebt und schreibt. Viele Jahre davon eng befreundet mit Ernst Jandl.

“es war ein glück, daß ich 1954 mit der dichterin friederike mayröcker zusammentraf, die schon damals einen guten namen besaß, und ich schrieb an ihrer seite viele gedichte. wir sind bis heute eng verbunden, aber wir leben nicht zusammen, denn ich verstand es nicht, etwas an glück dauerhaft zu machen.” (Ernst Jandl: biographische notiz)

Hin und wieder lässt Frau Mayröcker die Arbeit an ihrem hermetischen Werk ruhen und verlässt die mit Manuskripten verstopfte Klause und begibt sich zu ihrer Lieblingsbuchhändlerin. Die Buchhandlung von Anna Jeller liegt ein paar Schritte außerhalb von Margareten, in Wieden, dem 4. Bezirk. Bei einer gemeinsamen Zigarette vor dem Laden plaudern die beiden lebenskundigen Damen sicher nicht nur über Bücher, nicht nur über Lesen und Schreiben. Für die Dichterin allerdings ist Schreiben zentraler Lebenssinn, der sie bis ins hohe Alter erhält.

“ … ach die Wörter in ihrer Windigkeit, ich meine ich ahnte das ganze ohne dasz ich wuszte wohin es mich führen sollte, also ich wuszte nicht genau was ich eigentlich schreiben wollte, ABER ÜBERHAUPT SCHREIBEN!, nicht wahr, das war die Hauptsache.” (Mayröcker, Liebling)

Zu meinen liebsten Bücher-Orten in Wien gehört das “Phil”. Buchhandlung, Denkplatz, Kaffeehaus und Heldenplatz von Menschen, die mit ihren Apple-Laptops auf Kaffehaus-Literat Version 21. Jahrhundert machen. In den Regalen und Auslagen gibt es für mich immer wieder Bücher und SchriftstellerInnen zu entdecken, die auf den bundesdeutschen Büchertischen selten zu finden sind. Während Eva Menasses Romane in Deutschland durchaus gelesen werden, sind ihre Kolumnen und Essays eher unbekannt. Ich entdecke eine Sammlung davon in einem frisch erschienenen btb-Taschenbuch mit dem Titel “Lieber aufgeregt als abgeklärt”.

Die Wahl-Berlinerin berichtet von einer für sie überraschenden Einsicht: “Die Deutschen nämlich lieben uns. Das ist für den frisch eingewanderten Österreicher die erschütterndste Erkenntnis… Diese Begeisterungsstürme, sobald man den Mund öffnet. Sie überschütten uns mit Komplimenten zu unserem weichen, gemütlichen Akzent … “

Halten wir “Piefkes” uns hingegen in Austria auf, wird diese Liebe leider keineswegs gleichermaßen herzlich erwidert. In Wien geht’s. Denn “Wien ist nicht Österreich” hört man hier eben so oft, wie bestimmt. Womit sich die Hauptstädter recht geschickt von manch politischem Trend der Provinz distanzieren.

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Im “Phil” blättere ich in dem bunt-witzigen Buch zur Ausstellung “Literarische Cartoons”, die bis Ende August im Museums-Quartier zu sehen war. Mit Karikaturen von Till Mette, Greser & Lenz und vielen mehr. Für Literaturfreunde und -hasser gleichermaßen geeignet, vielleicht schon einen ersten Eintrag auf dem Weihnachts-Wunschzettel wert. Einen weiteren interessanten Titel habe ich entdeckt. Dazu gleich mehr.

“in Wien ist ein schloß und vor dem schloß steh jetzt ich.” (wieder Ernst Jandl)

Beim Bummel zwischen den bunten Beeten und akuraten Hecken der Gartenanlage des Belvedere (leicht ansteigendes Gelände, Schloss oben, Schloss unten) kann man für einige Zeit stickiger Hitze und Verkehrslärm entkommen. Schattige Bänke laden zum Verweilen und Nachsinnen über Pracht und Prunk der ehemaligen Habsburger k. und k. Monarchie. Ihre Hinterlassenschaften sind unverzichtbare Anziehungspunkte für uns Zeitgenossen und Touristen, die aus aller Welt und zu jeder Jahreszeit in die österreichische Hauptstadt strömen. Die Geschichte dieses ehemals so mächtigen Großreichs und faszinierend vielstimmigen Kultraums, wirkt bis in unsere Gegenwart. Ihr Erbe sind nicht zuletzt die unvergleichlichen Kunstwerke aus Malerei, Musik und Literatur.

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Der rumäniendeutsche Schriftsteller Richard Wagner hat ein ebenso lehrreiches wie unterhaltsames Buch über die Donaumonarchie mit dem Titel “Habsburg. Bibliothek einer verlorenen Welt” geschrieben. In kleinen literarischen Essays und Anekdoten umreißt er Bedeutung und Wirkung des österreichisch-ungarischen Kaiserkönigtums. Beginnend mit der “Schönen Blauen Donau”, über die “Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs” bis “Neunzehnhundertneunundachtzig” reicht das Spektrum, in dem auch Kafka und Musil, das Rezept der Doboschtorte, Stalin und Tito Platz gefunden haben.

“Es gibt ein Ziel, aber keinen Weg; was wir Weg nennen, ist Zögern.” (Diese Erkenntnis wird Franz Kafka zugeschrieben – ich habe es nicht verifiziert.)

So ganz klar komme ich mit der Aussage nicht. Was mich nicht davon abhalten kann den Nachmittagskaffee einmal im leicht morbiden “Kafka” einzunehmen, wo dieses und andere Zitate, sowie allerhand Künstlerportraits an den Wänden hängen. Den kleinen Braunen gibt es mit etwas warmer Milch im separaten Mini-Kännchen und einem Glas frischen Wasser auf dem kleinen Tablett, das hier nicht aus Silber, sondern hygienischen Chromnickelstahl besteht. Das “Kafka” heißt “Kafka” nach Franz Kafka, auf der übersichtlichen Karte findet man Vegetarisches.

