Arno Schmidt und die HfG in Ulm (1)

Die Vorgeschichte

 

Alljährlich am 18. Januar treffen sich einige Unentwegte vor dem Eingang eines klinkerverkleideten Mehrfamilienhauses im Hamburger Stadtteil Hamm. Sie erheben die mit Schnaps gefüllten Gläser und trinken auf Arno Schmidt. Der von Ihnen verehrte Schriftsteller wurde hier, in der damaligen Arbeitersiedlung, am 18. Januar 1914 geboren. Nach dem frühen Tod des Vaters, eines Polizei-Oberwachtmeisters, zog die Mutter Clara, geborene Ehrentraut, mit den Kindern Arno und Luzie ins schlesische Lauban. Der Junge, der mit drei Jahren und mit Unterstützung der älteren Schwester Lesen gelernt hatte, besuchte die Oberrealschule, machte 1933 Abitur, schrieb erste Gedichte. Er hatte nur wenig Umgang mit Mitschülern. Früh lebte er in eigenen Tagträumen und Lesewelten. Dem Besuch der Höheren Handelsschule folgte eine kaufmännische Lehre in den Greiff-Werken, Greiffenberg. Nach dem Abschluss arbeitete er dort bis 1940 als Lagerbuchhalter.

 

Bereits 1937 hatte Schmidt die 1916 geborene Alice Murawski geheiratet, eine Arbeitskollegin. Anfang August 1938 unternahm das junge Paar eine siebentägige Reise nach England. Einige Schmidtianer bezweifeln inzwischen, dass diese Reise wirklich stattgefunden hat – Schmidt reiste nicht wirklich gerne. Als sicher gelten Besuche des Paars in Weimar und Oßmannstadt im Jahr 1939. 1940 entstanden die „Dichtergespräche im Elysium“ und der Dichter wurde zur Wehrmacht eingezogen. Während der Kriegsjahre war er unter anderem im Elsaß und in Norwegen stationiert und erlebte das Kriegsende als britischer Kriegsgefangener. 1946 verschlug es Arno und Alice ins niedersächsische Cordingen. Ab 1947 gibt Arno Schmidt „freier Schriftsteller“ als Beruf an. In den folgenden Jahren erschienen „Brands Haide“ und „Schwarze Spiegel“. 1951 wurde er mit dem großen Literaturpreis der Akademie der Wissenschaften und Literatur in Mainz ausgezeichnet. Ab 1951 lebte das Ehepaar Schmidt im kleinen Kastel bei Saarburg, abseits der kulturellen Zentren und des literarischen Betriebs.

 

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Die Stadt Ulm an der Donau war nach Kriegsende in weiten Teilen durch Bombenangriffe zerstört. Wie durch ein Wunder war das Münster erhalten geblieben und ragte im Zentrum aus einer Trümmerlandschaft. Schon wenige Wochen nach dem Einmarsch der Amerikaner und der Kapitulation Hitler-Deutschlands begann die geistig-kulturelle Nachkriegszeit. In der Vortragsreihe „Religiöse Aussprachen über christliche Weltanschauung“ sprach bei der ersten Veranstaltung „Romano Guardini über Wahrheit und Lüge“. Am Donnerstag, den 16. August 1945, um halb acht Uhr in der Martin-Luther-Kirche. Kleine handgedruckte Zettel, an Ruinen geheftet, luden dazu ein. Mit Guardini und seiner christlichen Philosophie hatte sich wenige Jahre vorher Sophie Scholl als Studentin in München beschäftigt, bevor sie verhaftet und, ebenso wie andere Mitglieder der Weißen Rose, hingerichtet wurde.

 

Sophies Schwester Inge gehörte nun, zusammen mit dem aus dem Ulmer Stadtteil Söflingen stammenden Otl Aicher, zu den Organisatoren erster kultureller Veranstaltungen in der aicherskriegszerstörten Stadt. Viele Einwohner hatten ihr Leben verloren, Männer waren in Kriegsgefangenschaft oder galten als vermisst, erste Flüchtlinge in der Donaustadt gestrandet. Scholl, Aicher und einige andere begannen mit ihrer Form des Wiederaufbaus. „Der Enge des nationalsozialisten Weltbildes setzten sie Weltoffenheit und Internationalität entgegen, und die  Moderne wurde zu ihrem Leitbild“, formulierte Christiane Wachsmann. Unter Internationalität hatte man dabei nicht die heute vielfach diskutierte „Globalisierung“ zu verstehen, sondern ein aus der Zeit heraus entstandenes Verlangen nach Aufklärung, Humanität und Liberalität.

