Weißblaue Tage im Chiemgau

Notizen aus der Sommerfrische 2015

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Ein vorläufiges Ende der Hitzewelle steht bevor. Abfahrt, Hinfahrt, Ankunft. Man könnte über Sonnenauf- oder -untergänge hinter steilen Gipfeln, über Hoch-Almen auf denen prächtiges Jungvieh weidet, tiefe Wälder und unergründliche Moore, über stille Bergseen, urige Gasthöfe oder den weißblauen Himmel schreiben. Vom Feiertag könnte man schreiben, der hier noch heilig ist, von Zitherklängen aus offenen Fenstern niedriger Stuben und abendlichen Alphornklängen in der Ferne, von vollkommener Stille in der Morgendämmerung. Oder einfach nur: Es ist schön hier. Wunderschön. Erholsam, entschleunigt, gemütlich. Eine Gegend ideal für die Einkehr der inneren und der gastronomischen Art.

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Wem gehört eigentlich das “Küsse haben keine Kalorien” von Susan Mallery, das auf der Holzbank neben dem Grillplatz liegt? (Ich habe den Titel nach dem Urlaub gegoogelt: “New York Times Bestseller!” und “In ihren mehr als 35 Liebesromanen gelingt es Susan Mallery immer wieder aufs Neue, Humor mit großen Gefühlen zu kombinieren”. Da schau her!) Über reichlich heißer Glut, auf eisernem Hängegrill, braten lange, fettglänzende Würste, marinierte Steaks, deren Form dem Kartenbild Neuseelands gleicht, Fisch und Gemüse in Alufolie. Offensichtlich gibt es Zeitgenossen die Appetit auf etwas mehr Kalorien haben.

Meine Urlaubslektüre beginnt mit einem Buch das schon länger darauf wartete gelesen zu werden, da es dazu größerer zusammenhängender Leseflächen bedarf, Geduld also, Sammlung und reichlich Zeit. Alfred Döblins “November 1918. Eine deutsche Revolution”. Der erste von drei Teilen trägt den Titel “Bürger und Soldaten 1918”. Ein figuren- und detailreiches Panorama jener spannenden Wochen in Deutschland kurz nach dem Ende des Ersten Weltkriegs. Döblin verwendet eine collageartige Erzählstruktur, die mit längeren dokumentarischen Passagen durchsetzt ist. Im Mittelpunkt stehen die Schicksale des Altphilologen Friedrich Becker und des jungen Leutnants Maus. Nur zwei von vielen weiteren Figuren mit denen der Leser Zeit- und Weltgeschehen von vor fast hundert Jahren erlebt. Wer dieses Buch gelesen hat, und vielleicht bereits “Berlin Alexanderplatz”, wird mit mir der Überzeugung sein, dass Döblin neben Thomas Mann der größte deutschsprachige epische Erzähler des 20. Jahrhunderts ist.

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Zu den unbestreitbaren Vorteilen eines Urlaubs im Chiemgau gehört die Österreich-Nähe. Ärgerlich, dass die ausgezeichneten ORF-Radioprogramme in Bayern nicht im Digital-Radio empfangen werden können. Das bestätigt mich in meiner Meinung, dass der digitale Empfang Programm- und Angebots-Vielfalt einschränkt. Bequem wwweltweit verfügbar hingegegen das ganz witzige: www.schuettelreime.at. Beispiel gefällig, das zu diesem Sommer passt?: “Die Donau führt jetzt Niederwasser, / doch nächstes Jahr wird’s wieder nasser!”

Vor vielen Jahren habe ich die Rabbi-Krimis von Harry Kemelman gerne gelesen, obwohl sie schon damals etwas angestaubt waren. Jetzt gibt es wieder Kriminelles in jüdischen Kreisen. Diesmal aus Zürich. Das fand ich interessant und war gespannt auf “Kains Opfer” von Alfred Bodenheimer. Das Buch enttäuscht nicht. Es liest sich flott und leicht weg, ohne auf sorgfältige Sprache zu verzichten. In harter Konkurrenz zu Kommissarin Bänziger von der Zürcher Stadtpolizei, löst Rabbi Klein den Mord an einem Mitglied seiner Gemeinde und gerät dabei in allerhand peinliche Kalamitäten. Die eher indirekte Schilderung des eigentlichen Kriminalfalls durch die Dialoge der Protagonisten gefällt mir.