Das “Jelinek” ist hingegen nicht nach der Literatur-Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek benannt. Das Lokal mit seinem vor langer Zeit entstandenen und seitdem stilvoll gealterten Ambiente, seinen knarrenden Türen und dem schiefen Kachelofen, hat eine der größten Zeitungsauslagen aller mir bekannten Wiener Kaffeehäuser. Österreichische Blätter wie “Standard”, “Salzburger Nachrichten” oder “Tiroler Tageszeitung” und internationale Organe von “Süddeutscher Zeitung”, über “Le Monde” bis “The Times”.

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Leider hat das Interesse an diesen Druckerzeugnissen sichtlich nachgelassen. In den Stunden unserer Besuche blieben sie unberührt. Keiner der Gäste verbarg sich hinter einem der Großformate, bevorzugt wurden Tablet, Laptop und Smartphone. Eine mich irritierende und, wie zu befürchten, unumkehrbare Tendenz.

Ein Buch, wie jenes mit den kurzen Arbeiten von Eva Menasse, das ich von diesem Wien-Aufenthalt mit nach Hause nehme, würde es ohne Tageszeitungen gar nicht geben. Die hier versammelten kleinen Perlen knapper, prägnanter Form höherer Schreibkunst erschienen zuerst und erscheinen vorerst weiterhin in gedruckten Zeitungen.

Dass sich diese, bis vor wenigen Jahren viel genutzte, ebenso geliebte wie viel gescholtene Medienform, dass sich Neuigkeiten und Hintergründe mit abfärbender Druckerschwärze aufs holzige Papier gebracht, eindeutig auf dem Rückzug befinden, beschäftigt mich sehr. Der nächste Beitrag auf con=libri wird deshalb, und aus Anlass einer aktuellen Neuerscheinung, diesem Thema gewidmet sein.

***

Jandl, Ernst: Aus dem wirklichen Leben. Gedichte & Prosa. Mit 66 Grafiken von Hans Ticha. – Büchergilde Gutenberg, 2000

Mayröcker, Friederike: Und ich schüttelte einen Liebling. – Suhrkamp, 2005

Menasse, Eva: Lieber Aufgeregt als abgeklärt. Essays. – btb, 2016

Ettenauer, Clemens (Hrsg.): Literarische Cartoons. – Holzbaum Verlag, 2016

Wagner, Richard: Habsburg. Bibliothek einer verlorenen Welt. – Hoffmann und Campe, 2014

Sudeleien. Ende September 2014

Von Wortschätzchen und allerhand bedrohten Arten

„Ich sauge den Sommer in mich ein wie die Wildbienen den Honig,“ sagte sie. Ich sammle mir einen großen Sommerklumpen zusammen, und von dem werde ich leben, wenn es nicht mehr Sommer ist.“ (Astrid Lindgren: Ronja Räubertochter)

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Oder: Wir lesen einfach durch bis der Frühling zurückkommt.

Schwer erträglich, und nicht selten schmerzhaft fürs Sprachempfindungs-Organ: das sogenannte Denglish der unermüdlich schiefe Metaphern und verquere Phrasen auswerfenden Sprachknechte unserer schillernden Konsumwelt: „Der alpenfrische Schüttel-Shake“, „Live Cooking“, „Don’t call it Schnitzel“, „Content ist King“. – Willkommener sind da jene Fremdlinge aus anderen Sprachräumen, denen es gelingt im Deutschen heimisch zu werden weil sie unsere Ausdruckmöglichkeiten erweitern und zu größerer Genauigkeit von Formulierungen beitragen. Hin und wieder stößt man recht unvermutet auf solch ein kleines Sprach-Schätzchen, das man dann gerne behalten möchte. Der amerikanischen Schriftstellerin Donna Tartt verdanke ich indirekt die Entdeckung eines solchen, für mich zu diesem Zeitpunkt neuen Lehnwortes aus dem Englischen.

Donna Tartt versteht es, sich und ihr Werk zu inszenieren. Auf Fotos sieht man sie stets in Schwarz und als hochstilisierte Kunstfigur. Ihre Romane, die zu großen Teilen handschriftlich in der New York Public Library entstehen, erscheinen in großen zeitlichen Abständen und sind sehr umfangreich. Die „Geheime Geschichte“ erschien zu Beginn der 1990er Jahre. Anfangs skeptisch, war ich nach und nach immer begeisterter. Ein großes Epos, figurenreich, erzählerisch weit ausholend, sprachlich von außergewöhnlicher Könnerschaft, mit fesselnden Spannungselementen ohne Kriminalroman zu sein. Das zweite Buch – „Der kleine Freund“ – besticht zunächst ebenfalls dank epischer Kraft, entpuppt sich mit steigender Seitenzahl leider als eine etwas schwerfälligere Lektüre. Der neueste Roman heißt „Der Distelfink“, erschien im Frühjahr auf Deutsch und es war klar, dass ich ihn irgendwann lesen würde. (Habe ich, Stand heute, noch nicht.)