 

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1955 lebte das Ehepaar Schmidt noch immer abseits und in sehr beengten Verhältnissen hoch über der Saar im ländlichen Kastel. Doch mit Hilfe von Gönnern, wie dem ebenso zivilisationskritischen wie lebensfrohen Schriftsteller Ernst Kreuder und des Pädagogen und Literaturfreundes Wilhelm Michels, ein glühender Verehrer und Bewunderer Schmidts, wurden Umzugspläne geschmiedet. Man suchte nach einer geeigneten Wohnung in Darmstadt, wo nach dem Krieg ein kleines geistiges Zentrum entstanden war und das durch großzügige finanzielle Förderung allerhand Künstler und Intellektuelle anzog.

 

Das war nun auch nicht unbedingt die Welt des Arno Schmidt. „Wenn ich in einer Künstlerfamilie aufgewachsen wäre, wäre ich in allem viel sicherer. Aber so hängt mir meine kleinbürgerliche Erziehung so an.“ Diese Aussage ihres Mannes notierte Alice Schmidt in ihrem Tagebuch, das uns Auskunft gibt über Alltag und Beruf der beiden im Jahr 1955. Man lebte von Übersetzungen, Arbeiten für Zeitungen und Zeitschriften und dem Wenigen was die Bücher einbrachten, zurückgezogen, mit wenigen Kontakten und vielen Katzen – eigenen und denen der Umgebung. 004Annäherungen von Bewunderern und potentiellen Unterstützern wurden von Arno Schmidt in der Regel recht brüsk zurückgewiesen. Trotzdem gelang es dem Ehepaar Michels, das damals in Kronberg im Taunus lebte, so etwas wie ein distanziertes Vertrauen zu gewinnen. Die Zuwendungen in Form von Lebensmittelpaketen waren jedenfalls sehr willkommen.

 

Inzwischen erschienen u. a. „Aus dem Leben eines Fauns“ und „Das steinerne Herz“. 1955 wurde „Seelandschaft mit Pocahontas“ in der von Alfred Andersch herausgegeben Zeitschrift „Texte und Zeichen“, in der regelmäßig Arbeiten von Schmidt erschienen, gedruckt und brachte dem Verfasser umgehend eine Anzeige wegen Pornographie und Gotteslästerung ein. Das Verfahren wurde, nach langem Bangen angesichts möglicher Konsequenzen für den Verfasser, im folgenden Jahr eingestellt.

 

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In Ulm war aus den zaghaften Ansätzen der Nachkriegszeit inzwischen eine lebhafte Volkshochschule und der Plan zu einer Hochschule, die die Bauhaus-Tradition wiederbeleben sollte, entstanden. Bereits am 3. August 1953 wurde der Lehrbetrieb in provisorischen Räumen der Volkshochschule in der Ulmer Innenstadt aufgenommen, während auf dem vor der Stadt gelegenen Kuhberg, unter der Regie von Max Bill, der geplante Gebäude-Komplex erst entsteht. Dieses kulturgeschichtlich bemerkenswerte Ensemble, inzwischen unter Denkmal-Schutz gestellt, ist nahezu unverändert erhalten. Den aktuellen ästhetischen Vorstellungen und Kriterien heutiger Energie-Effizienz entspricht es allerdings kaum.