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Der Thumsee liegt an der Straße von Inzell nach Bad Reichenhall, wenige Kilometer vor dem traditionellen Kur- und Salzort. Mit einem Spaziergang von reichlich einer Stunde ist dieses bergfrisch dunkelgrün schillernde, teilweise umwaldete Gewässer bequem zu umrunden. Doch ist eine Unterbrechung beim Seewirt unbedingt zu empfehlen. Nach umfangreicher Renovierung wurde das im Lauf der Jahre etwas heruntergekommene Haus im November 2013 neu eröffnet. Im Sommer rasten die Gäste auf der großzügigen Terrasse direkt am See bei Kaffee und Kuchen, Mirabellenschnaps, kühl-süffigem Weizenbier.

Sigmund Freud hat sich 1901 “für das Plätzchen begeistert: Die Alpenrosen bis zur Straße herab, die herrlichen Wälder herum mit Erdbeeren, Blumen und (hoffentlich auch) Pilzen, daß ich nachgefragt habe, ob man in dem einzigen Wirtshaus dort auch wohnen kann.” Man konnte, und die Familie Freud verbrachte in diesem Sommer mehrere Wochen am See. Während der Vater die Zeit mit wissenschaftlichen Arbeiten, mit Wanderungen und Angeln verbrachte, verliebte sich Mathilde, die älteste Tochter in den Wirtssohn Eugen Pachmayr. Bis 1910 pflegten die beiden eine intensive Brieffreundschaft. Zu mehr ist es nicht gekommen. Ich merke mir zur baldigen Lektüre vor: Peter Gay, “Freud. Eine Biographie für unsere Zeit”. Bei Fischer erschienen, fast 1000 Seiten. Bin gespannt ob die Episode, die ich einer Tafel des örtlichen Vereins für Heimatkunde entnommen habe, darin erwähnt wird.

Derweil greife ich erneut Leichteres vom Urlaubs-Bücherstapel: Tilman Spreckelsen “Nordseegrab. Ein Theodor-Storm-Krimi.” Spreckelsen ist immerhin studierter Germanist und Redakteur der “Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung”. Leider stelle ich sehr bald fest, dass ich in einer recht albernen Geschichte gelandet bin. Albern, banal, mit einer schlecht konstruierten und unglaubwürdigen Kriminalhandlung, mit pseudodokumentarischen historischen Abschnitten und seltsamen Versuchen wie Storm zu schreiben. Der arme Theodor! Da hilft nur Erholung bei zünftiger Mahlzeit und frischem Bierchen auf einer nicht zu hoch gelegenen Alm. Kleine Genusseinschränkungen durch die lästige Wespenplage müssen in Kauf genommen werden. Jedenfalls ist R. sehr begeistert vom eierreichen Kaiserschmarrn.

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Zackige Felsenberge, Festungen, Festspiele, Dom und Kirchen, schmucke Plätze, Kaffehäuser, die flott fliesende Salzach, Mozart und die gleichnamige Kugel. Kurzum Salzburg. Diese Stadt ist eine einzige Dauerinszenierung. Wir Touristen schlendern, hasten oder irren als Statisten durchs monumentale Bühnenbild. Wirklich bunt ist diese Statisterie. Junge und Alte, Männlein und Weiblein, Kinder und Haustiere aus aller Herren Länder haben die Signale erhört, fuhren, flogen und liefen herbei.

Sie tragen Ganzkörperverhüllung oder oben und unten fast nichts, bunte Saris oder Allerfeinstes de Paris, Strohhut oder Turban, Jogginghose oder die FünfeuroKIKshorts zu braunen Selbstgestrickten in Outdoorsandaletten. Das Epizentrum des süßen Kugelhagels, benannt nach dem Komponisten, der hier geboren wurde und dessen Geburtshaus das meist fotografierte Motiv abgibt, liegt übrigens einige Kilometer entfernt in Bad Reichenhall. Dort kommt die Konditorei Reber mit produzieren und dem Abfüllen in Geschenk- und Mitbringsel-Gebinde kaum nach.