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Zunächst forschte ich nach professioneller Einschätzung und fand eine Rezension von Jane Shilling im britischen „New Statesman“, der normalerweise nicht zu den Wochen-Blättern gehört, die ich regelmäßig verschlinge; das verhindert schon die begrenzte englische Sprachkompetenz. So kann es halt passieren, wenn man sich dem großen Suchmaschinen-Bruder anvertraut, ohne wirklich zu wissen, wo man im Weltweitnetz hin möchte. Jedenfalls bespricht Frau Shilling vorrangig den „Distelfink“, den sie in höchsten Tönen lobt und kommt in diesem Zusammenhang auch noch einmal auf den Vorgänger „The Little Friend“. Den fand sie nicht so doll: „This … was a protracted essay in Gothic suspense, set in the American South with a bookish 12-year-old heroine…“

Bookish! Das gefiel mir. Dieses Wort wollte ich in meinen Thesaurus aufnehmen. Es schien mir passend; wobei ich nicht wirklich beurteilen kann, inwieweit für Frau Tartt, bzw. ihre junge Heldin, auf jeden Fall aber für mich. So bin ich zweifellos: Ein klein wenig bookish! Das meint etwas anderes als bibliophil. Die Bedeutung der deutschen Begriffe Bücherfreund und Büchernarr ist vielleicht darin enthalten. Doch ist es als Adjektiv oder Adverb sehr viel flexibler und treffender verwendbar. Probleme ergeben sich allenfalls mit den Steigerungsformen. Vorausgesetzt bookish ist überhaupt steigerbar, wäre es so wahrscheinlich korrekt (Einwände von Anglisten nehme ich jederzeit gerne entgegen): Bookish, more bookish, most bookish. Und jetzt – mit dem Ausklingen des Sommers – kommt die Zeit des Jahres, die nicht nur mich most bookish macht.

Mit abnehmender Tages-Helligkeit und steigender Nebel, geht die Zahl der Neuerscheinungen ihrem jährlichen Höhepunkt entgegen, schicken die Verlage ihre Auflagenbringer auf lange Lesereisen, nahen die groß inszenierten Verleihungen des Deutschen Buchpreises und des Nobelpreises für Literatur.

indexDie Bücher der sechs auf der Shortlist für den Buchpreis nominierten Autorinnen und Autoren habe ich angelesen. Obwohl sicher einiger Proporz im Spiel ist steht keines zu Unrecht auf der Liste. Am besten gefallen – und in dem Buch habe ich mich auch festgelesen – hat mir „Kruso“ von Lutz Seiler. Einer der sogenannten Wenderomane. Im Mittelpunkt steht eine hermetische Gemeinschaft von Personen auf der Insel Hiddensee, die das DDR-Festland verlassen haben, weil sie mehr oder weniger ausgegorene Fluchtpläne hegen. Zunächst einmal sind sie an der Ostseeküste gestrandet und arbeiten am Rande der Legalität in der Insel-Gastronomie. In hochpoetischer Sprache und mit Mitteln leichter Mystifizierung setzt Seiler all jenen ein literarisches Denkmal, denen die Flucht übers Meer nicht gelang oder die dabei umkamen.

Ginge es nach Martin Olczak würde es wohl keinen Literatur-Nobelpreis mehr geben – aus Mangel an Juroren. In seinem Krimi „Die Akademie-Morde“ lässt der schwedische Autor nach und nach die meisten Mitglieder des Nobelpreis-Komitees meucheln. Eine Geschichte die aus dem längst unüberschaubaren Angebot nordeuropäischer Kriminalliteratur etwas hervorsticht. Trotz zahlreicher Toter wird auf die sonst übliche reiserisch überzogene Brutalitäts-, und Sex-Darstellung verzichtet. Neben dem originellen Sujet bekommt der Leser ein interessantes multiethnisches Personal geboten.

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Immer bookish: Denis Scheck

Menschen die bookish sind können nicht ohne Bücher sein. Genauer: Wer bookish ist kann nicht ohne Literatur in gedruckter Form sein. Rezept-Sammlungen und Yoga-Anleitungen werden die Leidenschaft wohl weit weniger befriedigen als umfangreiche Romane, klassische Anthologien oder schön gestaltete und hochwertig produzierte Lyrik-Bände. Menschen die sich als bookish bezeichnen würden („outen“ wäre hier sehr passend), sind ihrer Leidenschaft bedingslos verfallen und durch nichts davon abzubringen. Sie gehen nie ohne Buch aus dem Haus. Bücher sind ständige Begleiter bei Tag und in der leselampenerleuchteten Nacht. Jede Lebenslage ist willkommenes Alibi für den Griff zum Buch. Sie lesen im Sitzen, Stehen und Liegen, zu jeder Uhrzeit, an jedem Platz. Sie kommen an keiner Buchhandlung vorbei, keinem Antiquariat, keiner Ramschkiste auf einschlägigen Flohmärkten. Diese Besonderlinge lesen in (gedruckten) Tageszeitungen zuerst die selten gewordenen Literaturseiten und gleich danach das Feuilleton. (Es soll Ausnahmen geben, die mit dem Sportteil anfangen und trotzdem bookish sind!)

Offene Fragen bleiben. Kann man mit eBooks bookish sein? Wie nennt man es wenn man verrückt nach Zeitungen ist? Paperish? Mit den riesenformatigen Tageszeitungen und den damit einhergehenden druckfarbenschwarz gefärbten Händen geht es ernsthaft zu Ende. Das gestand in einer umfangreichen Analyse die selbst betroffene, traditionsreiche Frankfurter Allgemeine Zeitung.

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In Anlehnung an eine bekannte Werbe-Unterstellung drängt sich abschließend die Frage auf: Sind wir nicht alle ein bisschen bookish? Keineswegs. Nur noch schmale 5 Prozent der erwachsenen deutschen Bevölkerung lesen regelmäßig Bücher – musste ich neulich lesen. Wenn man in Bus, Zug oder Straßenbahn unterwegs ist, wird deutlich warum. Die meisten Zeitgenossen haben gar keine Hände mehr frei für das greifbare Kulturgut. An der menschlichen Hand evolutioniert sich zunehmend das Smartphone zum dominanten Glied. Mitbürger die bookish sind, geblieben sind, bilden längst eine Minderheit, beängstigend in ihrem Bestand bedroht. Sie unter besonderen Schutz zu stellen, wie seltene Pflanzen oder Tiere, dürfte der schleichenden Dezimierung wohl kaum Einhalt gebieten.