 

Am 2. Oktober 1955 war schließlich die offizielle Eröffnung der Hochschule für Gestaltung (HfG) in Ulm durch den damaligen Wirtschaftsminister, die leibhaftige Verkörperung des deutschen „Wirtschaftswunders“, Ludwig Erhard. Die Festansprache hielt Walter Gropius, der Mitbegründer des Weimarer Bauhauses in den Zwanzigerjahren. Unter den 700 Gästen aus aller Welt waren auch viele ehemalige Schüler und Dozenten dieser Gestalter- und Architekten-Schule. Die Zielsetzung der neuen Einrichtung sah so aus: „…wir betrachten die Kunst als höchste Ausdrucksstufe des Lebens und erstreben das Leben als Kunstwerk einzurichten. Wir wollen…gegen das Hässliche ankämpfen, mit Hilfe des Schönen, Guten und Praktischen.“ Solche Sätze waren nicht nur ein ästhetisches Programm, sondern nach 12 Jahren „tausendjährigen Reich“ auch eine politische Zielsetzung.

 

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Einen wichtigen Teil der neuen Hochschule bildete die Abteilung Information. Sie hatte das Ziel Publizisten, Informations- und Sprachspezialisten für eine moderne Industriegesellschaft auszubilden, in der Kommunikation und deren Instrumente große Bedeutung haben würden. Man hatte wenig bescheidene Ziele und wollte zu bestimmten Themenschwerpunkten zeitgenössische Autoren wie Bertold Brecht, Alfred Andersch und Philosophen wie Wittgenstein und Husserl, als Dozenten gewinnen. Auch Arno Schmidt stand wohl, als einer der als fortschrittlicher Sprachavantgardist galt, auf der Berufungsliste. Mit dem Aufbau dieser anspruchsvollen Abteilung beauftragt und ihr Leiter bis 1958, war der Schriftsteller und Philosoph Max Bense, der auch an der Technischen Universität Stuttgart lehrte und die Zeitschrift „Augenblick“ herausgab. 1955 war Arno Schmidt in allen Ausgaben dieser Publikation mit Arbeiten vertreten. Im selben Jahr erschien die Erzählung „Kosmas oder vom Berge des Nordens“ als Supplement zur Zeitschrift.

 

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Im zweiten Teil von „Arno Schmidt und die HfG“ wird es um jenes Gespräch gehen, das Arno Schmidt am 21. September 1955 mit dem Rektor der Hochschule, Max Bill, führte – eine ganz besondere Art von Berufungsverhandlung. Der Beitrag erscheint nächsten Montag.

 

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Dieser und die noch folgenden Arno-Schmidt-Beiträge meines Blogs sind keine wissenschaftlichen Arbeiten. Es wurden allerdings einige maßgebliche Quellen ausgewertet und das gewonnene Material mit größter Sorgfalt verwendet.

Bei den Bildern von Arno Schmidt handelt es sich um Photographien seiner Frau Alice, die mit freundlicher Genehmigung der Arno-Schmidt-Stiftung verwendet werden.

Für das Bild von Inge Aicher-Scholl und Otl Aicher gilt: Foto: Hans G. Conrad, Archiv: René Spitz

Mein besonderer Dank gilt Winand Herzog und Michael Meinert, die mir vor Beginn der Arbeit an diesen Ausführungen mit wertvollen Hinweisen auf den richtigen Weg halfen.

3 Gedanken zu „Arno Schmidt und die HfG in Ulm (1)

  1. Pingback: Wie Arno Schmidt einmal fast Dozent geworden wäre | ASml-News

  2. Ein freundlicher Leser hat mich auf einen Fehler aufmerksam gemacht. Im letzten Absatz heißt es:
    „Man hatte wenig bescheidene Ziele und wollte zu bestimmten Themenschwerpunkten zeitgenössische Autoren wie Bertold Brecht, Alfred Andersch und Philosophen wie Wittgenstein und Husserl, als Dozenten gewinnen.“
    Ich habe dies hingeschrieben, obwohl mir die Lebensdaten der genannten Persönlichkeiten in Umrissen durchaus geläufig sind. Dabei hätte ich bemerken müssen, dass Wittgenstein und Husserl dem Ruf nach Ulm nicht mehr hätten folgen können, da sie 1955 bereits verstorben waren. Sie sollten auch keineswegs berufen, sondern wie es in der Quelle heißt: „herangezogen“ werden – im Sinne von behandelt oder durchgenommen. (Krampen, Martin: Die Hochschule für Gestaltung Ulm. – Berlin, 2003, S. 152.) Ich bitte, mir diese Fahrlässigkeit nachzusehen.

    25.9.09, Jan Haag

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