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Die älteste Buchhandlung Österreichs befindet sich in Salzburg und heißt Höllrigl. Was immer dem Einen oder der Anderen zu diesem Namen durch den Kopf gehen mag, für mich gehört der Laden zu den eher paradiesischen Regionen. Der Eingang dazu ist in der Sigmund-Haffner-Gasse 10. Es geht durch den ganzen historischen Komplex des Ritzerbogenhauses bis man am Hinterausgang/eingang auf den Universitätsplatz kommt. Während ich kreuz und quer stöbere, kauft R. Metzger-Krimis nach. Ihren ersten hat sie in diesem Urlaub gelesen und war gleich begeistert. Eine humorvolle, mit reichlich Schmäh durchsetzte, dabei sprachlich durchaus niveauvolle Reihe. Die Haupfiguren sind der Restaurator und Eigenbrödler Willibald Adrian Metzger und seine aus Kroatien stammende Freundin Danjela, die als Hausmeisterin tätig ist. Der österreichische Autor Thomas Raab hat Charaktere erfunden, die in unserem Nachbarland bereits Kult sind.

Höhe- und Mittelpunkt der Region ist der voralpine Chiemsee. An dessen Ostufer liegt Chieming mit seinen langen, frei zugänglichen See-Partien, den Kieselstränden, den Liegewiesen, der langen Promenade, den kleinen Einkehren. Von dort bringt uns das Dampfschiff zur Fraueninsel. Rund um den größten bayerischen See und auf der kleineren von zwei bewohnten Inseln (die andere ist Herrenchiemsee mit dem bekannten Ludwig-Schloss), haben sich seit jeher Maler und Kunsthandwerker angesiedelt. Auf den Spaziergängen am See und auf der Insel kann man deshalb allerhand, mal mehr, mal weniger anspruchsvolle Ergebnisse dieses Schaffens bewundern und erwerben.

Als wir beim letzten Besuch an einem Spätnachmittag über die ausgetretene Schwelle der Klosterkirche auf der Fraueninsel gingen, empfing uns die Litanei der Nonnen zur Vesper. Diesmal geraten wir in die Probe eines Bläser-Ensembles für alte Musik. Willkommener Anlass etwas länger zu verweilen. Nun schon hochgestimmt, setzt die unvergleichliche Abenddämmerung auf und am See dem Tag die romantische Gefühlskrone auf. Danach und nach der Spreckelsen-Enttäuschung ist mir nach literarisch höherwertig Bewährtem. Theodor Fontanes “Frau Jenny Treibel” ist wahrscheinlich sein humorvollster Roman. Mit feiner Ironie und viel Zuneigung schildert er die üblichen Spaziergänge mit langen Gesprächen, steifen Dîner-Rituale, die Irrungen und Wirrungen seines preußischen Personals.

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Schon ist Abschied. Ein letzter Spaziergang durch die Filzen, wie man hier Moore nennt, dann ist die Rückreise anzutreten. Wie nach jeder längeren Reise, sind auf der Heimfahrt mehr Bücher im Gepäck als auf der Hinfahrt. Unumkehrbar ist jede Heimkehr aus anderen Gegenden. Sogleich geht es wieder um kollidierte Lastkraftwagen auf Autobahnen, gesperrte Straßenabschnitte, Selbstmörder auf Bahnschienen, tote Flüchtlinge in Kühlwagen, brüllenden Nazi-Mob vor Asylanten-Heimen, die neoliberalen Systeme des Westen auf dem Weg zu Oligarchien, in denen Kapital und Konzerne immer mehr über Richtung von Politik und Wohlergehen des Einzelnen bestimmen. Nichts Neues unter der Augustsonne.

Also Gegenwart. Im SPIEGEL über Franz-Josef Strauß erfahren, was wir längst ahnten. Politiker-Sprechblasen ertragen. Viel Gerede, wenig Einsicht und noch weniger gute Absicht. Petitionen. Aggressionen. Obduktionen. Wann werden wohl endlich die Brandstifter gefasst? Wann verurteilt? Warum ist dieser Herr Biedermann eigentlich unsterblich? Schon seit Monaten ärgere ich mich über zögerliche Verfolgung von Straftatbeständen wie Volksverhetzung und die Verwendung von Nazi-Symbolen. In zwei Wochen Sommerurlaub hat sich daran nichts geändert. Und nun? Einfach Weiterlesen? Einfach Weiterschreiben? Bald ist Alltag nach der Auszeit. Nach heißen Sommern kommt früh der Herbst.