Doch noch fallen sie gelegentlich auf. Wirken auf Jene, die für kurze Zeit verstört vom Display aufblicken schrullig, seltsam analog. Sei’s drum und jetzt erst recht: Be foolish. Stay bookish!

Die Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2014.

Sudeleien. Anfang März 2014

Frühblüher, Biller und der doppelte Leo

Einer der ersten Märztage. Frühlingsahnen in Wald, Wiese und Vorgärten. Es geht dem Abend zu. Der süddeutsche Himmel wechselt gemächlich seinen Farbton. Aus strahlendem Hell- wird tiefes Dunkelblau, wenig später Nachtschwarz. Auf der CrossOver-Welle Bayern 2 singt Carmen Consoli von „Fiori d’arancio“ (Orangenblüte). Nach einem sonnenreichen Frischlufttag im Westallgäu zurück in der kleinen Großstadt, staune ich einmal mehr über das eindrucksvolle Blätterwachstum auf dem deutschsprachigen Zeitschriftenmarkt. Während vor allem die täglich erscheinenden, gedruckten Zentralorgane unserer Presselandschaft, längst im Spätherbst ihrer Gutenberg-Existenz angekommen, dem Siechtum durch Flucht in digitale Parallelwelten zu entkommen versuchen, sprießt es heftig und bunt am guten alten Kiosk.

Geradezu inflationär sind Titel-Kreationen mit einem etwas schwammigen Begriff, der wohl irgendwelche halbgaren Sehnsüchte weckt: „Land“. Den Kombinations-Phantasien der Verlags-Kreativen sind keine Grenzen gesetzt. So entdecken wir die metaphysische „Landidee“, den ins mystische verweisenden „Landzauber“, oder bodenständigere Varianten wie „Land der Berge“ und „Land und Forst“. Zwölfmal jährlich grüßt uns „Servus in Stadt & Land“, deren aktuelle Ausgabe – ganz am Puls des Frühlings – verspricht: „Alles erwacht.“ Für den naturnahen Junkie erscheint regelmäßig die „Landapotheke“. Wer bei „Landlust“ an die flotten Mädels vom aktuellen „Bäuerinnen-Kalender“ denkt, liegt völlig falsch. Ob es Schmusekater gibt, die ihrer Heidi ein Jahresabo von „Geliebte Katze“ zum Jahrestag schenken, bleibt offen. Der Titel „Sauen“ hingegen ist deutlich genug, es sei denn schwäbisches Kundenpotential denkt dabei an forciertes Joggen.

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Katze vor Frühlingsboten

Unter den wohlgestalteten Werbeträgern besonders reichhaltig vertreten ist die mundgerechte Kategorie „Essen und Trinken“. Wer nach dem Durchblättern von „Sauen“ wissen möchte, was aus eben diesen werden kann, erfährt es zum Beispiel in „Kochen und Genießen“, „La Tavola“ oder in der schlicht deutlichen „beef!“, die mit ihren sechs Ausgaben pro Jahr Leser und Gaumen erfreuen möchte. Das fleischlose Glück versprechen „Vegetarisch Fit“ und „Kraut & Rüben“. Wenn dennoch etwas schief geht, hilft der „Naturarzt“. Auf falsche Fährte führt „Filethäkeln“. Der Titel hat absolut gar nichts mit besonders feiner Fleischzubereitung zu tun, sondern gehört aufs weite Feld der Handarbeits-Journale, deren reiche Vielfalt die große Zahl jener Zeitschriften ergänzt, die traditionsreich seit gefühlten Jahrhunderten mit anmutigen Frauennamen von Brigitte bis Verena treue Käuferinnenschichten finden.

Für die nächsten Monate ist weiterer Zuwachs in den Auslagen gut sortierter Bahnhofsbuchhandlungen und den Sortimenten breit aufgestellter Lesezirkel zu erwarten. Wie man hört stehen diese Titel unmittelbar vor der Markteinführung: „LandFlucht“, „Mark und Bein“ „Dinkel und Bohne“, „Vegan im Alter“, „Mein Fleisch & ich“. Fordern Sie heute noch Probeexemplare bei den herausgebenden Verlagen an!

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Frühlingsboten vor Hintergrund

Dem aller Unhandlichkeit zum Trotz auflagen-erfolgreichen Wochenblatt „Die Zeit“ konnte ich neulich entnehmen, dass dem notorischen Konfliktsucher und Möchtegern-Großschriftsteller Maxim Biller der deutschsprachige Schreiber-Nachwuchs zu lau ist. Weil bildungsbürgerlich mittelschichtig verweichlicht, weil mit verwechselbarem Geruch der Nachwuchsdichter-Ställe in Leipzig und Hildesheim, weil themenschwach und faden Einheitsbrei erzeugend. Dem zeternden Gelegenheits-Romancier fehlt das Migrantische, das frisch Reingeschmeckte, das radikal-würzige Junggemüse von Balkan, Balaton und Baikal.

Nur so aus dem Bauch heraus und ohne Anspruch auf Vollständigkeit habe ich daraufhin ein paar Namen aneinander gereiht:

Terézia Mora, Sasa Stanisic, Olga Grjasnowa, Ilija Trojanow, Olga Martynova, Lena Gorelik, Vladimir Vertlib, Julya Rabinowich, Catalin Dorian Florescu, Selim Özdogan, Hilal Sezgin. (Links spare ich mir. Alle hier aufgeführten sind leicht im Netz und auf den entsprechenden Buchhandels-Plattformen zu finden. Dort erfährt man Näheres über ihre Herkunft, sprachliche Sozialisation und bis heute publizierten Werke.) Dem von eigenen Zweifeln freien, nur gelegentlich von lästiger Justiz behinderten Erfolgsschriftsteller Biller schlage ich vor, mit einem Buchhändler seines Vertrauens, wahlweise einem beschlagenen Komparatisten, über diese und andere Namen ins Gespräch zu kommen. Ein Zugewinn an Erkenntnis ist ihm sicher. (1)

