“… man liest in Deutschland nicht viel.”

Über Lena Gorelik und ihren neuen Roman “Null bis unendlich“.

Nils Liebe (Nils ohne e und Liebe wie Liebe) ist hochbegabt, hat ein photographisches Gedächtnis und deutliche Schwächen in der sozialen Interaktion. Eine komplexe Persönlichkeit an der Grenze zum Asperger-Syndrom. Er liest wo er geht und steht, meist mehrere Bücher parallel, und bedauert, dass es an seinem Wohnort nur eine recht kleine Buchhandlung gibt (Amazon war noch nicht erfunden.), in der er allerdings Stammkunde ist. “Bücher waren ihm weitaus sympathischer als Menschen. Bücher waren ihm nicht unterlegen.”

Für das Nichtlesen seiner Eltern und all der anderen Zeitgenossen um ihn herum, hat Nils kein Verständnis. Er schreibt dies den provinziellen Verhältnissen zu in denen er aufwächst, um später festzustellen, dass dieses Phänomen weit größere Außmaße hat. Small-Talk und Alltags-Kommunikation verträgt er schlecht. “Er brauchte die Worte der großen Dichter, um die um ihn herum gesprochenen ertragen zu können.”

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Sanela hat ihre Eltern während des Jugoslawienkriegs verloren. Die Mutter starb am Krebs, der Vater am Krieg. Die Zehnjährige kommt zu Onkel und Tante nach Deutschland. Das Mädchen mit den auffallend großen Ohren und dem Namen der für die deutschen Mitschüler nach einer Margarine-Marke klingt, ist überdurchschnittlich intelligent und durch die Erlebnisse in der ehemaligen Heimat schwer traumatisiert. Auch Sanela hat ein extremes Interesse an Büchern, am Wissens- und Spracherwerb. Und sie hat Nachholbedarf, denn die bodenständigen Menschen im Dorf wo sie aufwuchs hielten Lesen für eine unverzeihliche Zeitverschwendung.

Die Aussage “… man liest in Deutschland nicht viel”, wählt Nils Liebe als er mit Sanela die für die deutsche Sprache typische man-Konstruktion bespricht. Die Neue in der Klasse, die zunächst kein Wort Deutsch spricht und versteht, hat man auf den freien Platz neben den anderen Außenseiter gesetzt, der nun die Rolle des Sprach-Tutors bei der temperamentvollen Migrantin übernimmt. Bald entdeckt er bei ihr Eigenschaften, die er von sich kennt.

GorelDie Geschichte von Sanela und Nils beginnt 1992 in einer süddeutschen Kleinstadt. Während der gemeinsamen Schuljahre entwickelt sich eine ganz besondere Form der Komplizenschaft, später Vertrautheit, zwischen den Beiden. Liebe jedoch ist ein Gefühl, das ihnen durch ihre individuellen Voraussetzungen eher fremd bleibt. Erst sehr viel später wird sich das auf nahezu fatale Weise ändern. In ihrem aktuellen Roman erzählt Lena Gorelik auch von einer speziellen Art des Fremdfühlens, dem Empfinden nicht in den vorgefundenen Familienverbund zu passen.

Zu den zentralen Themen der Schriftstellerin gehört das Fremdsein. In einem fremden Land anzukommen, fremd zu sein in einer neuen Sprache, entspricht ihren eigenen, prägenden Erfahrungen. Sie wurde in Sankt Petersburg geboren, ihre Muttersprache war Russisch. Mit elf Jahren kam sie nach Deutschland, ging in Baden-Württemberg zur Schule und studierte in München. 2004 erschien ihr erster Roman “Meine weißen Nächte”, in dem sich die Hauptfigur Anja mit einer Petersburger Vergangenheit auseinandersetzt.

In einem sehr persönlich gehaltenen, umfangreichen Bericht mit dem Titel “Sie können aber gut Deutsch!”, beschäftigte sich Gorelik 2012 intensiv, passagenweise fast wütend, mit der Situation und der Gefühlswelt von Zuwanderern in der Bundesrepublik. “Warum ich nicht mehr dankbar sein will, dass ich hier leben darf, und Toleranz nicht weiterhilft”, heißt es programmatisch im Untertitel. Das engagierte Buch ist voll starker Argumente gegen die kruden Thesen von Sarrazin und anderen rechten Populisten, und macht deutlich, dass Deutschland längst multiethnisch geprägt ist. Die Verfasserin plädiert dafür, diese Tatsache anzunehmen und als zukunftsfähige Chance zu begreifen.

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Foto: Croq

“Von Null bis unendlich” beginnt optimistisch, hoffnungsvoll, manchmal blitzen Anklänge von Humor auf. In der zweiten Hälfte kippt die Handlung ins Tragische, ja ins verzweifelt Hoffnungslose. Nils und Sanela hatten sich inzwischen für viele Jahre aus den Augen verloren, nun kommen sie sich wieder näher und es entsteht eine ausgesprochen eigenartige Beziehung des aufeinander Angewiesenseins. Bis die Autorin ihre zwei Protagonisten unter erschwerten Bedingungen wieder zusammenführt, verfolgt sie sie abwechselnd durch ihre jeweiligen Lebenswege, die gezeichnet sind von immer neuen Suchen, kleinen Fluchten, schmalen Wegen des Erfolgs, Zeiten schaler Zufriedenheit und Sackgassen des Scheiterns.

Lena Gorelik hat einen großartigen, einen guten, auf geniale, manchmal schmerzhafte Weise, schönen Roman geschrieben. Leser in Deutschland dürfen sich freuen, dass seit einigen Jahren so viele originelle und herausragende Bücher in deutscher Sprache erscheinen, die von Autorinnen und Autoren verfasst wurden, deren Wurzeln undoder Herkunft im europäischen Osten oder Südosten liegen. Von ihnen sind in der Zukunft ganz sicher noch zahlreiche weitere interessante Romane, Erzählungen, Essays und Theaterstücke zu erwarten. Eigentlich gute Gründe für die Menschen in diesem schönen, an Automarken so reichen Land, insbesondere jedoch für die eifrigen Verfechter kultureller Leitbilder, die selbstberufenen Verteidiger christlich-abendländischer Standards, endlich mehr zu lesen.

“Von Null bis unendlich” endet am Strand der adriatischen Küste und mit dem Satz “Sie machen sich auf den Weg”. Wir Leser bleiben zurück: beglückt und erschüttert.

Gorelik, Lena: Null bis unendlich. Roman. – Rowohlt Berlin, 2015. Euro 19,95

Gorelik, Lena: “Sie können aber gut Deutsch!”. – Pantheon, 2012. Euro 14,99