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Hier wirkt der LandMann. („Er setzt seine Felder und Wiesen in Stand.“)

Was, außer Bauern im Außeneinsatz, im Märzen sicher kommt, ganz gleich ob die Landschaften bereits blühen oder noch von Schnee und Eis bedeckt sein werden wie im letzten Jahr, das ist die Leipziger Buchmesse. Und damit die schönsten Frühlingsboten aus der Dichter poetischen Gärten im Wettstreit um den Preis der Leipziger Buchmesse. In der Kategorie Belletristik stehen diese Titel – und nach ersten Eindrücken meine ich: durchaus zu recht – auf der Short-List:

Sasa Stanisic, Vor dem Fest (Luchterhand): Geschichten, Mythen und Legenden aus dem Heimatarchiv eines Dorfes. Kraft- und phantasievolle Erzählung.

Per Leo, Flut und Boden (Klett-Cotta): Der Historiker Leo verarbeitet die eigene Familiengeschichte zum Roman. Licht und Schatten deutscher Vergangenheit werden dabei differenziert betrachtet.

Katja Petrowskaja, Vielleicht Esther (Suhrkamp): „Was es bedeutet, die Spuren einer verzweigten Familie zu sichern, wenn nichts sicher ist, außer dem Verschwinden, davon wird hier erzählt…“ (Verlagstext). Ein weiterer erzählender Ost-Import auf dem deutschen Buchmarkt. Bachmann-Preis 2013.

Fabian Hischmann, Am Ende schmeißen wir mit Gold (Berlin Verlag): Noch ein Debütant. Eine junge Stimme die sich an das bewährte Genre des weit ausholenden Familienromans wagt. Im Stil noch etwas unreif.

Martin Mosebach, Das Blutbuchenfest (Hanser): Es mag viele Gründe geben Mosebach nicht zu mögen, aber literarisch hat er mit diesem Buch einen Glanzpunkt gesetzt. Sein Frankfurter Gesellschaftsroman vor dem Hintergrund des Balkankrieges, ist das Werk eines reifen, erfahrenen Autors.

Bei der Online-Wahl des Publikumspreises habe ich mich für „Flut und Boden“ von Per Leo (2) entschieden. Natürlich aus Interesse am Thema und nach den Eindrücken einer Leseprobe, hauptsächlich jedoch aus einem etwas kuriosen Grund, der mit dem Namen des Autors zu tun hat. Vor einiger Zeit habe ich die familienbiographischen Aufzeichnungen „Haltet Euer Herz bereit“ des Berliner Journalisten Maxim Leo (3) gelesen. Die ostdeutschen Lebensläufe von drei Generationen Leos werden in diesem Buch sehr eindrucksvoll beschrieben. Und ich habe mich gefragt, haben diese beiden schreibenden Leos etwas miteinander zu tun? Gibt es da Verwandtschaft oder ähnlich Verbindendes? Ich bin noch nicht dahintergekommen und nehme entsprechende Hinweise gerne entgegen.

Mehr über Menschen und Bücher rund um die Leipziger Messe- und Literatur-Tage gibt es in der zweiten Märzhälfte hier auf con=libri.

(1)  Wille, A. T.: Die Osterweiterung der deutschen Literatur. – Würzburg : Kaiserbuden & Altfrau, 2014 oder 15 (in print)

(2)  Leo, Per: Flut und Boden. – Klett-Cotta, 2014

(3)  Leo, Maxim: Haltet Euer Herz bereit. – Heyne, 2011 (Originalausg. bei Blessing, 2009)

Sudeleien: Ende April 2012

Handke, Hesse, Walser, Schulze und ich –  und der “Welttag des Buches”

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„Kultur für alle.“ – (Hilmar Hoffmann, Kulturbürgermeister von Nürnberg a. D.)

„Der Wunsch nach einem Gedicht ist eher selten anzutreffen, hierzulande, heutzutage, andernorts. Und zwar sowohl was die Zahl der Lesenden als auch die der Schreibenden betrifft.“ – (Kathrin Schmidt, Schriftstellerin)

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Beim Sovormichhinsortieren alter Zeitungsausgaben für den Altpapier-Container, musste ich daran denken was ich diese Woche gelesen hatte: “Heute ist der Welttag des Buches”, schrieb Ute G. in einem Beitrag zur Volksaufklärung am Dienstag, den 24. April, in einer auflagestarken schwäbischen Tageszeitung. Sie lag damit nur ganz knapp daneben. Der “Welttag des Buches” fand, gemeinsam mit dem “Tag des Bieres”, auch in diesem Jahr wieder am 23. April statt. Das war ein Montag und meine Stadtbibliothek, wie immer an einem Montag, geschlossen.

Doch auf dem Marktplatz unseres Städtchen, im Schatten sakraler Sandstein-Gotik, hatten die „Bibliophilen Alphabeten e. V.“ einen Aktionsstand aufgebaut. Hier wurde der Stoff gratis abgegeben. Jede Menge Lesestoff geschenkt. Eine von vielen “Lesefreunde”-Aktionen zur Inszenierung des “Welttag des Buches”. Aber nicht jeder Buchhändler findet es so toll „mitten in der Debatte um das Urheberrecht und die Umsonst-Kultur 1 Mio Bücher kostenlos zu verteilen“. Es stellen sich Fragen. Wird das geistige Eigentum der Autoren an den verschenkten Werken denn angemessen und pekuniär gewürdigt? Wurde das Einverständnis der Urheber eingeholt? Oder machen die Rechte-Verwerter, in diesem Fall die Verlage, einfach was sie wollen? Was ist noch PR und was schon Piraterie? Wie sollen sich Herr und Frau Mustermann da noch zurechtfinden? Und wo kann ich eigentlich die App herunterladen?

Es gab Bücher für alle. Aber nicht alle Bücher. Die Titelauswahl war beschränkt im Sinne von begrenzt. Es standen 25 Titel zur Auswahl. Dabei die “Schweigeminute” von Siegfried Lenz, Kaminers “Deutsches Dschungelbuch”, die “Vermessung der Welt” von Daniel Kehlmann und die unvermeidliche, aber bissige Stephenie Meyer. Meiner Grundstimmung entsprechend griff ich rasch und möglichst unauffällig zu Peter Handkes “Wunschloses Unglück” – so eine Gratis-Entgegennahme ist mir im Grunde immer leicht peinlich – und betrachtete anschließend das Geschehen noch eine Weile aus dem Rückraum. Dabei fiel mir auf, dass ich eines der wenigen männlichen Wesen war, die das Angebot angenommen und zugegriffen hatten. Die überwiegende Mehrheit derer, die sich um den bunten, mit Luftballons dekorierten Bücherstand drängten, gehörten dem weiblichen Geschlecht an.

Derzeit fordern fortschrittliche Politiker und Politikerinnen immer wieder eine Frauenquote für die Führungsetagen großer Unternehmen. Demzumtrotz fordere ich hier und jetzt eine Männerquote! Mindestens X-Prozent der Lesenden müssen in Zukunft Y-Chromosomen und das SRY-Gen haben. Und wenn wir gerade dabei sind: Ich fordere mit gleicher Vehemenz eine Männerquote beim Personal in Kindergärten, Grundschulen und Altenheimen.

Aber zurück zum Eigentlichen, zum Buch. Mich ließ die Überlegung nicht los, welche Bücher ich an ein breites Publikum verschenken würde, wenn ich freie Wahl hätte. Welche Autoren, welche Titel? So einfach ist das nicht bei einer so undefinierbaren Zielgruppe. Vor allem wenn damit gleichzeitig Werbung für die eigenen Lieblingsbücher verbunden sein soll. (So eine Kampagne nimmt ja immer einen leicht missionarischen Charakter an.) Zwei Pizza-Ecken (prosciutto e con funghi), einen halben Liter San Pellegrino und drei Espressi dopio später – auf windgeschützter Kaffeehaus-Terrasse wärmte bereits eine milde Frühlingssonne – war mir die etwas willkürliche Beschränkung auf eine Auswahl von drei in Frage kommenden Titeln gelungen.

“Unterm Rad” gehört zu den schmäleren Werken Hermann Hesses und wird selten erwähnt wenn es um die wichtigsten Titel des Nobelpreisträgers geht. Es ist eine Schul- und Pubertätsgeschichte rund um kleinstädtische Enge, verständnislose Erwachsenenwelt und die Einsamkeit eines begabten Heranwachsenden, die auf biographischen Erfahrungen des Dichters beruht. Seit Jahrzehnten finden sich Jugendliche und junge Erwachsene darin wieder. Nach dem Wiederlesen im Hesse-Jubiläumsjahr (50. Todestag am 12. August) fragt man sich allerdings sehr ernsthaft, was den Honoratioren in Calw/Gerbersau eigentlich einfällt; ihr jubelndes Feiern des früh Ausgezogenen kann eigentlich nur ein typisch pietistisch provinzielles Missverständnis sein.

“Ein fliehendes Pferd” wird zu jenen von Martin Walsers zahlreichen Erzählungen gehören, die man auch noch in einigen Jahren, vielleicht auch Jahrzehnten, gut und gerne lesen kann. Der Leser erfährt endlich wie deutsche Lehrer ihre reichlichen Ferientage verbringen und warum Scheitern für Beziehungen der Normalfall ist. Ein Mittelstands-Drama und -Panorama von zeitloser Gültigkeit. Die hier verwendete, knappe Novellen-Form gelingt Walser besser als einige seiner überreich mäandernden Romane. Das tragische Scheitern der beiden Paare im besten Krisenalter kontrastiert herrlich mit der Schönheit der Bodensee-Kulisse. Auch wenn man die hervorragende Verfilmung gesehen hat, bleibt dieses Büchlein eine unbedingt lohnende Lektüre.

“Adam und Evelyn” von Ingo Schulze ist für mich eines der wichtigsten und besten Bücher, die sich mit den deutsch-deutschen Fragen und Problemen rund um die geschichtliche Wende 1989/90 in erzählender Form beschäftigen. Die Figuren des Romans sind Menschen des realexistierenden Alltags, mit all den Sorgen und Nöten, die das Leben in der ehemaligen DDR so mit sich brachte. In einer forcierten, meist dialogisch angelegten Erzählweise geht es um Grundsatzfragen wie Gehen oder Bleiben? und die ewige Suche nach dem richtigen Lebensentwurf. Es geht darüber hinaus um Variationen von Liebe und um die uralten Mythen der Geschlechter. Gleichzeitig kommen gesellschaftspolitische Themen zur Sprache, die durch die Wende neu zur Diskussion gestellt wurden und heute eigentlich aktueller sind denn je. Der aus Thüringen stammende Damenschneider Adam, über Ungarn und Österreich nicht ganz freiwillig im idyllischen Bayern gelandet, sieht die schöne neue Welt in die er geraten ist so:

„Von allem zu viel…, zu viele Worte, zu viele Kleider, zu viele Hosen, zu viel Schokolade, zu viele Autos, statt froh zu sein, dass es endlich alles gibt… zu viel, zu viel, eine Inflation, die alles begräbt, die eigentlichen Dinge, die richtigen Dinge.“

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Hesse, Hermann: Unterm Rad. Roman. – Suhrkamp, versch. Jahre. Euro 6

Walser, Martin: Ein fliehendes Pferd. Novelle. – Suhrkamp, versch. Jahre. Euro 6,50

Schulze, Ingo: Adam und Evely. Roman. – dtv, 2010. Euro 9,90

Alle drei Bücher sind auch noch in anderen Ausgaben lieferbar.

Aktuell

„Kontext : Wochenzeitung“ – ab sofort für Selbstdenker

Für alle, die ohne Zeitung nicht leben können oder wollen, die sich bei den etablierten, selten wirklich unabhängigen Blättern, nicht richtig versorgt fühlen und denen eine taz nicht reicht, gibt es jetzt aus dem und für den Stuttgarter Kessel, aber auch für alle die mehr oder weniger drum herum leben, arbeiten und denken: „Kontext : Wochenzeitung“. Sie erscheint jeden Donnerstag aktuell und brandneu im Netz und liegt leicht gekürzt, dafür gedruckt, der Wochendausgabe der taz (Ausgabe West) bei.

Alles weitere erklären die Macher am besten selbst:

„Kontext : Wochenzeitung“

Thomas Bernhard – Ein Nachtrag

Inzwischen liegt der 80. Geburtstag des Erzählers und Dramatikers Thomas Bernhard schon wieder über eine Woche zurück und der Strom der Jubiläums-Gefälligkeiten in den Medien ebbt langsam ab. Es war viel Stereotypes und viel Wiedergekäutes dabei. Doch heute ist es erneut die „Süddeutsche Zeitung“, die einen einfühlsamen, differenzierten und umfangreichen Nachtrag in ihrem Feuilleton bringt. (Ausgabe vom 17. Februar 2011, S. 15) Michael Frank konzentriert sich in seiner Betrachtung auf die Reaktionen im „Heimatland“ des zu Hause herzlich Ungeliebten. Unter dem Titel „Ehre dem Nestbeschmutzer“ behauptet er, „die Österreicher haben einen Weg gefunden, Thomas Bernhard zu feiern: indem sie ihn zum Kabarettisten erklären.“

Wer Thomas Bernhard gerne ganz frisch gedruckt kaufen und lesen möchte, der wird bei dtv fündig. Der Verlag hat den fünfteiligen biographischen Zyklus „Die Ursache“, „Der Keller“, „Der Atem“, „Die Kälte“ und „Das Kind“ in ansprechenden, preiswerten Neuauflagen herausgebracht. Der Autor  setzt sich in diesen Werken mit seiner vaterlosen, von Repression und Krankheit geprägten, Kindheit und Jugend im keineswegs entbräunten Nachkriegs-Österreich auseinander.

dtv und Thomas Bernhard

Die lange Liebe zur Zeitung

Oder warum ich irgendwann Thomas Bernhard lesen werde

Obwohl der bunte und laute eBook-Rummel immer mehr Aufmerksamkeit auf sich zieht, bleibe ich gelassen. Für den Rest meiner Lebensspanne sind genügend gedruckte Bücher vorhanden und werden noch reichlich neu erscheinen. Doch denke ich an die Zukunft der gedruckten Zeitung, wird mir schon etwas mulmiger. Dabei bin ich gerade von diesem Medium so völlig abhängig. Von klein auf und für immer. Geruch und Geknister. Überformat und Überschrift. Gefaltet oder ausgebreitet. Öliges Schwarz das schmiert. Tag für Tag. Einfach. Kompliziert. Ohne Zeitung geht es nicht. Nie. Nirgends. Morgens zum allerersten Kaffee das selbstverliebte Lokalblatt, aus der besten aller Städte, Präsentierteller eitler Provinz-Prominenz. Ein Platz für Helden. Mittags Sport in SZ, FAZ, FR, TAZ oder Schduddgarder. Abends Feuilleton in SZ, FAZ, FR, TAZ oder NZZ. Wöchentlich FAS, TAS, derFREITAG oder – wenn gar nichts sonst greifbar – auch mal WAMS. DIE ZEIT? Die Zeit der ZEIT ist vorbei. Boulevard und Trivialbrei machen sich zunehmend breit im einst liberal-intellektuellen Muss für alle die mitreden wollten.

Ich werde nie Thomas Bernhard lesen! Nie. Nirgends. Das war bisher so sicher wie Blüms Rente. Thomas Bernhard würde ich nicht lesen. Dieses absatzlose Jammertal, diesen triefenden Ich- und Weltschmerz, das endlose Leiden an Österreich und Österreich und wieder Österreich, wollte ich mir ersparen. Auch das fortwährende Draufhauen auf echte und vermeintliche Nazis und Katholiken; verständlich zwar, aber sich stark abnützend. „In jedem Wiener steckt ein Massenmörder, aber man darf sich die Laune nicht verderben lassen.“

Und es gibt weitere Leserzumutungen, wie seine zahlreichen punktarmen, kommareichen Passagen. Die langen Sätze voll Wort- und Begriffswiederholungen. “Die Ehrengabe des Kulturkreises des Bundesverbandes der Deutschen Industrie” – der durchaus witzige Text über die Verleihung dieses Preis an ihn, Thomas Bernhard, geht über zwölfeinhalb Seiten und n-mal lesen wir “Die Ehrengabe des Kulturkreises des Bundesverbandes der Deutschen Industrie”. Der Autor begründet: “ich bemühe mich naturgemäß immer um den ganzen korrekten Titel” und schert sich wenig um liebe Müh‘ und Not seiner Leser.

Natürlich, und jetzt gerate ich fast und wie nebenbei ins Lobende, verleiht das der flüssigen Sprachmelodie einen gewissen Rhythmus. Natürlich schimmert hinter dem fortwährenden Haudrauf literarischer Glanz; doch zu leicht werden spitze Ironie und galgenhumorige Komik dabei übersehen. Auf gar keinen Fall aber kann ich ihm seine Absatzlosigkeit nachsehen, denn die macht es nahezu unmöglich, wie gewohnt die Lektüre an beliebiger Stelle zu unterbrechen; und ich lasse mir als Leser auch von meinen verehrtesten Dichtern und Dichterinnen nicht gerne Unterbrechungslosigkeit vorschreiben.

Die Veränderung in meinem Weltbild begann am 23. Februar 2010. Da entdeckte ich Thomas Bernhard als Artgenossen. In der Wochenzeitung derFREITAG berichtete der Autor Michael Angele über die “Leiden des Zeitungssüchtigen”. Er ließ keinen Zweifel aufkommen, dass es ihm um die gedruckte Version des fast vierhundert Jahre alten Nachrichten-Trägers geht.“ Idealerweise sollte man diesen Text in der gedruckten Ausgabe des Freitag lesen.”

Das habe ich gemacht und jemanden gefunden, der mir aus dem Herzen sprach. Dem es in wunderschönster und pointierter Weise gelang über Freud und Leid des gemeinen langjährig Zeitungsabhängigen zu schreiben. Unter anderem ging es um die Schwierigkeiten die auftreten können, wenn man versucht, tagesaktuelle Zeitungen der eigenen Muttersprache (hier: Deutsch) in einem entlegenen anatolischen Bergdorf oder italienischen Badeort, einer märkischen Flächengemeinde oder Kleinstadt der Mittelheide zu beschaffen, wobei BILD hier ausdrücklich nicht mitspielt.

Angele schildert in diesem Zusammenhang, wie Thomas Bernhard einen ganzen Tag durch halb Südbayern und ein Drittel Österreich fuhr um die NZZ des Tages zu erwerben. “350 Kilometer Hass auf „Drecksorte“, in denen es die „Neue Zürcher“ nicht gibt.” Das konnte ich mühelos nachvollziehen; war mir doch Ähnliches immer wieder an nur scheinbar erholsamen Urlaubstagen widerfahren. Thomas Bernhard selbst beschreibt das Original-Erlebnis in dem autobiographischen Buch “Wittgensteins Neffe”.

Es war immer noch Februar und immer noch Zweitausendzehn, als dieses Werk als allererstes von Thomas Bernhard den Weg ins häusliche Bücherregal fand – Abteilung: Neuzugänge. Es ist eine traurige Geschichte, mit viel Tod und Krankheit, aber mit eben dieser herrlichen Passage über eine unheilbare Zeitungssucht.

Detailgetreu wird uns von der grotesken Odysee erzählt, die von Ort zu Ort führt, u. a. nach Salzburg, Bad Reichenhall, Steyr und Wels, aber nicht zur Tagesausgabe der NZZ. Bernhards Fazit: “Da wir in allen diesen angeführten und von uns an diesem Tag aufgesuchten Orten die Neue Zürcher Zeitung nicht bekommen haben … kann ich alle diese aufgeführten Orte nur als miserable Drecksorte bezeichnen, die absolut diesen unfeinen Titel verdienen. Wenn nicht einen dreckigeren. Und es ist mir damals auch klar geworden, daß ein Geistesmensch nicht an einem Ort existieren kann, in dem er die Neue Zürcher Zeitung nicht bekommt.“

Ich selbst existiere und lebe in einer kleinen süddeutschen Groß- und Universitätsstadt. Und als ich neulich über einen der schmucken Plätze dieser Stadt schlenderte, gingen vor mir zwei Mädchen, junge Frauen, ins Gespräch vertieft, und eine von beiden seufzte: “Ach Berlin. Ulm ist überwältigend.” Fast alle deutschsprachigen Zeitungen sind hier für mich und Tag für Tag problemlos verfügbar. Unter all den lesenswerten, mir vertrauten Blättern, habe ich über die Jahre hinweg immer wieder gerne und oft zur Süddeutschen Zeitung gegriffen.

Während unser lokales Pflichtblatt vor einigen Tagen, als sich in Ägypten Weltgeschichte ereignete, auf der Titelseite mit der Zeile “Ken wird 50” und einem großen farbigen Bild des Plaste-Produkts und Barbie-Gefährten aufmachte, erklomm die SZ am Freitag den 4. Februar einen neuen Gipfel des Qualitäts-Journalismus. Auf Seite 3 erschien, sechsspaltig und mit ebenso breitem schwarzweißen Portrait-Bild, “Der Weltverbesserer … Thomas Bernhard würde jetzt 80 Jahre alt werden. Eine Winterreise und Geburtstagswallfahrt”, von Benjamin Henrichs. Ein Artikel der noch einmal nachdrücklich, weit ausholend und originell zu Lektüre und Beschäftigung mit dem großen, queren österreichischen Dramatiker und Erzähler anregt. Eine deutsche Tageszeitung, die ihre ganze prominente Seite einem toten Dichter widmet: “Am 12. Februar 1989, drei Tage nach seinem 58. Geburtstag, ist Thomas Bernhard in Gmunden gestorben … Begraben wurde der Dichter in Wien, auf dem Grinzinger Friedhof, ohne dass es die Öffentlichkeit bemerkte, genau so also, wie er es immer gewollt hatte.”

„Es ist wie es ist, und es ist fürchterlich.“ Thomas Bernhard litt fast sein ganzes Leben an einer unheilbaren Lungenkrankheit. Am 9. Februar 2011 wäre er 80 Jahre alt geworden.

Ich habe längst begonnen, Thomas Bernhard zu lesen.

 

Bernhard, Thomas: Wittgensteins Neffe. – Suhrkamp, 2006

Bernhard, Thomas: Meine Preise. – Suhrkamp, 2009

Henrichs, Benjamin: Der Weltverbesserer. – In: Süddeutsche Zeitung, Nr. 28, 4. Februar 2011, S. 3

Angele, Michael: Warum wir Zeitungen brauchen, derFREITAG, 23.2.2010

und hier: http://www.freitag.de/kultur/1008-warum-wir-zeitungen-brauchen